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Sigmund Freuds Sexualtheorie ist inzwischen mehr als 100 Jahre alt. Seitdem hat sich viel verändert. Wir denken und arbeiten heute nicht nur anders, wir begehren und lieben auch anders. Die Sexualität ist nicht mehr die große Metapher des Rausches und der Revolution. Sie wird heute durch Medien und Kommerz weitgehend banalisiert. Vor diesem Hintergrund legt der große Sexualforscher Volkmar Sigusch mit diesem Buch eine eigene Sexualtheorie vor, die erstmals auch die Neosexualitäten unserer Zeit wie Internet-, Portal- und Asexualität umfasst, Neogeschlechter wie Trans-, Inter- und Agender sowie…mehr

Produktbeschreibung
Sigmund Freuds Sexualtheorie ist inzwischen mehr als 100 Jahre alt. Seitdem hat sich viel verändert. Wir denken und arbeiten heute nicht nur anders, wir begehren und lieben auch anders. Die Sexualität ist nicht mehr die große Metapher des Rausches und der Revolution. Sie wird heute durch Medien und Kommerz weitgehend banalisiert. Vor diesem Hintergrund legt der große Sexualforscher Volkmar Sigusch mit diesem Buch eine eigene Sexualtheorie vor, die erstmals auch die Neosexualitäten unserer Zeit wie Internet-, Portal- und Asexualität umfasst, Neogeschlechter wie Trans-, Inter- und Agender sowie Neoallianzen wie Polyamorie und Objektophilie. Selbstverständlich werden auch die alten Formen wie Hetero-, Homo- und Bisexualität, Sadomasochismus und Pädophilie erörtert.
Der Kern der Sigusch-Theorie lautet: Keine Sexualität eines Menschen ist mit der eines anderen identisch. Weil das Sexuelle sich der Systematisierung entzieht, kann darüber theoretisch nur in Fragmenten gesprochen werden. Und weil sich eine Sexualtheorie nur durch Praxis erhellt, geht Sigusch auf die gelebte Sexualität der Kinder, der Jugendlichen, der Paare, der Alten und vieler anderer ein - kritisch und konkret.
Autorenporträt
Volkmar Sigusch (1940¿2023), Arzt und Soziologe, war einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er ¿ insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main (1973¿2006) ¿ national und international eine außerordentliche Wirkung. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft, außerdem war er ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch »Sexuelle Störungen und ihre Behandlung« gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie. Sigusch gehörte dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an, war einer der Gründer der International Academy of Sex Research (IASR), wurde von den führenden Fachblätter The Journal of Sex Research und Archives of Sexual Behavior als Co-Editor für Europa berufen, von der Society for the Scientific Study of Sex, New York, zum Fellow und von der Harry Benjamin Gender Dysphoria Association zum Charter Member ernannt. Nicht zuletzt war Volkmar Sigusch ein brillanter Autor und Essayist. Publikationen der letzten Jahre unter anderem: »Neosexualitäten« (2005), »Geschichte der Sexualwissenschaft« (2008), »Personenlexikon der Sexualforschung« (2009, zusammen mit Günter Grau), »Die Suche nach der sexuellen Freiheit« (2011), »Sexualitäten« (2013) und »Kritische Sexualwissenschaft« (2019).
Rezensionen
"Volkmar Sigusch, Doyen der europäischen Sexualforschung, klärt uns restlos auf.", Profil, 10.02.2014"Der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch zieht Bilanz ... Hier wird Einspruch erhoben gegen Optimierungswahn und den Vormarsch der Prothesen." Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung, 08.01.2014"Siguschs Wissenschaftsprosa hat literarische Qualitäten, dank seiner Vorliebe für eine metaphorisch-lebendige Sprache.", Neue Zürcher Zeitung, 05.10.2013

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2013

Paläosodomiten haben wenigstens keine Mission

Einfache Homosexualität ist altbacken, aber Zissexualität und Neozoophilie sind ja auch noch im Angebot: Volkmar Sigusch sammelt Varianten sexuellen Pläsiers und hat zum Sexus nicht viel zu sagen.

Die ostentative Skepsis gegenüber dem Allgemeinbegriff, früher dem Poststrukturalismus vorbehalten, ist im Wissenschaftsbetrieb mittlerweile zur Norm geworden. Kaum ein kulturwissenschaftliches Symposion kommt ohne den Offenheit suggerierenden Plural aus: Dass es kulturelle und religiöse Identität nur in der Mehrzahl und statt "Politik" nur bunt koexistierende "Politiken" gibt, gehört schon zum Allgemeingut. Volkmar Sigusch, bis 2006 Direktor des von ihm mitbegründeten ehemaligen Instituts für Sexualwissenschaft an der Frankfurter Goethe-Universität, hat den Vielfältigkeiten eine weitere hinzugefügt: die "Sexualitäten".

In seiner gleichnamigen Studie, die eine "Bilanz" der fünfzig Jahre seiner wissenschaftlichen Arbeit verspricht, begründet Sigusch die Abkehr von der freudschen Sexualtheorie hin zu einer Theorie der "Sexualitäten" damit, dass "die menschliche Sexualität nichts ist, was seit Jahrtausenden unverändert wäre". Die "Umcodierung und Umwertung der alten Geschlechts-, Liebes- und Sexualformen" durch die "sexuellen Revolutionen" im zwanzigsten Jahrhundert (auch von ihr gab es mehrere) erfordere ein Umdenken: "Allein die technologische, kulturelle und personale Trennung der Fortpflanzungssphäre von der Sexualsphäre hat die alten Theorien entwertet." Anders als Freud, dem die Geburt seiner Sexualtheorie aus dem Geist des westeuropäischen Bürgertums nie zum Problem geworden sei, stellt Sigusch scheinbar bescheiden klar, dass er "als ein weißer Mann aus Westeuropa" spreche und überzeugt sei, "dass ,unsere' Sexualität als kulturell-gesellschaftliche Form nur in Europa und Nordamerika existiert".

Dass Freud selbst sich der Historizität seines Gegenstands durchaus bewusst war, aber eben weniger nach dem Wandel der Sexualität als nach dem gefragt hat, was sich dabei wandelt, wird dabei vergessen. Gesellschaft, Kultur und Technologie mögen den Sexus bis tief in das, was jeweils als seine Natur begriffen wird, transformieren; sie könnten ihre Wirkung nicht entfalten ohne einen Gegenstand, der als ihr veränderliches, widersprüchliches Objekt erhalten bleibt.

Zwar konzediert Sigusch: "Alle Sphären des Sexuellen, von der großen Liebe bis zum perversen Triebdurchbruch, bilden eine Einheit: die des ungelösten Widerspruchs." Das aber bleibt in seiner Studie eine bloße Behauptung. Was sich im Untertitel "Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten" nennt, ist tatsächlich eher additiv als fragmentarisch strukturiert. Die unsystematische Darstellung zielt nicht auf eine Ganzheit, die sich nur exemplarisch veranschaulichen lässt, sondern kapituliert vor der scheinbaren Vielfalt des Objekts.

Aber trifft der Eindruck von der Unübersichtlichkeit der "Sexualitäten" im 21. Jahrhundert überhaupt zu? Siguschs Darstellung selbst legt eher die Vermutung nahe, dass die Tendenz zur Pluralisierung sexueller Praktiken und Beziehungsformen die Vergleichgültigung des Sexuellen spiegelt. Seine Aufzählung der "Paläo- und Neosexualitäten", der überholten und angeblich neuen Formen sexueller Interaktion, macht das deutlich.

In mehr als 60 Paragraphen erläutert er Termini wie "Zissexualität", "Objektophilie", "Shopsex", "E-Sex" und "Neozoophilie". "Zissexuelle" sind demnach Menschen, bei denen "Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität scheinbar neutral zusammenfallen", also heterosexuelle Männer und Frauen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht auch sozial identifizieren; "Objektophile" hegen fetischistisches Interesse an Gegenständen; "Neozoophile" wollen "sodomitische Lebenspartnerschaften" institutionalisieren lassen, verfolgen also im Gegensatz zu "Paläosodomiten" eine soziale Mission; "Shopsex" ist die "warenästhetische Indienstnahme des Erotischen", "E-Sex" die durch elektronische Medien vermittelte Sexualität. Außerdem kennt Sigusch "Asexualität", "Portalsex", "Polyamory", "Lean Sexuality", "Prothesensex" und viele weitere Erscheinungsformen von Sexualität. Simple Homosexualität gehört für ihn bereits zum erotischen Altertum.

Man muss die Herkunft von Sigusch aus dem Freudomarxismus in Betracht ziehen, um zu verstehen, warum er den Sexus als widersprüchliche Einheit nicht auf den Begriff bringen kann. Spiegelt sich in seinen die randständigsten Spezialitäten erfassenden Klassifikationen doch die totale Vergesellschaftung des Sexuellen, über die er selbst kein Wort mehr verliert. Erotisches Interesse an Tieren, Sadomasochismus und verwandte Phänomene mögen früher stärker als heute stigmatisiert worden sein - als Ausweis sozialer Identität wurden sie nicht in Dienst genommen. Heute aber gelten solche Neigungen nicht als abgründige oder verständliche, reizvolle oder obskure Facetten der privaten Person, sondern als essentieller Bestandteil der sozialen Identität und Gegenstand öffentlicher Erörterung.

Insofern ist der Zwang, für jede sexuelle Lust eigene Begriffe zu finden, identitärer als der Rekurs auf Sexualität als Allgemeinbegriff. Wie es um die Sexualität im Zeitalter des Multiple-Choice-Pluralismus steht, da die Menschen sie zunehmend als Resultat von Wahlentscheidungen wahrnehmen, darüber erfährt man bei Sigusch wenig. Zumindest drängt sich der Verdacht auf, dass die sich vervielfältigende und spezialisierende Rede über "Sexualitäten" ein beklommenes Schweigen über den Sexus übertönt.

MAGNUS KLAUE

Volkmar Sigusch: "Sexualitäten". Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten.

Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2013. 628 S., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Es lebe die individuelle Sexualität! Mit dem Autor, dem umtriebigen Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, freut sich Volker Breidecker nach fordernder Lektüre über dieses Fazit. Zuvor hat ihm der Autor markig und wissend die "Sache mit dem Sex", die Vielfalt der Sexualpraktiken im Neoliberalismus auseinandergesetzt, ihm von Fakesexerinnen, Objektsexuellen und Neozoophilen berichtet und auch von gewöhnlichen Normopathen. Das Wagnis, nach Freud noch einmal eine Sexualtheorie in Angriff zu nehmen, findet Breidecker mutig, zumal der Autor auch das Fantastische, Widerständige und Faule des Sexuellen inkludiert. Dass es dem Autor Ernst ist, erkennt der Rezensent spätestens bei dessen Verhandlung der Missbrauchsdiskurses.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2014

Wo die Triebe agieren
Nach den Erregungen: Der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch zieht Bilanz
Was ist los im Staate Sexyland? Nach den Herren- und Hinterzimmern der Nation sind jetzt auch die Freuden- und Laufhäuser ins Gerede gekommen. Neben der in Teilen der Gesellschaft lange Zeit verharmlosten, geduldeten oder sogar geförderten Pädophilie steht als nächstgelegener Schauplatz potenzieller sexueller Zwangs- und Gewaltverhältnisse das Prostitutionsgewerbe unter Verdacht. Und weil in dem von Volkmar Sigusch schon vor Jahren ausgerufenen postrevolutionären Zeitalter der „Neosexualitäten“ in puncto Liebe, Hiebe & Triebe buchstäblich „alles geht“ und selbst die bizarrsten sexuellen Wünsche in der marktgefälligen Warenform konkurrierender Dienstleistungen schrankenlos erfüllbar und universell verwertbar geworden sind, bleiben davon auch die mehr oder minder erregten Diskurse nicht unberührt: Sie sind selbst wohlfeil zu haben, und wie beinahe alles, was sich um die Sache mit dem Sex dreht, oszillieren sie in reziproker Abhängigkeit und aufdringlicher Permanenz zwischen der Skandalisierung des Sexus und seiner Banalisierung.
  Ein Beispiel dafür lieferte im vergangenen Jahr die taz : Auf dem einstweiligen Höhepunkt der Debatte um den vormals ziemlich unbekümmerten Umgang der linksalternativen Szene mit pädosexuellen Aktivisten in ihren Reihen machte das Blatt auf mit der Schlagzeile „Die Väter vom Bahnhof Zoo“. Unter extrafetten grünen Lettern wurde „Ein dunkles Kapitel der sexuellen Befreiung“ aufgerollt und auf drei weiteren Seiten ausgebreitet. Der publizistische Aufreißer galt einem verblichenen „Star der Sexualforschung“, dem Psychologen Helmut Kentler: In den sozialliberalen Siebzigern habe dieser im Rahmen eines vom damaligen Westberliner Senat geförderten Modellprojekts die Zusammenlegung auffällig gewordener Straßenkinder mit vorbestraften Pädosexuellen in Wohngemeinschaften betrieben.
  Der Enthüllungsgeschichte folgte indessen nur wenige Seiten weiter eine halbseitige Anzeige der Frankfurter Hurenvereinigung „Doña Carmen e.V.“. Neben der honorigen Forderung nach „Recht und Respekt für Sexarbeiter/innen“ wurde kategorisch auch „für den Erhalt der Vielfalt sexueller Dienstleistungen“ geworben. Willkommen ihr Väter aller zoologischen Gärten, wählt und bedient euch aus dem großen Warenhauskatalog der ausgefallensten Wünsche der dort zum Ausverkauf stehenden – oder auch fallenden – letzten Tabus!
  Vom Sex mit Kindern, mit Tieren und mit Leichen gehen Volkmar Siguschs Beobachtungen zufolge die stärksten Erregungspotenziale aus: „Wenn Embryonen und Jungfrauen auf dem Markt angeboten werden, wenn alles käuflich ist, warum nicht auch Kinderfleisch?“, fragt der renommierte Sexualforscher und praktizierende Sexualmediziner. Und was viele deutsche Biedermänner, Heteros wie Schwule, sich zu Hause oder auf der Straße nicht besorgen können, das holen sie sich – mit Flatrates oder mit Mengenrabatt – entweder als Surfer aus dem Netz oder als stinknormale Sextouristen in der Fremde.
  Man merkt schon hier wie auch in Siguschs früheren Büchern – rund vierzig an der Zahl neben unzähligen weiteren Veröffentlichungen –, da möchte einer, der über Sexualität und Geschlecht, über Liebe und Erotik redet und einst bei Horkheimer und Adorno in die Schule gegangen war, auch vom Kapitalismus nicht schweigen. Und auch nicht von den neuen neoliberalistisch organisierten Märkten, auf denen schlichtweg alles zu haben ist, wovon frühere, noch den „paläosexuellen“ Zeiten angehörende Geschlechter allenfalls oder nicht einmal zu träumen wagten.
  An Siguschs Seite besichtige man nur einmal die einschlägigen Internetportale oder blättere in den Registern: Da gibt es den BBL, den „Baby Boy Lover“, der sich zu Säuglingen hingezogen fühlt, die CBT genannte „Cock-and-Ball-Torture“, während unter den Kürzeln NK und NS auch die Liebhaber von „Naturkaviar“ und „Natursekt“ auf ihre Kosten kommen, was sich nach Gusto auf „Blood sports“ ausdehnen lässt, auf Praktiken, bei denen Blut fließt. Und neben harmlosen „Metrosexuellen“ und nicht immer so harmlosen „viagragestützten Erlebnissuchern“ verzeichnet Sigusch Legionen von „Fakesexerinnen“, „Objektsexuellen“, „Neozoophilen“ – in zunehmender Zahl auch von Asexuellen, denen womöglich die Zukunft gehört.
  Unter den bunten neosexuellen Völkerscharen verliert der Feldforscher freilich auch die gewöhnlichen „Normopathen“ nicht aus den Augen, nicht einmal „das historisch und sozial asymmetrische, kulturell dissoziierte, politisch verunsicherte, emotional misstrauische heterosexuelle Paar“ mit all seinen sexuellen Vorlieben und Macken, seinen emotionalen Blessuren und seelischen Frakturen. „Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben.“ Zu diesem trostlosen Befund über den „modernen Kulturmenschen“ kam vor hundert Jahren Sigmund Freud. Ein Jahrhundert danach wagt sein moderner Nachfolger, der Freuds Erkenntnisse wie seine Irrtümer durchgearbeitet hat, noch einmal den Entwurf einer umfassenden Sexualtheorie, wohl wissend, dass es „Sexualität“ nicht im Singular und auch nicht in bloßer Zweiteilung der Geschlechter gibt, sondern nur im Plural, in ebenso multiplen wie hybriden, allseits durchlässigen und fließenden Formen, Gestaltungen, Praktiken: Weil das Sexuelle für Sigusch also stets etwas „Zusammengesetztes“ ist, ein Kulturphänomen, das nicht in Biologie aufgeht, sondern in die unüberschaubaren Gefilde des Phantastischen und des Imaginären hineinreicht, bleibt es „anarchisch“, „widerständig“, wohltuend „chaotisch“; es entzieht sich jeder Systematisierung und gehört, ähnlich wie der menschliche Gang oder der Tanz, „zu dem, was Wissenschaften nicht erkennen können“.
  Das „Quere, Konträre, Verdrehte, Unerhörte, Abirrende, Überfließende, Faule“ an der Sexualität und dem Geschlecht liefert dem Sexualwissenschaftler das Salz in einer Suppe, für die es keine Kochbücher gibt. Indem die Theorie um ihre eigene Begrenztheit und die Schranken des wissenschaftlichen Zugriffs weiß, ist sie in Adornos Namen eine „kritische“, die ihre eigene Kritik mitdenkt. Für Sigusch heißt das – im Anschluss an Foucault – vor allem Diskurskritik als Bloßlegung sexualpolitischer Machtdispositive. Der Leser seiner polemischen Betrachtungen beispielsweise zum rezessiven Missbrauchsdiskurs sollte sich also nicht darüber täuschen, wie ernst der Autor die Sache selbst nimmt und welch deutliche Worte er dafür findet. Sigusch macht sich zum Anwalt der schutzlosen Kinder in einer kinderfeindlichen Gesellschaft, zum Fürsprecher der Erotik kindlicher Eigenwelten und einer infantilen Sexualität, die unvergleichbar und unvereinbar mit adulter Sexualität ist. Erst die Tabuisierung kindlicher Sexualität leistet dabei Missbrauch und sexueller Gewalt Vorschub.
  Wo Chaos herrscht, kann kein System sein, wo Triebe agieren, kann keine Vernunft walten. Indem sie sich vom Anspruch auf systemische Rationalität und von allen Theodizeen, Teleologien und Totalitäten befreit, bleiben angesichts der fragmentierten und dissoziierten menschlichen Sexualitäten solch kritischer Theorie nur Bruchstücke als Material: Ganze „99 Fragmente“ legt Sigusch als Summa und Bilanz seines Lebenswerks hier vor – nicht ganz uneitel und nicht, ohne spekulative Erwartungen auf ein den Kreis künftig beschließendes 100. Fragment zu nähren. Der in einen fortdauernd produktiven Unruhestand entlassene frühere Leiter des von der Medizinischen Fakultät seiner Universität vor Jahren unter unwürdigen Umständen abgewickelten, vormals weltweiten Ruf genießenden Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft schreibt – weil er die Darstellung schwierigster Zusammenhänge nicht scheut – und auch keinen Ritt über der Bodensee auslässt – nicht immer leicht und eingängig, aber fast durchweg auf eine beinahe markig-barocke, zuweilen bukolische Weise plastisch, anschaulich, würzig und selbst dann noch vergnüglich, wenn seine Lieblingssteckenpferde – der polemische und der wortspielerische Gaul – mit ihm zusammen durchgehen.
  So hybride wie sein Stoff kommt auch dieses Buch daher und darf daraus seine theoretische wie praktische Rechtfertigung beziehen, auch wenn ein strenges Lektorat, das über Längen, Wiederholungen und manche labyrinthischen Gedankengänge und Satzungeheuer gewacht und notfalls auch rücksichtslos gestrichen hätte, der Lesbarkeit zugutegekommen wäre. Trotz solcher Schwächen ist aus dem Werk des abgebrühten Klinikers das immer wieder wohltuende, ja sogar – mit einem seiner Lieblingsworte – „wohllustige“ Vertrauen auf eine Poetik des Sexuellen als dem Antipoden zur kalten Scientia sexualis herauszuhören: Das Poetische am Sexuellen – das ist das Unverhoffte, das Plötzliche und Überraschende im Tun und Treiben der Menschen. Im Vertrauen darauf setzt sich Sigusch die Verteidigung des erotischen Individuums und des liebenden Subjekts gegenüber allen Kategorialisierungen und Zwangsjacken – auch solchen der Geschlechtszuordnung – zum Ziel. Er erhebt Einspruch gegen den Optimierungswahn und die gebieterischen Operative einer Sexualchirurgie, Sexualpsychiatrie und Reproduktionsmedizin, die den „Vormarsch von Prothesen, Pumpen, Operationen und Injektionen in der Medizin und auf dem Sex-Markt“ mitverantworten. Eine Poetik des Sexuellen fände ihr naturgemäßes wie kulturelles Ziel hingegen in einer Ars erotica. Zwar wird Sigusch nicht müde, deren Fehlen im Westen zu beklagen, doch als Poetologe seiner eigenen Wissenschaft hat er die Suche danach noch längst nicht aufgegeben.
VOLKER BREIDECKER
Volkmar Sigusch: Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013. 626 Seiten, 39,90 Euro.
Sigusch vertraut auf das
Poetische am Sexuellen, das
Unerwartete, Überraschende
Hier wird Einspruch erhoben
gegen Optimierungswahn und
den Vormarsch der Prothesen
  
  
    
Volkmar Sigusch, Jahrgang 1940, gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin. Von ihm stammt der Begriff „neosexuelle Revolution“.
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