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Viele Menschen fürchten sich vor einer grenzenlosen medizinischen Behandlung am Ende ihres Lebens. Dabei wird übersehen:
Einschränkungen etwa lebenserhaltender Maßnahmen gehören längst zur Routine des ärztlichen Alltags. Doch wer soll entscheiden? Stephan Sahm beleuchtet Fragen der Sterbebegleitung, konfrontiert die rechtliche Sicht mit der modernen Medizinethik, zeigt Widersprüche in der Rechtsprechung auf und verbindet seine Analyse mit einer Kritik an der aktiven Sterbehilfe. Besonders das Instrument der Patientenverfügung unterzieht er dabei einer genaueren Betrachtung.

Produktbeschreibung
Viele Menschen fürchten sich vor einer grenzenlosen medizinischen Behandlung am Ende ihres Lebens. Dabei wird übersehen:

Einschränkungen etwa lebenserhaltender Maßnahmen gehören längst zur Routine des ärztlichen Alltags. Doch wer soll entscheiden? Stephan Sahm beleuchtet Fragen der Sterbebegleitung, konfrontiert die rechtliche Sicht mit der modernen Medizinethik, zeigt Widersprüche in der Rechtsprechung auf und verbindet seine Analyse mit einer Kritik an der aktiven Sterbehilfe. Besonders das Instrument der Patientenverfügung unterzieht er dabei einer genaueren Betrachtung.
Autorenporträt
Stephan Sahm, Dr. med., ist Chefarzt am Ketteler Krankenhaus in Offenbach und schreibt regelmäßig zu medizinethischen Themen in der FAZ.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2007

Erwünscht, aber nicht gewollt
Das Paradox der Patientenverfügung: Stephan Sahm entzaubert den Glauben ans Formular

Eigentlich sind es zwei Bücher, die der Offenbacher Mediziner Stephan Sahm in Form eines einzigen veröffentlicht hat: "Sterbebegleitung und Patientenverfügung". Und vielleicht sollte man mit der Lektüre im sechsten Kapitel beginnen, denn spannend ist vor allem die zweite Hälfte des Buchs. Der Krebsspezialist stellt hier die Ergebnisse einer empirischen Studie vor, die für Deutschland erstmals in differenzierter Form die Verbreitung und auch die Akzeptanz von Patientenverfügungen ermittelt. Mit jeweils einhundert befragten Tumorkranken, Ärzten, Pflegenden und Gesunden ist die Untersuchung zwar nicht repräsentativ, hat aber eine stabile Basis. Und sie ist geschickt angelegt: Sahm und sein Team haben nicht nur das Vorhandensein und die Einstellung zu Patientenverfügungen erfragt, sondern auch das im eigenen Fall Gewünschte und die generelle Einschätzung unterschieden sowie ihren Probanden exemplarische Grenzfälle, in denen Verfügungstext und Notlage gegeneinanderstanden, zur Entscheidung vorgelegt.

Die Ergebnisse der Studie sind eine kleine Sensation, denn sie widersprechen in vielem dem Bild, das die pauschalen Meinungsumfragen zeichnen, die es bisher nur gab. Sahms Zahlen belegen: Das Instrument der Patientenverfügung ist tatsächlich den meisten Patienten und fast allen Medizinern bekannt. Dennoch wollen keineswegs viele es nutzen. Dazu ist die Zahl derer, die angeben, sich die Entscheidung für eine Verfügung prinzipiell vorstellen zu können, noch einmal um ein Vielfaches größer als die Zahl derjenigen, die tatsächlich eine Verfügung unterschrieben haben. Sahm vermutet, in dieser vagen Bereitschaft der Befragten spiegele sich vor allem das Gefühl einer "sozialen Erwünschtheit" des Dokuments. Das Zögern, sich tatsächlich auf eine Verfügung festzulegen, ist eine Art Abstimmung mit den Füßen. Ein Nein - für das es Gründe gibt.

So ist in allen untersuchten Gruppen die Einschätzung vorhanden, eine Patientenverfügung habe im konkreten Fall womöglich negative Folgen. Ein knappes Drittel der Befragten hegt die Befürchtung, die ausgefüllten Formulare könnten "diktatorischem" Verhalten von Ärzten Vorschub leisten. Allen voran denken dies 33 Prozent der Mediziner selbst. Die Hälfte der Befragten befürchtet, Angehörige erhielten mit der Verfügung ein Druckmittel in die Hand. Auch hier sind es die situationserfahrenen Ärzte und Pflegenden, die den Angehörigen am stärksten misstrauen. Dazu passt, dass die befragten Angehörigen medizinischer Berufsgruppen im Schnitt nicht etwa häufiger, sondern seltener als andere Menschen eine Patientenverfügung unterschrieben haben. Sehr klar sprechen sich die Mehrzahl der Ärzte wie die Mehrzahl der Patienten denn auch deutlich gegen eine rechtliche Verbindlichkeit der Patientenverfügung am Krankenbett aus. Ebendiese Verbindlichkeit soll nun aber, wenn es nach einer mächtigen Strömung im Bundestag geht, die sich auf die Unterstützung des Nationalen Ethikrates berufen kann, Gesetz werden.

Sahm zieht die politischen Schlüsse, die seine Zahlen nahelegen. Ihm zufolge läuft das Instrument der Vorab-Verfügung in der Praxis schlicht leer. Offenbar gibt es eine "resistente" Mehrheit, die eine Patientenverfügung nicht auszufüllen gedenkt, die von der Medizin individuelles Abwägen fordert - und die es im Zweifel angemessen findet, das Dokument links liegen zu lassen. Wurden die Befragten mit konkreten Grenzfällen konfrontiert, plädierte eine Mehrheit durch alle Berufsgruppen hindurch für situationsangemessen "freies" Entscheiden. Und in dubio pro vita: für einen Vorrang des Behandelns vor dem Behandlungsabbruch.

Auf zwei Einsichten legt Sahm besonderen Wert. Zum einen zeige die Untersuchung erstmals, was lange vermutet wurde, aber noch nie belegt worden ist: dass nämlich die Bereitschaft eines Menschen, auch als schlimm empfundene Behandlungen in Kauf zu nehmen, mit einer schweren Erkrankung steigt. Es gebe eine "Änderung von Behandlungswünschen beziehungsweise der Akzeptanz von Belastungen durch Therapie, nachdem eine bedrohliche Krankheit diagnostiziert worden ist". Das heißt: Der in gesunden Tagen in einer Verfügung niedergelegte Behandlungsverzicht kann rasch veralten. Tritt der Krankheitsfall wirklich ein, so will man auch in hoffnungsarmer Lage doch noch Behandlung. Zum anderen hat Sahm nach den bevorzugten Entscheidungsbevollmächtigten für den Fall der eigenen Entscheidungsunfähigkeit gefragt. Der weitaus überwiegende Teil der Befragten forderte einen Dialog: Die engen Angehörigen sollten gemeinsam mit den Ärzten entscheiden. Sahm nimmt dies als empirischen Beleg dafür, dass gesetzlich eine sogenannte "natürliche Stellvertretung" festgeschrieben werden solle: Ist nichts anderes bestimmt, sollten eben doch die nächsten Angehörigen von Anfang an eine Stimme haben und nicht eine gerichtlich bestellte Person für den Kranken entscheiden. "Natürliche Stellvertretung" ist freilich ein verfänglicher Begriff. Er suggeriert, die sozial Nächststehenden seien die Blutsverwandten.

Die erste Hälfte des Buches entfaltet allgemeine Überlegungen zur Sterbebegleitung. Sahm spricht als Verfechter einer klaren standesethischen Ächtung von Sterbehilfe - der sogenannten "aktiven" Sterbehilfe, also der Tötung von Patienten, aber auch der Beteiligung von Ärzten am sogenannten "assistierten Suizid". Und Sahm will klare Grenzen. Der Kern seiner Argumentation ist jedoch typisch für die enge, berufsbezogene Medizinethik der verfassten Ärzteschaft und hinterlässt ebendarin ein zwiespältiges Bild: Um dem Schlimmsten vorzubeugen, wird das Tötungsproblem gewissermaßen aus dem Arztberuf herausdefiniert.

Wie fast alle Ethiker heute kritisiert Sahm zunächst die überkommene Unterscheidung von "aktiver" und "passiver" Sterbehilfe, denn Ärzte handeln immer - und auch eine Unterlassung ist eine Handlung. Um dann den ganz anderen Charakter des ärztlichen Tuns am Sterbebett begrifflich zu zementieren, macht sich Sahm die seit einigen Jahren geltende Sprachregelung der Bundesärztekammer zu eigen, in der Nähe des Todes fänden keine Tötungshandlungen, sondern lediglich "Änderungen des Behandlungszieles" statt. Solche Änderungen des Behandlungszieles können den Verzicht auf Antibiotika, aber auch - da Ernährung eine "Therapie" sei und einer Indikation bedürfe - das Einstellen der Ernährung oder der Flüssigkeitszufuhr umfassen. Dass eine solche "Zieländerung" tödliche Folgen haben mag, bestreitet Sahm nicht. Entscheidend sei aber die Absicht. Der Arzt, der so etwas tue, wolle ja nicht töten, er behandle nur. Medizinische Handlungen am Lebensende, wie etwa die Beendigung einer lebenserhaltenden Maßnahme, seien eben "von ihrem Ziel her zu bewerten". Und: "Die Herbeiführung des Todes ist kein Ziel der Medizin."

Diese Position enthält einen Zirkel. Das ärztliche Berufshandeln kann, einfach weil es ärztliches Handeln ist und daher per definitionem Therapieabsichten verfolgt, keine Tötung mehr sein. Die Denkfigur als solche ist erst wenige Jahre alt. Sie machte allerdings rasch Karriere. Mit der "Änderung des Therapiezieles" wiederholt Sahm eine standesrechtliche Zauberformel, die am 11. September 1998 im Zuge einer Reform der "Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung" das Licht der Welt erblickte. Strafrechtlich gesehen läuft die Priorität des Ziels auf ein Ausnahmerecht hinaus, das für Ärzte am Sterbebett den Tatbestand der Tötung faktisch abschafft. Denn die Frage, ob eine Handlung eine Tötung ist, reduziert sich - im Strafrecht ansonsten undenkbar - allein auf ein subjektives Kriterium: eben auf die "Absicht", die der Handelnde verfolgt.

Wie aber wäre einem Arzt, der tödlich behandelt, eine nichttherapeutische Absicht nachzuweisen? Auch den Kunstfehler gibt es, wo nur das Ziel zählt, am Sterbebett de facto nicht mehr. Ärzte finden diese Regelung plausibel. Und die Bindung an die "Absicht" hat sich offenbar bewährt. Auch der Nationale Ethikrat verwendet diese standesrechtliche Figur in seiner Stellungnahme "Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende" vom 13. Juli 2006 und baut das alleinige Gewicht der Handlungsziele (und nicht der Handlungskonsequenzen) für die "Therapien am Lebensende" sogar aus.

So bleibt das heikle Feld der Tötung von Kranken denen überlassen, welche gute Absichten beschwören, ohne überhaupt noch an den allgemeinen Schutz vor etwaigem Tun mit Tötungsvorsatz zu denken. Was Sahm bei der Patientenverfügung im Blick hat, streitet seine Medizinethik glatt ab: dass es gut ist, dass es auch gegenüber professionellem Handeln Misstrauen gibt. Will Medizinethik heute wirklich zum Tod behandeln, ohne überhaupt noch nach der Grenze zum Delikt gefragt zu werden? Wo die tödliche Gabe oder der Therapieabbruch gänzlich im Plastikwort von der "Änderung des Behandlungszieles" verschwinden, da werden Grenzen weggewischt, die auch das ärztliche Handeln kennen muss.

PETRA GEHRING

Stephan Sahm: "Sterbebegleitung und Patientenverfügung". Ärztliches Handeln an den Grenzen von Ethik und Recht. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2006. 265 S., br., 32,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sensationell findet Petra Gehring, was in diesem Buch steckt. Erstaunliches entdeckt sie allerdings vor allem im zweiten, die Ergebnisse einer empirischen Studie zum Instrument der Patientenverfügung darlegenden Teil des Buches von Stephan Sahm, während der erste, sich allgemein mit dem Thema Sterbehilfe auseinandersetzende Teil der Rezensentin Kopfschmerzen bereitet. Die hier vom Autor vertretene medizinethische Position steht für sie im Widerspruch zu den im ersten Teil formulierten Zielen eines "in dubio pro vita" bei der Patientenverfügung. Dem in "differenziert" dargestellten, doch "nicht repräsentativen" Meinungsumfragen ermittelten Wunsch des Patienten nach Behandlung werde durch die Trennung des "Tötungsproblems" vom Berufsethos des Arztes quasi der Boden entzogen.

© Perlentaucher Medien GmbH
Erwünscht, aber nicht gewollt
"Die Ergebnisse der Studie sind eine kleine Sensation." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.03.2007)