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Wie die großen Abenteuerromane des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als deren Hommage »Die Reise über den Horizont« zu verstehen ist, hat auch dieser Roman als roten Faden die Geschichte einer Expedition: Kapitän Kerrigan, ein exzentrischer Millionär, keineswegs ein »unbeschriebenes Blatt«, stellt eine Antarktis-Expedition zusammen, an der Wissenschaftler und Schriftsteller teilnehmen sollen. Doch die Reise, wie der Titel andeutet, ist nichts weiter als ein Vorwand, eine Phantasmagorie, aus der sich ein Drama entwickelt. Meisterhaft erzählt als ein Buch im Buch werden der Abenteuerreise Kerrigans…mehr

Produktbeschreibung
Wie die großen Abenteuerromane des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als deren Hommage »Die Reise über den Horizont« zu verstehen ist, hat auch dieser Roman als roten Faden die Geschichte einer Expedition: Kapitän Kerrigan, ein exzentrischer Millionär, keineswegs ein »unbeschriebenes Blatt«, stellt eine Antarktis-Expedition zusammen, an der Wissenschaftler und Schriftsteller teilnehmen sollen.
Doch die Reise, wie der Titel andeutet, ist nichts weiter als ein Vorwand, eine Phantasmagorie, aus der sich ein Drama entwickelt. Meisterhaft erzählt als ein Buch im Buch werden der Abenteuerreise Kerrigans andere Begebenheiten hinzugefügt, andere Personen, ebenso romanhaft, die an die großen Meister wie Joseph Conrad, Henry James und vor allem Conan Doyle erinnern.
Und in pittoresken Szenen mit geheimnisvollen Manuskripten, Edwardian Ladies, berüchtigten Geschäftsleuten, unaufgeklärten Todesfällen, einer rätselhaften Entführung, ungleichen Duellen und Seelandschaften entfaltet sich eine turbulente Geschichte.
Autorenporträt
Javier Marías, 1951 als Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller "Mein Herz so weiß" gilt er weltweit als interessantester Erzähler Spaniens. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.10.2002

Schraubenwindung
Javier Marías’ Roman
„Die Reise über den Horizont”
Am Anfang stehen vier spärlich bedruckte Seiten. Kurze Skizzen eines namenlosen Erzählers sind es, die sich schnell in Anspielungen verlieren. Von versteckten Absichten und falschen Vermutungen ist die Rede, von wirren Gefühlen und vom Vergessen. Doch so diffus diese Notate auf den ersten Blick wirken mögen, sie haben eines gemeinsam: Zwischen den Zeilen deuten sie alle auf eine Schiffsreise hin, auf eine Expedition von Schriftstellern und Wissenschaftlern, deren Fährte nach Alexandria reicht.
Javier Marías’ Roman „Die Reise über den Horizont” ist ein Buch für Spurensucher. Nicht nur, weil er eine Abenteuergeschichte erzählt, deren Lektüre höchste Konzentration und einen genauen Blick für die kleinen Scharten und Risse der Dinge verlangt. Er weckt auch Lust, sich auf die Suche nach einem literarischen Stil zu machen. Denn dies ist kein neuer Text des hoch gelobten spanischen Schriftstellers, vielmehr ein Frühwerk, das er mit gerade 20 Jahren geschrieben hat und das nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. So lässt sich jede Seite abtasten auf Spuren jener Motive und erzählerischen Finessen, für die der 1951 geborene Autor heute bekannt ist.
Es ist die Neugier, die den Schriftsteller Victor Arledge dazu bewegt, dem Angebot des abenteuersüchtigen Kapitäns Kerrigan zu folgen. Zusammen mit einigen schreibenden Kollegen und einer Gruppe von Forschern bricht er zu einer Reise in die Antarktis auf. Die Geschichte spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Weniger als die wissenschaftlichen Diskussionen an Bord oder die fremden Bilder der nordafrikanischen Küste reizen Arledge die Erlebnisse eines mitreisenden Musikers. Dieser Hugh Everett Bayham soll einst auf einem nächtlichen Spaziergang entführt worden sein. Was genau sich innerhalb der vier Tage seines Verschwindens ereignet hat, lässt sich nicht sagen, amouröse Szenen jedoch und der völlige Verlust des Zeitgefühls spielen eine nicht unbedeutende Rolle. Bis an die Grenze des Wahnsinns versucht Arledge, Details jener Entführung in Erfahrung zu bringen, von der man nicht einmal weiß, ob sie nicht der Phantasie des Musikers entsprungen ist. Am Ende kann er ihn nur durch heftiges Flehen und Weinen überreden, seine wahre Geschichte zu erzählen. Der Leser hingegen erfährt sie nicht, für ihn bleibt sie ein Geheimnis.
Spurensuche
Gänzlich verrätselt, ebenso raffiniert wie verquer mutet auch die Konstruktion dieses Romans an. Die Frage ist, wer hier eigentlich spricht und was es denn auf sich hat mit dem Verhältnis von Erzählen und Wirklichkeit. Wie die Stadt Alexandria, die schon damals weniger aus Stein und Staub zu bestehen schien als vielmehr aus jenem Mythos des Wissens und der Lust, der in zahllosen Reiseberichten, Gedichten, Essays und Briefen kolportiert wurde, so setzt sich auch die Geschichte dieses Romans aus ineinander verschränkten Texten zusammen. Denn die Erlebnisse Victor Arledges werden als Roman im Roman erzählt, als literarische Spurensuche eines befreundeten Schriftstellers, der dem frühen Tod Arledges nachgehen will. Ein namenlos bleibender Ich-Erzähler schließlich bildet die Klammer all dieser ihrerseits labyrinthisch angelegten Schachteln. Er lässt sich aus dem unveröffentlichten Manuskript vorlesen, das den nicht unbedingt überraschenden Titel „Die Reise über den Horizont” trägt. Ansonsten erfährt man wenig über ihn, nach und nach aber zeigen sich zahlreiche Querverbindungen zwischen seiner äußeren Welt und der gleichsam inneren jenes Manuskripts.
Literarische Masken und Täuschungen, Erinnerungen und Möglichkeitssinn, der zurückhaltende Ich-Erzähler und das Spiel mit unseren Vorstellungen von Zeit – so einiges findet sich in diesem frühen Roman Javier Marías’, das auf die spätere Prosakunst des Spaniers hindeutet. Vor allem in der sprachlichen Formung jedoch zeigen sich deutliche Unterschiede. Zwar haben die Sätze schon den charakteristischen langen Atem, verzweigen sich in Nebenpfaden und Parenthesen, allein, es fehlt ihnen die Leichtigkeit, die scheinbar beiläufige Rhythmik der kommenden Romane und ihre geschickt gesetzten Variationen. So behutsam die Übersetzerin Elke Wehr auch an den Sätzen gefeilt haben mag, manche von ihnen erinnern eher an das, was Musils Törleß einmal über seine Kant-Lektüre erzählt: „Wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe.” Auch die zahlreichen Reflexionen über das Schreiben sind noch recht holzschnittartig gefügt. Sie berühren ebenso wenig wie das oft plumpe Spiel mit Versatzstücken der Abenteuerliteratur oder manch schwacher Dialog.
Und doch hält dieser Roman den Leser über weite Strecken bei Laune. Was Arledge über die Widrigkeiten der Expedition sagt, „sie steigerten die Reiselust”, lässt sich auf all die erzählerischen Schnörkel und Verschachtelungen des jungen Marías übertragen: Sie steigern durchaus die Leselust. Weil er die meisten seiner Fäden unterwegs nicht verliert, sondern sie geschickt zusammenführt. Weil er Stimmungen andeuten und ungemein witzig sein kann. Und weil er am Ende sogar eine Spur zu jenen vier Seiten legt, mit denen der Roman beginnt.
NICO BLEUTGE
JAVIER MARÍAS: Die Reise über den Horizont. Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Elke Wehr. Klett Cotta, Stuttgart 2002. 205 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Ein amüsantes Spiel um Geheimnisse, Verbrechen, Intrigen und Liebe
Ende des 19. Jahrhunderts organisiert Kapitän Kerrigan eine Antarktis-Expedition. Expeditionsteilnehmer sind neben einigen Wissenschaftlern v.a. englische und französische Schriftsteller und Künstler. Auch den bekannten Romancier Victor Arledge möchte Kapitän Kerrigan für diese höchst seltsame Seereise "anheuern". Als Arledge erfährt, dass der junge Musiker Hugh Everett Bayham ebenfalls an Bord der Tallahassee sein würde, gibt es für ihn keinen Grund mehr, nicht an Bord zu gehen. Denn über ebendiesen Bayham hatte Arledge erst kürzlich durch einen Brief von einem Freund eine merkwürdige Geschichte erfahren, die ihn seitdem nicht mehr zur Ruhe hat kommen lassen: Bayham, - damals noch verheiratet - war eines Abends von seinem üblichen Spaziergang nicht nach Hause gekommen und erst 4 Tage später wieder aufgetaucht. Laut seiner Erzählung sei er entführt worden, nach Schottland gebracht, dort in einem Haus festgehalten und von der hübschen Tochter des Hauses verführt worden. So lautete zumindest Bayhams Geschichte... Arledge, der, seitdem er von diesen wundersamen Begebenheiten in Kenntnis gesetzt worden war, unbedingt herausfinden möchte, was sich wirklich in diesen vier Tagen abgespielt hatte, sieht nun durch die Teilnahme an der Expedition seine Chance gekommen. Von einer beinahe obsessiven Neugierde getrieben, weicht er Bayham auf der Tallahassee vom Beginn der Reise an nicht mehr von der Seite. Doch bald schon soll sich herausstellen, dass der junge Musiker nicht bereit ist, über die Vorkommnisse seiner rätselhaften Entführung zu reden.
Aber auch für die anderen Passagiere gestaltet sich das Leben an Bord nicht unbedingt langweilig: Wie aus heiterem Himmel verschwindet ein Besatzungsmitglied, ein Bootsmann, der einige Tage später ermordet aus dem Meer gefischt wird. Mehr und mehr bestimmen Unruhen und Unstimmigkeiten das Schiffsleben - und nach und nach wird Kapitän Kerrigan als gefährlicher Exzentriker mit krimineller Vergangenheit entlarvt...
Der literarische Zauberer
Javier Marias, der sicherlich interessanteste spanische Autor der Gegenwart, dessen Bücher in 31 Sprachen übersetzt wurden, gehört zweifelsohne zu den weltweit ganz großen Bestsellerautoren. Der Roman Die Reise über den Horizont, den er bereits mit 20 Jahren schrieb, zählt zu den Frühwerken des Spaniers. Schon hier lassen sich die Wurzeln seiner späteren Erfolgsbücher erkennen. Unbestreitbar ist er ein Meister leidenschaftlicher, sprachgewaltiger Erzählprosa. Sein Stil ist von selten gesehener Präzision und Ausdruckskraft. Berechtigterweise wird er von seinen begeisterten Kritikern "literarischer Zauberer" genannt.
(Wibke Garbarukow)
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

"Ein bisschen kompliziert ist das Ganze schon", schreibt Martin Krumbholz. Aber er ist doch sehr nachsichtig mit dem ersten Roman des heute weltberühmten Javier Marias. Gerade einmal zwanzig Jahre war Marias gewesen und deshalb ist es für den Rezensenten sonnenklar, dass es sich bei dem Roman "naturgemäß um reine Literaturliteratur" handele. Außerdem komme man dauernd ins Straucheln, weil die Geschichte sehr verschachtelt sei: "Da gibt es den Freund des toten Schriftstellers, der dessen nachgelassenes Werk zwei Bekannten vorliest; einer davon ist der Ich-Erzähler der Rahmengeschichte. Der Roman im Roman enthält seinerseits kürzere Binnenromane, in denen Nebenpersonen der Haupthandlung als Hauptpersonen auftreten, teilweise wiederum als Ich-Erzähler." Der Hauptteil des Romans spielt auf einer Kreuzfahrt, aber das scheint der Rezensentin dann auch nicht mehr so wichtig zu sein - denn Handlung und Figuren fehle die Tiefe. Ist der Roman nun eine "schreckliche Enttäuschung", fragt sich der Rezensent, um sich dann zu antworten: "Nein, nein, so melodramatisch wollen wir nicht sein. Dieses Debüt handelt zwar von nichts anderem als der puren Lust am Fabulieren, aber das auf einem brillanten Niveau."

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2002

Mann über Bord
Finsternis der Herzen: Javier Marías' frühe Reise zum Südpol

Javier Marías' Roman "Mein Herz so weiß", weiß Gott keine leichte Kost, fand hierzulande bekanntlich so reißenden Absatz, daß der Verlag nun fieberhaft alles ausgräbt und druckt, was der Spanier je geschrieben hat, Fußballglossen und selbst angestaubte Frühwerke wie das vorliegende. Man kennt Marías als den britischsten aller spanischen Schriftsteller: Seine Romane sind unterkühlt, gentlemanlike distinguiert, durch und durch rational und doch geheimnisvoll. In dieser "Reise über den Horizont" aus dem Jahre 1972 beruft sich der damals gerade Zwanzigjährige noch nicht, wie in seinen späteren Liebesalltagsdramen, auf Shakespeare, sondern spielt jugendlich-ungeniert mit der Tradition der Abenteuer- und Mystery-Novels seiner literarischen Wahlheimat. Ganz im Geiste der frühen Siebziger, als H. C. Artmann, Elfriede Jelinek und Ror Wolf die Klischees des Trivialromans als Spielmaterial einer Popliteratur avant la lettre zu entdecken begannen, experimentiert Marías hier mit Genreklassikern von Jules Verne bis Arthur Conan Doyle und Agatha Christie.

Es ist eine höchst illustre Expedition, die im Jahre 1904 in See sticht, um, wie einst Poes blinder Passagier Arthur Gordon Pym, den Südpol zu erforschen: Schriftsteller samt Groupies und ergebenen Bewunderern, Musiker, Wissenschaftler, Aristokraten und Snobs aus ganz Europa. Allein, die Schiffsreise der schwimmenden Gelehrtenrepublik steht unter keinem guten Stern. Die Passagiere, "echte Repräsentanten einer Gesellschaft, die - wie die unsere - die Existenz nur als eine von Hindernissen und Unebenheiten freie Reise über den Horizont begreift", verfügen zwar über Bildung und Besitz, tadellose Umgangsformen und eine Portion Abenteuergeist. Aber die gute Gesellschaft gibt sich ihren Spleens, Intrigen und Eifersüchteleien mit so viel übellauniger Verve und klassenbewußter Arroganz hin, daß schon das touristische Vorspiel der Expedition, eine Kreuzfahrt im Mittelmeer, zum Desaster gerät. Die "Tallahassee" kommt über Tanger nicht hinaus, und manch ein Reisender erreicht nicht einmal dieses Ziel lebend.

Die Gründe dafür verschweigt der Erzähler diskret, wie er sich überhaupt einer bemerkenswerten Geheimniskrämerei befleißigt, was die Ursachen der zahlreichen Skandale, Affären, Duelle und Morde an Bord und anderswo betrifft. "Was folgt, ist eine andere Geschichte", gibt er einmal lakonisch zu verstehen. "Was Kerrigan den nötigen Antrieb gab, um sich endgültig zu ändern, war letztlich eine einfache affaire d'amour. Ich werde Ihnen nichts darüber sagen, weil ich mich nie darauf verstanden habe, über Liebe zu sprechen, Sie werden es festgestellt haben, wenn Sie meine Romane gelesen haben . . . Ich werde Ihnen nur sagen, daß ihre Geschichte sehr schön war." Offensichtlich weiß der Erzähler mehr, als er seinem neugierig und andächtig lauschenden Publikum verraten will. Ähnliches gilt für alle Babuschka-Puppen der komplizierten Herausgeberfiktion: Ein Freund eines Freundes hat einen Roman, nämlich "Die Reise über den Horizont", über das rätselhafte Verschwinden des berühmten Romanciers Victor Arledge geschrieben, aber Genaues weiß man nicht. "Mehrere Gedanken gingen mir durch den Kopf, darunter die richtigen", deutet der Erzähler dritten oder vierten Grades einmal mysteriös an.

Falsch ist jedenfalls die Annahme, daß kaltblütige britische Contenance zu den hervorstechenden Tugenden des Schiffskapitäns gehört. Der exzentrische Amerikaner Kerrigan, auf zweifelhafte Weise reich geworden, ist ein zupackender Tatmensch, der freilich in entscheidenden Momenten wie Hamlet zaudert, ein jähzorniger, skrupelloser Choleriker mit unerklärlich melancholischen Ausfalls- und Lähmungserscheinungen, wie seine Abenteuer als Handelsagent und Reiseführer in der Südsee (sie lesen sich wie ein Groschenroman von Joseph Conrad) hinreichend beweisen. Auf dieser Reise freilich fehlt es Käpt'n Kerrigan nicht an Entschlossenheit. Schon auf der Höhe von Alexandria zückt er das Messer, um alsbald einen Offizier ins Jenseits zu schicken und eine Lady über Bord zu werfen. Aber sein überschäumendes Temperament ist noch nichts gegen die Hartnäckigkeit, mit der Arledge seine fixe Idee verfolgte: Die Weigerung eines Reisegenossen, ihm Einzelheiten über seine kurz zuvor erlebte Ent- und Verführung mitzuteilen, macht den Großschriftsteller so rasend, daß er erst seine feinen Manieren vergißt, dann das Schreiben aufgibt und zuletzt seinem Leben ein Ende setzt. So mengt sich doch noch heißblütiger spanischer Stolz in Selbstbeherrschung und Understatement des Briten.

Arledge platzt wie Rumpelstilzchen, weil er das Geheimnis der Entführung, sein Biograph wird schwermütig, weil er das Geheimnis von Arledges Verzweiflung nicht aufklären kann. Auch der Leser muß lernen, daß es für seriöse Naturforscher in der Finsternis der Herzen mehr zu entdecken gibt als im Herzen der Finsternis. So treibt, schon gut postmodern, ein Geschwader von Erzählern und Herausgebern ein böses Spiel mit der Neugier des Lesers. Sie halten ihn mit Andeutungen und Ausflüchten hin, spannen ihn mit einer umständlichen Exposition und grotesken Finten auf die Folter, bis allen die Lust an einer befriedigenden Auflösung dieser Räuberpistole vergangen ist. Das ominöse Geheimnis, hören wir beiläufig, sei im Grunde "nicht wichtig und, was es auch gewesen sein mag, tatsächlich nicht erzählenswert" - und "Die Reise über den Horizont" ein bestenfalls "mittelmäßiger" Roman.

Dem kann man kaum widersprechen. Marías parodiert zwar virtuos Stoffe, Typen und den verschnörkelten Stil des viktorianischen Spannungsromans. Aber wenn man am Ende nur lose Erzählfäden und verworrenes Seemannsgarn in Händen hält und auf der kolonialherrlichen Reise keinen Horizont überschritten hat, schlagen die kühl kalkulierten Täuschungen in Enttäuschung um. Der "literarische Ehrgeiz eines begeisterten Jünglings" erreichte noch nicht den Südpol großer Literatur, aber die Themen und Techniken von Mariás' späteren Romanen kündigen sich bereits an. Die perspektivisch verzerrte Erzählweise, die das Erzählte in einem apokryphen Hörensagen, in Vermutungen, Echos, Gerüchten und Träumen auflöst, das Faible für die "Obsessionen, Verblendungen und Trübungen der Vernunft" und die kaltblütigen Vexierspiele des Gentleman-Autors deuten an, daß es in der Liebe wie im Tod, im Leben wie im Lesen nur auf das Begehren, die Spannung auf ein Ziel hin, ankommt. Die Erwartung ist alles, die Erfüllung nichts, und so legt man diesen Roman, von dem man sich eine Zeitlang nicht ungern narren ließ, befriedigt unbefriedigt zur Seite.

MARTIN HALTER

Javier Marías: "Die Reise über den Horizont". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Elke Wehr. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002. 205 S., geb., 18,- [Euro].

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