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»Man braucht Zeit, Verstand, Geduld und Einfühlungsvermögen - es ist kein Schmöker, aber eine Kostbarkeit!« (Elke Heidenreich in Lesen!)
Am Anfang hängt in einem abgetakelten Bahnhofsviertel ein Mann kopfüber von einem Klettergerüst. Sein Name ist Abel Nema, und man sagt ihm nach, ein Genie zu sein. Doch was nützt das, wenn sich einmal ein Leben derart verändert hat, daß sich nichts und niemand mehr am richtigen Ort befindet - am allerwenigsten man selbst. Zuerst verschwindet der Vater spurlos, dann, nachdem Abel ihm seine Liebe erklärt hat, der Jugendfreund, und schließlich bricht in…mehr

Produktbeschreibung
»Man braucht Zeit, Verstand, Geduld und Einfühlungsvermögen - es ist kein Schmöker, aber eine Kostbarkeit!« (Elke Heidenreich in Lesen!)

Am Anfang hängt in einem abgetakelten Bahnhofsviertel ein Mann kopfüber von einem Klettergerüst. Sein Name ist Abel Nema, und man sagt ihm nach, ein Genie zu sein. Doch was nützt das, wenn sich einmal ein Leben derart verändert hat, daß sich nichts und niemand mehr am richtigen Ort befindet - am allerwenigsten man selbst. Zuerst verschwindet der Vater spurlos, dann, nachdem Abel ihm seine Liebe erklärt hat, der Jugendfreund, und schließlich bricht in seinem Heimatland auch noch ein Bürgerkrieg aus - seitdem sitzt er im Westen fest. Immer wieder nimmt er Anlauf, Herr über sein Schicksal zu werden, versucht sich als Lehrer und als Landstreicher, und am Schluß sogar als Ehemann. Er wird, und nicht nur einmal, geliebt, dennoch: Eines Tages ist der talentierte Mensch, der ich bin, einfach verzweifelt. Ter zia Moras erster Roman ist angelegt als ein Prosa-Labyrinth von seltener Sprachkraft und einem ausgesuchten Reichtum an Bildern, der in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur segleichen sucht. Sie erzählt den Höllentrip eines entwurzelten und wortlosen Mannes, für den es am Ende doch eine Erlösung geben wird.

Autorenporträt
Mora, Terézia
Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman "Das Ungeheuer" erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband "Seltsame Materie", wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten Übersetzern aus dem Ungarischen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Panik ist der Zustand dieser Welt
Schwächer als die Angst, stärker als die Welt: Terézia Mora berechnet den Faktor P. / Von Tilman Spreckelsen

Tachykardie: dreiundachtzig Komma fünf, Hitzewallungen: einundachtzig Komma fünf, Beklemmungsgefühle: achtundsiebzig vier", es folgen, in absteigender Häufigkeit: Zittern, Beben, Benommenheit, Schwitzen, Schmerzen in der Brust, Atemnot, Angst zu sterben, Angst vor Kontrollverlust, Ohnmachtsgefühle, Lähmungserscheinungen und schließlich, in siebenunddreißig Prozent der akuten Panikattacken, "Depersonalisation".

Für Abel Nema, die Hauptfigur in Terézia Moras Romandebüt "Alle Tage", ist diese Liste mehr als nur Statistik. Er hat all dies, bis hin zur buchstäblichen Depersonalisation, am eigenen Leib erfahren, dreizehn Jahre lang und jedenfalls mit immer stärkeren Symptomen. Jetzt, als er sich im Taxi vom Ort einer häßlichen Konfrontation mit einem früheren Weggefährten entfernt (und geradewegs auf die nächste Erschütterung zusteuert), weiß er sich vor unterdrückter Angst kaum noch zu helfen, während der kümmerliche Rest an Sicherheit um ihn herum in Scherben zu gehen droht. Da ist die Scheidung von der Frau, die ihn geheiratet hatte, um dem staatenlosen Migranten die Abschiebung zu ersparen; da ist das traumatische Erlebnis in Abels bevorzugtem Nachtclub, der am Vorabend von der Polizei geräumt wurde, wobei er seine Papiere einbüßte; da ist schließlich die Aufregung über die Nachricht, die ihn vor ein paar Stunden erreichte: Abels Jugendliebe Ilia, von dem alle glaubten, auch er sei im Bürgerkrieg geblieben, ist nun unvermittelt wiederaufgetaucht - und hat sich nach Abel erkundigt.

Panik, heißt es zu Beginn des Romans, "ist nicht der Zustand eines Menschen. Panik ist der Zustand dieser Welt. Alles mal die unbekannte Größe P." Die Figuren, die in diesem großangelegten Panorama die Auswirkungen und Fortwucherungen ferner und lang zurückliegender Verstörungen in der Gegenwart erleben, haben jeweils eigene Strategien entwickelt, um mit der Größe P. umzugehen: Voller Aggression die einen, selbstzerstörerisch die anderen, wieder andere schicksalsergeben. Abel Nema schließlich, gebeutelt gleich durch eine ganze Reihe persönlicher Katastrophen und Verluste, findet sich plötzlich, nachdem er fast zu Tode gekommen ist, wie in eine seltsame Hornhaut gehüllt wieder: Mit Ausnahme des Gehörs sind seine Sinne gedämpft, er schmeckt und riecht nichts mehr, wird niemals betrunken und verliert auch räumlich den Kontakt zu seiner Umwelt, indem er sich nicht mehr orientieren kann und sich permanent verläuft - er ist, in jeder Beziehung, aus der Welt gefallen.

An dieser Stelle kommt das Buch Terézia Moras - die 1971 in Ungarn geboren wurde, auf deutsch schreibt und neben Erzählungen eine Reihe gefeierter Übersetzungen publiziert hat - zu seinem eigentlichen Thema. Denn wer, wie Abel, in einem so umfassenden Sinn und überall fremd ist, für den gibt es auch keine bevorzugte, keine Muttersprache mehr. Und so lernt Abel, dem alle Sprachen gleich sind, spielend zehn fremde - auch wenn er, der generell nicht viel redet, sie kaum einmal anwendet.

Und wenn, spricht er sie ganz ohne Akzent, steril, "wie einer, der nirgends herkommt", heißt es einmal über ihn, so daß etwa Muttersprachler seine Versuche, in ihrer Sprache zu reden, nicht als authentisch anerkennen. Mercedes jedenfalls, die Frau, die mit Abel eine Scheinehe eingeht, vermutet, er habe "seine zehn Sprachen auch nur gelernt, um einsamer sein zu können als mit drei, fünf oder sieben".

Sollte das zutreffen, hätte sich Abel gründlich verschätzt: In seiner sonderbaren Art fällt er überall auf, jeder sucht seine Gesellschaft, viele verzweifeln an seinem höflichen Desinteresse, manche bis hin zur bodenlosen Wut über den ungreifbaren Fremden.

Es ist eine merkwürdige Gestalt, um die herum Mora ihren Roman angelegt hat, und die Gefahr, daß deren Zeichnung allzu skurril oder monströs, jedenfalls unglaubwürdig geriete, ist nicht gering - die Autorin entgeht allen Fallstricken mit Leichtigkeit und präsentiert einen völlig stilsicheren, formal beglückend ambitionierten und vor Witz funkelnden Text, der dem Leser ständige Aufmerksamkeit abverlangt. Und ihn dafür ebenso ständig reich belohnt.

Denn sowenig der Roman einen klar zu benennenden Erzähler kennt (eher sind es einzelne Figuren, die unvermittelt und gern über Kreuz mit anderen ihre Sicht der Dinge beisteuern), so wenig folgt er einer linearen Zeitachse. Das letzte Kapitel setzt chronologisch vor dem ersten ein, um schließlich noch darüber hinauszugehen, und umgekehrt schließt das erste eine Entwicklung vorläufig ab, die in den darauf folgenden Kapiteln erst beginnen wird.  

In eine ungefähre Chronologie gebracht, hieße das: Abel Nema wächst in einem ungenannten Land auf, dessen Territorium in eine Reihe kleiner Staaten zerbricht, als er gerade erwachsen geworden ist. Vor der drohenden Einberufung zum Militärdienst (und auf der Suche nach Ilia) flieht er in eine große westeuropäische Stadt - man mag dabei mit einigem Recht an das untergegangene Jugoslawien und den Fluchtort Berlin denken, aber der Roman legt sich hierauf sowenig fest wie auf  eindeutige Jahreszahlen. Abel jedenfalls fällt ein Stipendium in den Schoß, er nistet sich nacheinander in verschiedenen Wohnungen ein, am Ende landet er in einem Dachgeschoß mit Blick auf Eisenbahngeleise und arbeitet für ein obskures Magazin, indem er kuriose Nachrichten aus dem Internet fischt und übersetzt. Die erste und vorletzte Szene des Romans zeigt ihn dann als Opfer einer Gewalttat: Er hängt schwer verletzt an einem Klettergerüst im Park.

All dies erscheint in "Alle Tage" als ein virtuos geknüpftes Netz von aufeinander bezogenen Episoden, das stark genug ist, ganz unterschiedliche Themen zu tragen: Die Situation der Migranten und die Notwendigkeit, sich auf die neue Umgebung einzustellen; die Diskussion um die Rolle, die Sprache in diesem Prozeß spielt; der bezaubernd bittere Liebesroman, der sich zwischen Mercedes und Abel genauso entspinnt wie zwischen Abel und Ilia.

Und schließlich eine ausgeprägte religiöse Metaphorik, die Abel als negative Christusfigur zeichnet: Es ist ein Freitag, flicht Mora beiläufig ein, an dem Abel dreiunddreißigjährig kopfüber gekreuzigt wird, aus einer Stichwunde im Brustkorb blutet und in einen todesähnlichen Schlaf fällt - "jetzt wirst du vollendet", denkt er noch, und: "Es ist gut". Schon früh bezeichnet ihn der Redakteur, für den der Übersetzer arbeitet, als "Christus ohne Bart", und Mercedes meint, Abel ziehe wie ein Magnet "alles Sonderbare, Lächerliche und Traurige" an, ohne daß diese Erlöserfigur irgend jemanden retten könnte. Am wenigsten sich selbst.

Es spricht für die Autorin, daß sie ihren Helden in keinem dieser Themen ganz aufgehen läßt und ihn so auch auf keine Rolle reduziert; statt dessen gesellt sie ihm auf jedem Feld jeweils ein Gegenüber zu: Sein Mitbewohner Konstantin zeigt ihm, wie man sich als Migrant auch mit unzureichenden Papieren durchschlägt, an Mercedes' Sohn Omar (im Namen des klugen, einäugigen Kindes klingt der ähnlich veranlagte Gott Odin an) gibt Abel seine Fremdsprachenkenntnisse weiter, in seinem Nachbarn, dem friedfertigen Chaosforscher Halldor Rose, findet sich ein Pendant auf der religiösen Ebene, der es allerdings glücklicher trifft als Abel: Während er unter dem Einfluß halluzinogener Pilze eine dreitägige Reise in den Himmel antritt und ein intensives Gespräch mit Gott führt, erlebt Abel nach dem Genuß der gleichen Droge die Vision eines Tribunals, in dem er sich für die letzten Jahre seines Lebens rechtfertigen muß.

Vor allem aber stellt Mora dem in sich vergrabenen, mühsam unempfänglich gewordenen Abel die hinreißendste Gestalt des Romans gegenüber, die Lehrerin und Lektorin Mercedes, die dem Migranten eine Scheinehe vorschlägt, um vielleicht irgendwann eine echte zu führen.

Die Bekanntschaft zwischen ihnen wird zunächst durch Omars Russischuntericht und die Besuche seines Lehrers in Mercedes' Wohnung befördert: "Man sah sich mindestens zweimal, meist dreimal die Woche. Und irgendwann beginnst du, ob du willst oder nicht, den Unterschied zu spüren: zwischen der Sorte Tagen, die man mit ihm verbringt, und der Sorte, die man nicht mit ihm verbringt. An den Tagen, die man mit ihm verbringt, muß man an nichts denken. An den anderen muß man an ihn denken. Mercedes hätte nicht sagen können, was besser war."

Mercedes ist beharrlich und langmütig, obwohl Abel nach der Hochzeit kaum weniger Distanz hält als davor - die kleinen Fortschritte jedenfalls vollziehen sich unendlich langsam. Sie hat ihren Ehemann noch nie schlafend gesehen, ein einziger Kuß scheint mehr der Dankbarkeit geschuldet, und wenn Abel vor ihr seinen Arm halb entblößt, ist das ein besonderes Ereignis: "Knapp unter dem Rand war die Narbe einer Pockenimpfung zu sehen, und Mercedes dachte: Jetzt hab' ich etwas von ihm gesehen. Tatsächlich die bislang größte Körperfläche: fast einen ganzen Arm." Für andere könnte dies der Moment sein, den ganzen mühseligen Prozeß aufzugeben. Mercedes aber beschließt: "Das nächste Mal gehen wir schwimmen."

Mora beherrscht jeden Tonfall ihrer sehr unterschiedlichen Figuren aufs glaubwürdigste, sie verbindet sprachliche Präzision mit dem Willen zur Eleganz und verliert auch trotz zahlreicher ausschweifender Exkurse die Fäden keinen Moment lang aus der Hand. Als sie am Ende schließlich den zahlreichen Außenperspektiven auf ihren Helden auch eine längere Schilderung aus seinem Mund entgegensetzen will, braucht es schon eine Droge knapp unterhalb der tödlichen Dosis, um das Drachenblut, mit dem er sich abgehärtet hat, zu durchdringen. Seinen herbeihalluzinierten Richtern gibt er dann auch freimütig wie noch nie Auskunft über seine Abschottung: Als "der einzige gangbare Weg" sei ihm erschienen, sich "auf nichts anderes als auf die Kultivierung und Ausweitung meines Talents zu konzentrieren und für den obskuren Rest nicht verantwortlich zu sein".

Als die Wirkung der Droge nachgelassen hat, ist auch der emotionale Panzer aufgelöst. "Seine gesamte Wahrnehmung, Sinne, Bewußtsein waren absolut klar, und zwar seit mehr als dreizehn Jahren das erste Mal. Ich sehe, rieche, taste jetzt so wie die anderen Menschen. Und wie jeder andere in so einer Situation, fühlte er über diese Entdeckung das Zittern einer kleinen Freude und eines großen Fürchtens aufsteigen, aber dieses Fürchten hatte nichts mehr zu tun mit jenem anderen. Das war weg. Es war weg."

Und mit ihm Tachykardie, Ohnmachtsgefühle und Lähmungserscheinungen.

Terézia Mora: "Alle Tage". Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2004. 432 S., geb., 22,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Eine "große Leistung" nennt Verena Auffermann diesen Roman der aus Ungarn stammenden und seit 15 Jahren in Berlin lebenden Terezia Mora. Diese war bisher durch einen mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichneten Erzählband und die Übersetzung von Peter Esterhazys "Harmonia Caelestis" hervorgetreten. Ihr Debütroman, dieses "gottlos-gottvolle Buch" über das Leben Abel Nemas, der, vom geliebten Abiturienten Ilja abgewiesen, Ungarn verlässt, zehn Sprachen lernt und als Übersetzer arbeitet, ist ein Buch über die "Liebe und die Liebe zur Sprache", erklärt die Rezensentin. Die Autorin spielt ironisch mit der "Rolle des Schriftstellers", wechselt rasant die Erzählperspektiven, setzt "Trauerfarben und filmische Schatten" ein und zitiert ausgiebig aus Filmen, Büchern, Gedichten, schreibt die beeindruckte Rezensentin, die sich durch den unrettbar einsamen Abel Nema an Melvilles Protagonisten Bartleby erinnert fühlt. Sie rühmt die "kühne und kunstvoll rücksichtslose" Erzählweise der Autorin und findet diese "exzeptionelle literarische Expedition" in das Leben eines "heimatlosen, staatenlosen, hoch begabten und nutzlosen" Flüchtlings außerordentlich lesenswert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.09.2004

Die erste freie Generation
Seltsame Seelen: In „Alle Tage” erzählt Terézia Mora auf großartige Weise vom hektischen Weltzustand
Abel Nema, der irgendwo aus dem Osten stammt, sein Vater war Ungar, kommt zu seiner Hochzeit ein wenig zu spät. Er habe sich, sagt er lächelnd, „etwas verirrt”. Nicht nur das. Seine Braut, die Ich-Erzählerin, beobachtet, wie sich Abel Nema, groß, schlank und dunkel, reckt, und dabei „steigt ein Schwall auf, ein seltsames Gemisch aus dem Geruch des Sakkos, in dem sich Staub mit Regen verbunden hatte, dem durchgeschwitzten Waschmittelgeruch des Hemds, seiner Haut darunter, seiner Seifen-, Kaffee-, Alkohol- und Talgnoten”. Abel Nema riecht auch nach Kondom mit Vanillearoma „und einer in der Hitze des Dachgeschosses schmelzenden Computertastatur”, aber wichtiger noch als all diese „bekannten Gerüche” sind für die Braut jene, die sie nur ahnt, „etwas, das wie ein Wartezimmer roch, wie Holzbänke, verzogene Schienen, ein in die Böschung geworfener Pappsack mit den Resten von Zement, Salz und Asche auf einer eisigen Straße, Essigbäume, Messinghähne und pechschwarzes Kakaopulver”.
Reihungen haben etwas Schwelgerisches und doch klassifizieren sie auch: Abel Nema ist unzweifelhaft als Repräsentant des noch in seinem schillernden Verfaulen lebendigen alten Ostens konzipiert. In seiner winzigen, chaotischen Dachgeschosswohnung sammelt Abel Geschichten von überall her, „für skurrile bis lächerliche Wurstblätter”, und verdient sich auf diese Weise sein Geld. Er hat ein unglaubliches Sprachtalent und er zieht Menschen an. Doch all das nützt ihm nichts: Am Anfang von Terézia Moras erstem Roman „Alle Tage” ist Abel Nema beinahe tot. Drei Arbeiterinnen finden ihn auf einem verwahrlosten Spielplatz im Bahnhofsbezirk, „kopfüber von einem Klettergerüst baumelnd. Die Füße mit silbernem Klebeband umwickelt, ein langer, schwarzer Trenchcoat bedeckt seinen Kopf. Er schaukelte leicht im morgendlichen Wind.”
Eine ruhige Szene aus einem bewegten Leben: „Panik ist nicht der Zustand eines Menschen. Panik ist der Zustand dieser Welt.” Vor allem für jene, die das Ende des Kommunismus in alle möglichen Welten und in die neue Ökonomie geschleudert hat. Nach Jahrzehnten der Apathie ist das vorher wenig gefragte Individuum auf einmal gezwungen, sich zu bewähren: „Die erste freie Generation!” - ein Wunder, wenn es dabei nicht hektisch zuginge. Obwohl der zur Eigenschaftslosigkeit neigende Abel Nema sich durch ein regungsloses Gesicht und seine aufreizend traumwandlerische Sicherheit in gefährlichen Situationen von aller Panik abzuheben scheint: seine hastig aufgesogenen zehn Sprachen sind nicht Zeichen gediegener Bildung, sondern Ausdruck „hysterischer Zeiten”, einer existentiellen Nervosität.
Und genau diese bestimmt den Stil von „Alle Tage”. Ganz grundsätzlich fällt Terézia Mora mit der Tür ins Haus. Was die Zwölfzeilenmeldung der Zeitung über Nemas Leben und Sterben, über die Heirat und die vier Jahre später erfolgte Scheidung von Mercedes Alegre hätte wissen wollen, steht auf den ersten Seiten. Dann wird im Grunde nachgereicht, aufgefüllt, in einer Häufung kleiner Geschichten wird Abel Nemas Leben entfaltet. Neben den Reihungen ist die Direktheit der Dialoge dabei eines der prägendsten, das Tempo erhöhenden sprachlichen Mittel: Fast jeder Kapitelanfang ist ein Romanbeginn: „Na, wohin Jungs? Nirgendwohin. Nirgendwohin? Ist das denn möglich?”
Die schwule Klapsmühle
Zur Erzeugung der Atmosphäre der Unruhe gehört aber auch, dass Moras Sätze nie ordentlich informieren. Wer die „Jungs” sind, wird weder einfach noch umständlich erklärt. „Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Beschreiben wir den Ort wie folgt”, beginnt das Buch, doch weder geht es im Roman um „jetzt” und „hier” (er arbeitet sich im Gegenteil in die Vergangenheit hinein), noch wird der Ort anschließend mehr als nur evoziert: „Eine Stadt, ein östlicher Bezirk davon. Braune Straßen, leere oder man weiß nicht genau, womit gefüllte Lagerräume und Menschenheime.”
Allmählich wird klar, wie aus Abel Nema dieser seltsame, bindungsunfähige Mann werden konnte. Aufgewachsen in einem verlorenen Städtchen in der Nähe dreier Grenzen, als Sohn des Lehrers Andor Nema, der am ersten Tag irgendwelcher Sommerferien auf immer verschwand, sucht Abel Liebe und Vaterersatz bei einem Freund, kommt in die große Stadt, trifft Tibor B., einen Professor aus seiner Heimat, der ihm ein Hochbegabten-Stipendium vermittelt, gerät in die Kreise der „Klapsmühle”, einer exzessiven, gewaltfreundlichen, ziemlich schwulen Nachtbar und in die Nähe einer Band aus Ex-Jugoslawien. Abel hat eine Affäre mit Kinga, der weiblichen Muse, er braucht eine Aufenthaltsbewilligung und heiratet Mercedes Alegre, alleinerziehende Mutter eines Abel sehr ähnlichen Sohns namens Omar.
Für diese Lebensgeschichte, die „alles Sonderbare, Lächerliche, Traurige” anzuziehen scheint, hat Terézia Mora eine irritierende Stimmungs-Mischung aus Elegie und Unruhe gefunden, die sie aus dem Gegensatz von Abels ruhigem Temperament und ihrer rasch zupackenden, atmosphärische Vagheit mit einfallsreicher Detailgenauigkeit verbindenden Sprache gewinnt: „Sie lachte. Keiner ihrer Zähne berührte seinen Nachbarn. Brombeerfarbene Lippen unter großen behaarten Nasenlöchern, dafür großartige Wangenknochen, Augen, Stirn, darüber ein Durcheinander nie gekämmter dunkler Locken. Hörte nicht auf zu lachen.” So wird Kinga eingeführt, die eigenartige Affärenpartnerin.
Man darf nur nicht den Fehler machen, „Alle Tage” als den Eheroman zu lesen, als der sich das Buch zuerst präsentiert. Denn Mercedes Alegre bleibt im Vergleich zu Abel eine blasse Figur: eine Universitätsassistentin, die sich mit ihrem Professor (Tibor B.) gut versteht. Ihre Herkunft wird, trotz des pompösen Namens, im Unklaren belassen, ihr Vater Felix Alegre ist ein Krimiautor mit Pseudonym Alegria, ihre Mutter heißt Miriam, aber das genügt nicht, um gegen das auf Dutzenden von Seiten beschworene Außenseitertum Abels anzukommen.
Manchmal sind es allerdings auch etwas viele obskure Geschichten, gerade die Geschehnisse um Kingas Band werden mit zunehmender Dauer konturlos. Hier taugt die behauptete Zerfahrenheit der Welt nicht mehr zur Inspiration der Erzählung, gefräßig ausufernd nagt sie an Struktur und Dramaturgie. Und trotzdem fasziniert das ambitionierte Unternehmen der 1971 geborenen, mit neunzehn aus Sopron nach Deutschland gekommenen Bachmannpreisträgerin Terézia Mora, die mit ihrem formstrengen, konzisen Erzählband „Seltsame Materie” 1999 debütierte.
Literarische Osterweiterung
In ihrem ersten Roman versucht sie nicht einfach, uns irgendeine beliebige Geschichte nahe zu bringen, sondern erzählt einen großen, der literarischen Moderne und der gesellschaftlichen Gegenwart verpflichteten Roman. Er setzt sich nichts weniger als den Ausdruck des „hektischen” Weltzustands zum Ziel und wirkt dabei nie wie ein Schmöker, sondern in seiner sprachlichen Intensität viel eher lyrisch verdichtet. Der rätselhafte Charakter Abels trägt über das ganze Buch, aber auch Moras Darstellung politischer Probleme wie „Osterweiterung” oder „Abschiebung” überzeugt. Nie schleicht sie sich in die Nähe der Pflichtthemen Frauenhandel und verkannte Qualitäten des Ostens. Die Geschichte um die Afrikanerin Eka, ihr Baby und die Ausländerpolizei macht im Gegensatz deutlich, dass der Balkan nicht der Nabel der Welt ist. Gesellschaftskritik im althergebrachten Stil ist auch das nicht, eher die Begleiterscheinung einer aufmerksamen Beobachtung der Welt. So eigenartig es klingt: Die deutschsprachige Gegenwarts-Literatur junger Ungarinnen hat, nach Zsuzsa Bánks ganz anders geartetem, melancholischem Romanerstling „Der Schwimmer”, mit der exzessiven Roman-Wucherung „Alle Tage” schon ihr zweites Hauptwerk erhalten. Der Osten lässt sich nicht schlucken. Indem er Literatur Ernst nimmt, gibt er dem Westen einen Stoß.
HANS-PETER KUNISCH
TERÉZIA MORA: Alle Tage. Roman. Luchterhand Verlag. München 2004. 432 Seiten, 22,50 Euro.
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"Und wenn Sie nichts müssen in diesem Herbst, das müssen Sie jetzt lesen. Sie müssen!" Elmar Krekeler, Die Welt