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38.196 Mal hat Janina Turek in 57 Jahren das Telefon abgehoben, 1922 Mal hat sie sich mit jemandem verabredet: Janina Turek hat alles, buchstäblich alles in ihrem Leben notiert. Limalo besitzt in einem Vorort von Warschau eine Villa und macht Geschäfte; plötzlich bricht er auf, um in Transsilvanien nach seinen Vorfahren zu suchen. Am 9. März 1995 übergießt sich Zbigniew K. in Manhattan mit Benzin und verbrennt. Drei markante Schicksale, drei Beispiele für die literarische Gattung der Reportage, wie sie es bei uns fast nicht mehr gibt, in Polen aber hohe Tradition hat. Martin Pollack hat in…mehr

Produktbeschreibung
38.196 Mal hat Janina Turek in 57 Jahren das Telefon abgehoben, 1922 Mal hat sie sich mit jemandem verabredet: Janina Turek hat alles, buchstäblich alles in ihrem Leben notiert. Limalo besitzt in einem Vorort von Warschau eine Villa und macht Geschäfte; plötzlich bricht er auf, um in Transsilvanien nach seinen Vorfahren zu suchen. Am 9. März 1995 übergießt sich Zbigniew K. in Manhattan mit Benzin und verbrennt. Drei markante Schicksale, drei Beispiele für die literarische Gattung der Reportage, wie sie es bei uns fast nicht mehr gibt, in Polen aber hohe Tradition hat.
Martin Pollack hat in diesem Band eine Auswahl der besten polnischen Reportagen aus mehr als einem Jahrzehnt getroffen.
Autorenporträt
Martin Pollack, geboren 1944 in Bad Hall, Oberösterreich, studierte Slawistik und osteuropäische Geschichte. Bis 1998 Korrespondent des Spiegel in Wien und Warschau. Übersetzer u. a. von Ryszard Kapuscinski. Preise u. a.: Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (2011), Johann-Heinrich-Merck-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik (beide 2018). Bei Zsolnay sind u.a. erschienen: Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann (2002), Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater (2004), Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien (2010) und zuletzt Die Frau ohne Grab. Bericht über meine Tante (2019).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2006

Das ist wie Frakturlesen
Zivilisation ohne Imperium: Zwei Bände über Sarmatien

Das Rechtschreibprogramm des Computers ist ein untrügliches Indiz für Randständigkeiten. "Sarmatien" existiert darin nicht. Kaum ein Atlas verzeichnet die Landschaft - die sarmatische Ebene, jenes flache, schier endlose Land zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, Weichsel und Wolga, das der Dnjepr noch einmal in eine östliche und eine westliche Hälfte zerschneidet; ein Kontinent, dessen Name in den Stürmen des vergangenen Jahrhunderts untergegangen ist, wie so viele andere: Galizien, Bessarabien, Transsilvanien. Mit in die Tiefe gerissen wurden die Namen von Völkern und Sprachen, Städten und Zivilisationen. An ihre Stelle traten Blöcke, Ideologien, Grenzen.

Das vermeintliche Ende der Geschichte führte zur Renaissance des Raumes als poetisches, als kulturelles und schließlich auch als politisches Konzept. Die versunkenen Schiffe wurden gehoben, die kryptischen Zeichen auf den geborgenen Schätzen erzählen plötzlich eine ganz andere Geschichte als jene, die man, in Ost und West, aus mageren Schulbuchkapiteln über die jeweils andere Welt, den anderen Teil des Kontinents, kannte.

Martin Pollack, der Übersetzer und langjährige "Spiegel"-Korrespondent in Polen, sucht in zwei von ihm herausgegebenen Bänden den Raum zwischen Weichsel und Dnjepr neu zu erkunden, ihn gewissermaßen zu lesen. Doch als glaubte der Herausgeber der Wiedergeburt des geographischen Raumes noch nicht ganz, versieht er den Band "Sarmatische Landschaften" mit einem Untertitel - "Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland". Die Texte sind Imaginationen des Raumes, meditative Zustandsbeschreibungen und Reiseberichte, historische Essays und zeitkritische Aufsätze, Erzählungen und Reportagen von fünfundzwanzig Autoren, die alle nach dem Krieg geboren wurden und unter den kollektiven Gedächtniserosionen des Kalten Krieges zu leiden hatten.

Es erstaunt, daß die Erosion im Westen größer zu sein schien als im Osten und daß der Osten für den Westen vielleicht auch deshalb allenfalls eine melancholische Erinnerungslandschaft blieb, aus der heraus instabile poetische Konstruktionen erwachsen. Der Osten ist die Wiederentdeckung einer alten Frakturschrift, eine Erweiterung des touristischen Terrains, eben doch eine Terra incognita. Für Marcel Baier waren Oder und Neiße keine Flüsse, sondern "bloße Wörter, die verbissene alte Männer traurig vor sich hin murmeln"; Kathrin Schmidt sucht Sarmatien in Johannes Bobrowskis Gedicht "Gestorbene Sprache"; Julia Franck schockiert mit einer Erzählung über Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten in Stettin nach Kriegsende; und Reinhard Jirgl müht sich an der Morphologie des Heimatbegriffs ab.

Für die Nachfahren der Völker Sarmatiens, die in dieser neuen Mitte Europas leben, ist die Neuorientierung im Raum etwas anderes - sie ist Zukunftsvision. Die polnisch-litauisch-ruthenische Adelsrepublik, die erste Rzeczpospolita, so interpretiert das der Ukrainer Jurko Prochasko, lebe im verborgenen von Vilnius bis Lemberg weiter, der trotzige Widerstand einer Macht, die von anderen Imperien verschluckt wurde. Im Widerstand ist man geübt. Fraglich bleibt für Prochasko, ob es ein Imperium ohne Zivilisation geben kann. Umgekehrt, so der junge Autor aus Iwano-Frankiwsk, könne eine Zivilisation sehr gut ohne Imperium auskommen. Es ist die Zugehörigkeit zu einer Kultur, deren geographische Ausdehnung von Paris bis Lemberg Juri Andruchowytsch untrüglich in Dierckes Atlaskarte zu Mitteleuropa ausmacht, die hier eingefordert wird.

Die Heterogenität des Bandes, der vielstimmige, zuweilen atonale Chor ergeben am Ende ein eher vages, unscharfes Bild eines Raumes, dessen Bewohner im Begriff sind, sich neu zu erfinden. Daß allein die Zigeuner, jene größte ethnische Minderheit im neuen Europa, nicht an der Obsession der Herkunft leiden, wie Andrzej Stasiuk in den "Sarmatischen Landschaften" schreibt, scheint in dem ebenfalls von Pollack herausgegebenen Band mit polnischen Reportagen aus den vergangenen zehn Jahren widerlegt. Hier macht sich ein Zigeuner, der es in seiner polnischen Heimat zu etwas gebracht hat, in die Transsilvanische Hochebene auf, um nach seinen Wurzeln zu graben. Lange dauerte es nicht, bis der Mann aus dem Stamme der Kelderasch, die einst als Kesselschmiede über Land zogen, zum guten Geist der armen und zum Erzfeind der reichen rumänischen Zigeuner avancierte.

Stets geht es um Zugehörigkeit, Identität, ein Aufräumen in den Kellern der Geschichte, um Narben, die noch lange nicht verheilt sind. Unter den Argusaugen des weißrussischen Geheimdienstes kämpft in Minsk eine Gruppe ebenso wissensdurstiger wie trotziger Schüler und Lehrer dafür, in ihrer Muttersprache zu lernen und zu lehren. Im moskautreuen Weißrußland und erst recht unter dem russophilen Diktator Lukaschenka stieg Weißrussisch in die traurige Liste der bedrohten Sprachen der Welt auf. In Polen wehren sich zwei kleine Gemeinden gegen das Erbe, Geburts- und Lebensort des späteren Literaturnobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer zu sein, eines Juden, der jiddisch schrieb und der ein Unbekannter, Ungeliebter in seiner Heimat blieb. Bei zwanzig Grad unter Null reist eine Amerikanerin ukrainischer Herkunft in ein ostpolnisches Dorf, wo vor einem halben Jahrhundert ihr Mann ums Leben kam und wo er bis heute ohne Grab unter der Erde liegt, weil einem Angehörigen der ukrainischen Aufständischen Armee, jener "Mordbrenner", denen die Kollaboration mit den Deutschen vorgeworfen wird, bis heute keine Ruhestätte genehmigt werden soll. Die Toten von Lódz mußten sich Anfang der neunziger Jahre um ihre letzte Reise nicht sorgen - ein Verdrängungskampf auf dem neuen Markt des bis dahin planökonomisch organisierten Bestattungswesens ließ Ärzte und Leichenbestatter zu "Hautjägern" werden, die das Fell unter sich aufteilten, noch ehe die Körper kalt geworden waren. In Rußlands fernem Osten spürt ein Warschauer Journalist die letzten jener polnischen Juden auf, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufbrachen, um im unwirtlichen Klima von Birobidschan, der autonomen jüdischen Republik in Stalins bizarrem Nationalitätenreich, einen kommunistischen und zionistischen Traum zu verwirklichen. Wer nicht Stalins Säuberungen zum Opfer fiel, nicht im Krieg umkam oder in den vergangenen Jahren nach Israel emigrierte, lebt heute mehr schlecht als recht in den Resten dessen, was einst die Kolchose "Lenins Testament" war. Und in Augustów, im Nordosten Polens, treffen die Opfer eines anderen Traums ein - in Metallsärgen oder Rollstühlen. Es sind jene, die dem Überlebenskampf als Schwarzarbeiter auf den Baustellen amerikanischer Großstädte nicht standhielten, die ohne Visum und Krankenversicherung auf den Straßen New Yorks und Chicagos landeten, wo sie, von Einsamkeit zerfressen, der Schmach des Versagens durch Selbstmord zu entfliehen suchten. "Verloren in Amerika" nannte Singer seinen autobiographischen Roman - heute, so eine Rückkehrerin, sei Amerika immer noch ein fremder Planet. Ein kleiner grauer Pole sei dort taub, stumm und blind.

SABINE BERKING

"Sarmatische Landschaften". Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland. Hrsg. von Martin Pollack. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2006. 361 S., geb., 28,- [Euro].

"Von Minsk nach Manhattan". Polnische Reportagen. Hrsg. von Martin Pollack. Aus dem Polnischen von Joanna Manc, Martin Pollack und Renate Schmidgall. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006. 270 S., geb., 21,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Sabine Berking von diesem Band mit polnischen Reportagen aus den letzten zehn Jahren, die Martin Pollack herausgegeben hat. Die Themen Zugehörigkeit und Identität spielen in den Reportagen ihres Erachtens eine Hauptrolle. Oft gehe es auch um ein "Aufräumen in den Kellern der Geschichte" und um alte, immer noch offene Wunden. Ausführlich berichtet sie über die Geschichten, der sich die Reportagen angenommen haben. So schildert sie den Fall zweier kleiner polnischer Gemeinden, die sich gegen das Erbe wehren, Geburts- und Lebensort des jüdischen Schriftstellers und späteren Literaturnobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer zu sein. Berührt hat sie auch die Geschichte über eine Amerikanerin ukrainischer Herkunft, die sich in ein ostpolnisches Dorf aufmacht, wo vor einem halben Jahrhundert ihr Mann ums Leben kam, und wo er bis heute ohne Grab unter der Erde liegt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Der Bericht über die polnische Hausfrau, die zwanghaft alles notierte, ist nur das eindrücklichste Beispiel aus dem exzellenten Sammelband..." Wolfgang Paterno, Profil, 10.04.06

"Elf bewunderungswürdige, ebenso präzise wie poetisch geschriebene Exempel." Uwe Wittstock, Die Welt, 07.10.06