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Jeder kennt dieses Gefühl des Abgrunds, wenn plötzlich, in einem ganz normalen Leben, der Augenblick eintritt, in dem alles auf dem Spiel steht, alles sich grundlegend ändern kann. Vielleicht bietet Maine für solche Szenen einen idealen Grund, sehr wahrscheinlich liegt es aber am Geschick des Autors, der in diesen Geschichten scheinbar ganz normale Menschen vor solchen Wendepunkten schildert und blitzlichtartig den ganzen Charakter, ein ganzes Leben, ja ein Schicksal erhellt.
Z.B. als ein Pärchen mit seinem Baby von Portland nach Point Allison tuckert und das Boot vor dem Hafen
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Produktbeschreibung
Jeder kennt dieses Gefühl des Abgrunds, wenn plötzlich, in einem ganz normalen Leben, der Augenblick eintritt, in dem alles auf dem Spiel steht, alles sich grundlegend ändern kann. Vielleicht bietet Maine für solche Szenen einen idealen Grund, sehr wahrscheinlich liegt es aber am Geschick des Autors, der in diesen Geschichten scheinbar ganz normale Menschen vor solchen Wendepunkten schildert und blitzlichtartig den ganzen Charakter, ein ganzes Leben, ja ein Schicksal erhellt.

Z.B. als ein Pärchen mit seinem Baby von Portland nach Point Allison tuckert und das Boot vor dem Hafen liegenbleibt, weil sich Seetang in der Schraube verheddert hat. Der zu Hilfe gerufene Taucher wird für den jungen Vater zur Bedrohung – real oder eingebildet? –, mit der er nicht umgehen kann. Oder die Party auf einem ans Meer grenzenden Gelände einer Luxusvilla, bei der ein Neuankömmling den Wunsch des ihm unbekannten Gastgebers erfüllen soll – mit einer Pistole. Oder die schwangere junge Frau, die mit ihrem Zukünftigen dessen Tante auf einer vorgelagerten Insel besucht, obwohl sie panische Angst vor dem Meer hat. Wie kommt es, daß sie nach kurzer Zeit ebenjenes Meer als beruhigend empfindet?

In diesen Geschichten steht kein Wort zuviel, unglaublich präzise fängt Robinson noch die intimsten Regungen seiner Figuren ein.
Autorenporträt
Lewis Robinson, geboren 1971 in Massachusetts, nach Literaturstudium erhielt er im Iowa Writers' Workshop den Glenn Schaeffer Award, 2003 den Whiting Writers Award. Er arbeitete u. a. als Lastwagenfahrer, Taucher und Fischer. Der Autor lebt in Maine.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.2005

Der Wind riecht nach Blut
Abseitiges aus Maine: Lewis Robinsons Erzählungsband

Lewis Robinson, Jahrgang 1971, arbeitet als Lehrer an einer Schule in Portland, Maine, wo er jungen Mädchen Fußball und Basketball beibringt; daneben gibt er Jungautoren Schreibkurse. So einer war auch er, als er vor ein paar Jahren beim großen John Irving lernte, wie man gute Geschichten baut. Vor zwei Jahren debütierte er mit dem Erzählungsband "Officer Friendly And Other Stories", der nun in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Der Taucher" vorliegt - elf Erzählungen, deren Fäden im Fischerdorf Point Allison an der Westküste von Maine zusammenlaufen. Robinson skizziert eindrucksvoll Land und Leute vor kleinstädtisch anmutender Kulisse und spiegelt in vielschichtigen Charakterzeichnungen die amerikanische Gesellschaft.

Robinsons Erzählungen sind, erkennbar im Stil seines Lehrers Irving, Querschnitte durch die Mentalität eines Landes, das von Gegensätzen geprägt ist. Er zieht den Leser in eine Welt, in der ein rauhes Klima herrscht: In der Erzählung "Eishockeyfreaks" etwa setzt er dem Bild der lang anhaltenden frostigen Winter, in denen die Boote mit Planen abgedeckt auf Holzböcken lagern und die Sommerhäuser der Städter eingemottet sind, eine Antiidylle entgegen: Seine Helden wärmen sich nicht am häuslichen Kamin, sondern heizen sich ein, indem sie sich beim Eishockey die Köpfe einschlagen. Sobald das Eis auf den Straßen Maines schmilzt, drücken die Autofahrer, von den lauen Temperaturen beflügelt, das Gaspedal ihrer gewaschenen Cadillacs wieder durch. Elche und Hirsche, die, "hungrig auf Salz, die Straßenränder bevölkerten", werden einfach überfahren - die aufkommende Frühlingsfeier wird zum "Gemetzel", der Wind riecht nach Blut.

Dieser kulissenhaften Antithetik entspricht eine psychologische. Die Figuren treffen meistens in einer prekären, zum Teil etwas unoriginellen Dreierkonstellation aufeinander: In "Eishockeyfreaks" sprengt ein selbstbewußtes Mädchen aus der Stadt die Freundschaft zweier Heranwachsender, in "Finken" plappert ein Papagei namens Winston in eine junge Liebesbeziehung. In der Titelgeschichte "Der Taucher" drängt sich ein unbekannter Dritter in eine vermeintlich glückliche Ehe. Dieses beklemmende und vielleicht beste Stück erinnert in seiner filmischen Erzählweise an Martin Scorseses "Kap der Angst" von 1991, in dem die von Robert De Niro gespielte Hauptfigur an seinem ehemaligen Anwalt Rache übt.

Peter, ein Restaurantbesitzer aus Portland, sitzt in Robinsons Story mit seiner hübschen Frau Margret und seinem Baby auf einem Segelboot vor der Küste fest. Der viril zupackende Taucher, der an Bord kommt, sieht in Peter nur einen "bescheuerten Segler", nutzt die unterlegene Lage des Ortsunkundigen maliziös aus und treibt seine Spielchen mit ihm. Die Gefahr, die von diesem Mann ausgeht und die nur Peter wahrzunehmen scheint, bringt diesen zum Äußersten. "Ihm kam der Gedanke - es war ein starkes, flüchtiges Bedürfnis -, den Mann zu bestrafen." Ob die Bedrohung real ist oder sich alles nur in Peters Kopf abspielt, läßt Robinson offen. Das eigentlich Beklemmende spielt sich auf einer ganz anderen Ebene ab. Der Taucher durchschaut die Fassade des aalglatten Peter, dessen wahres Ich nicht einmal seine Frau kennt, und schlägt ihm einen ungeheuerlichen Handel vor: "Sie bleiben hier und arbeiten als Taucher. Ich segle nach Portland zurück, führe das Restaurant und hab' Ihre Frau."

"Der Trinkspruch" spielt auf der Geburtstagsparty eines ehemaligen Gouverneurs. Einer der Gäste ist der Barkeeper Roger, in Begleitung seiner exzentrischen Mutter und deren neureichen Freundes Hutch. Roger muß bald erkennen, daß seine Anwesenheit alles andere als zufällig ist. Er soll unter Mitwisserschaft aller Anwesenden einschließlich seiner Mutter zum Mörder des Gastgebers gemacht werden: "Das ist ganz einfach", sagt jemand und drückt ihm die Pistole in die Hand, "zielen und abdrücken. Du hast doch schon Filme gesehen." Zu spät erkennt Roger, daß er sich im falschen Film, aber in einer perfekten Inszenierung befindet. Ihm gilt der einsetzende Applaus, der sich in "johlendes Gebrüll" verwandelt, als er dem alten Mann in die Brust schießt.

Zentral, wenn auch nicht so zwingend erzählt, ist "Cuxabexis, Cuxabexis". Die Geschichte der schwangeren Ärztin Eleanor bildet nicht nur als sechste von elf Erzählungen formal die Mitte des Bandes, sie hebt sich auch durch die Erzählweise und die Erzählerfigur von den anderen ab. In den übrigen zehn Geschichten wird im Präteritum erzählt, der Narrator ist ein Mann, der fast immer in Ich-Form einen Generationen- oder einen Beziehungskonflikt austrägt. Hier berichtet der Autor im Präsens von der kühlen, rationalen Frau, die von ihrem Freund Bill, zu dem sie ein distanziertes Verhältnis hat, ein Kind erwartet. Die beiden fahren erstmals gemeinsam auf die Point Allison vorgelagerte Insel Cuxabexis, wo Bill aufgewachsen ist - für seine Freundin aus der Großstadt ist das schon eine Reise ins Unbekannte. Schon auf der Überfahrt bahnt sich eine Art Epiphanie an: "So war es nicht immer. Sie ist anders, als sie einmal war."

Inmitten der spröden Küstenlandschaft spürt Eleanor plötzlich die Übersättigung der Verstandeswelt und in animalischer, fast regressiver Weise ein drängendes Verlangen nach Fleisch. Sie befriedigt ihre Fleischeslust aber nicht mit einem blutigen Steak, sondern indem sie einem alten Insulaner zur Hand geht: beim Schlachten seiner Kaninchen. Als dieser das Fell mit einem Ruck abgezogen hat, greift sie nach dem Fleisch: "Die Muskeln sind mit einer bläulich glänzenden Membran umschlossen. Sie legt die Hände um den glatten, warmen Kadaver." Während sie im Medizinstudium noch das Herumschneiden an kleinen Schweinen verstört hatte, kann sie nun dem naturwüchsigen Schlachterlebnis durchaus etwas abgewinnen. Als sie mit blutverschmierten Händen beschwingt den Hügel zum Meer hinunterläuft, ist die Verwandlung einer werdenden Mutter in ein vermeintlich blutrünstiges Monstrum vollzogen. Wie Roman Polanskis Rosemarie nimmt sie an, was in ihrem Bauch heranwächst: "Das Baby gehört ihr. Sie liebt es bereits so sehr, daß sie es auffressen könnte." Eleanor verzichtet allerdings darauf, Bill in das Erlebnis und die kannibalisch anmutenden Phantasien, die davon ausgelöst wurden, einzuweihen.

In allen Erzählungen bleibt zwischen den Figuren ein unausgesprochener Rest. Die Schlußerzählung "Finken" enthält das Rezept für eine Paarbeziehung, die allenfalls durch die Verheißung auf etwas noch Unbekanntes funktioniert und nicht etwa aus geteiltem Erleben. Zum letzten Mal finden hier die ehemals Liebenden zu einem Tanz zusammen, und der Mann denkt: "Als das Lied zu Ende ging, berührte ich ihren Arm und hatte kurz die Hoffnung, wir könnten wieder zusammenkommen, aber es war wohl bloß das Gefühl, sie überhaupt nicht zu kennen."

Lewis Robinson interessiert sich für das, was normalerweise nicht verhandelbar ist. Er zieht den Leser in den Raum geheimer, bisweilen fast abartiger Phantasien mit suggestiver Spannung hinein. Ob das auch im größeren Format funktioniert, werden wir vielleicht schon bald erfahren - ein Roman ist in Planung.

FRIEDERIKE REENTS

Lewis Robinson: "Der Taucher und andere Geschichten aus Maine". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel. Luchterhand Literaturverlag München 2005. 256 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Lewis Robinson hat viel von seinem Lehrer John Irving gelernt, konstatiert Friederike Reents, vor allem, wie man "gute Geschichten baut" und in ihren Charakteren die "Mentalität eines Landes" spiegelt. Elf Erzählungen versammelt der Band, die alle im Fischerdorf Point Allison am Atlantik spielen. Figuren und Kulisse sind erstklassig gezeichnet, und für Spannung ist ebenfalls gesorgt, denn der Debütant Robinson, schreibt die Rezensentin, "interessiert sich für das, was normalerweise nicht verhandelbar ist. Er zieht den Leser in den Raum geheimer, bisweilen fast abartiger Phantasien" hinein - in das Abgründige der Protagonisten, das aber dennoch nie zu hell ausgeleuchtet wird. Mal sehen, meint Reents zum Abschluss, ob das auch im großen Format funktioniert - "ein Roman ist in Planung".

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