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Fritz J. Raddatz zählt zu den großen Feuilletonisten und Literaturkritikern unserer Zeit. Fast 50 Jahre lang hat er in unterschiedlicher Funktion dem deutschen Literaturbetrieb wichtige Impulse gegeben, hat heftige Debatten ausgelöst, Maßstäbe gesetzt. Nun legt er seine Memoiren vor. Der Rückblick auf sein bewegtes Leben ist zugleich ein kulturhistorisches Panorama der vergangenen Jahrzehnte.

Produktbeschreibung
Fritz J. Raddatz zählt zu den großen Feuilletonisten und Literaturkritikern unserer Zeit. Fast 50 Jahre lang hat er in unterschiedlicher Funktion dem deutschen Literaturbetrieb wichtige Impulse gegeben, hat heftige Debatten ausgelöst, Maßstäbe gesetzt. Nun legt er seine Memoiren vor. Der Rückblick auf sein bewegtes Leben ist zugleich ein kulturhistorisches Panorama der vergangenen Jahrzehnte.
Autorenporträt
Fritz J. Raddatz, geb. 1931 in Berlin, gestorben 2015. 1960-69 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags, 1977-85 Feuilletonchef der Zeit, von 1969- 2011 Vorsitzender der Kurt-Tucholsky- Stiftung. 2010 wurde er mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik geehrt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.10.2003

Wild, unsentimental und selbstverliebt
Auf mich hat sich nie etwas gereimt: Fritz J. Raddatz’ Autobiographie „Unruhestifter”
Betroffen von Salvador Dalis spanisch-stolzer, perversions-satter Autobiographie notierte George Orwell einige kluge, zeitlos richtige Überlegungen in seinem meisterhaften Dali-Essay „Zu Nutz und Frommen der Geistlichkeit”. Über literarische Selbstdarstellungen hält Orwell dort fest: „Autobiographien sind nur glaubwürdig, wenn sie etwas Unschönes zugeben. Jemand, der über sein Leben nur Gutes zu sagen weiß, lügt in den meisten Fällen, weil jedes Leben von innen her gesehen nichts weiter als eine Kette von Niederlagen ist.”
Fritz J. Raddatz gab seinen fabelhaft fesselnd geschriebenen, durchaus finster-faszinierenden „Erinnerungen” den Titel „Unruhestifter” – ohne weiteres in Kauf nehmend, dass eine solche Selbstcharakteristik affektiert wichtigtuerisch wirken könnte, auch wenn sie zuträfe. Doch auf Bescheidenheit kam es Raddatz beim autobiographischen Fazit-Ziehen überhaupt nicht an. Er schont nichts und niemanden, am wenigsten sich selber. Er hat keineswegs nur Literarisches zu erörtern, Branchen-Klatsch. Bei Raddatz geht es elementarer zu, schriller, blutiger: „Meine Kindheit war schauerlich.” Die Mutter, Pariserin, starb gleichsam an ihm. Der Vater hingegen, ehemaliger Berufsoffizier, später mächtiger Ufa-Direktor, muss, wie man ihn hier kennen lernt, ein bürgerlich-preußisches Monster gewesen sein.
Was Raddatz schildert, was man als (trotz aller Nazi- und Kriegsgräuel, doch weit behüteter aufgewachsener) Generations-Genosse für unmöglich gehalten hätte, woran keine George Gross-Karikatur und kein Heinrich Mann-Hass heranreichen – dieser scheinbar absolut korrekte – „zuverlässig, tapfer, geradlinig und pünktlich” – Offizier hat seinen Sohn zum Hassenden gemacht! Zum Verächtlicher jener preußisch-großbürgerlichen Kulturfassade, die der Vater in sadistischer Weise repräsentierte, indem er den Sohn barbarisch prügelte – „beim geringsten Vergehen . . . dass Lux, der Schäferhund, sich wimmernd in seine Hütte verzog; nicht selten leckte er mich, wenn ich mit blutigen Striemen zu ihm kroch”.
Strenge, preußisch-wilhelminische „Moral” hinderte besagten ( stets untadelig gekleideten) Vater wiederum keineswegs, den zappelnden Sohn zum Beischlaf mit seiner zweiten, hemmungslos frivolen Ehefrau erfolgreich zu animieren. Gleichwohl: dieser neuen Mutti gegenüber reagierten Fritz und seine Schwester „Schnecke” unbeirrbar unerbittlich.
Auf solche Weise bildete sich in Raddatz ein unaustilgbarer, schonungsloser Abscheu. Er hasste wirklich alle Beschönigungen jener toleranten späteren Bildungsbürger, die Adenauers Nazi-nahen Staatssekretär Globke nicht so schlimm fanden, die Furtwänglers Dirigieren in Hitler-Deutschland etwas abgewannen, oder gar Marion Gräfin Dönhoff mochten, von der Raddatz – er hat als Zeit-Feuilletonchef 1977 bis 1985 unter ihr gearbeitet – hauptsächlich zu sagen hat, dass sie wirklich nie eine „Widerstandskämpferin” war. Und dass sie nicht schreiben konnte. Ein gewiss einseitiges Urteil. Freilich blaffte – in der Redaktion sprach es sich rasch herum – einst der damalige Zeit-Chef Josef Müller-Marein die Gräfin auch an, „Du kannst nicht schreiben”, worauf sie kühl zurückgab: „Und du kannst nicht denken!” Nur: Dass dieser Müller-Marein tatsächlich in der uns allen so liberal erscheinenden Zeit damals, 1949, als Thomas Mann im BRD-Frankfurt wie im DDR-Weimar als Goethe-Repräsentant auftrat, eben doch schrieb: „Ein Amerikaner erhält den doppelten deutschen Goethe-Preis”: Solche Abscheulichkeiten reibt Raddatz hier seinen Zeit–Genossen unter die Nase.
Weltläufige Schnecke
Woher die anti-bürgerliche Wut im Kritiker und Literaten Raddatz stammte, daran lassen seine Erinnerungen keinerlei Zweifel. Aufregend bei alledem aber ist der kühle, selbstmitleidlose Ton, in welchem schlimme Schicksalsfügungen vorgetragen werden. Oder die vom Beginn-Enthusiasmus bis zum spektakulären Bruch sich ausweitenden menschlichen und beruflichen Konflikte seiner Karriere . . .
Sogar wenn ihm, seiner Meinung nach, grelles Unrecht geschieht – hütet er sich vor Selbstmitleid. Während der funkelndsten Augenblicke dieses Ego-Berichtes spürt man, dass sein Stil manchmal an den wilden und genialen Franzosen Louis Ferdinand Celine erinnert.
In diesem, seinem besten Buch, wird Raddatz erkennbar als der Typus des französischen Literaten. Auch die eklatante, manchmal kokett affektierte Selbst-Verliebtheit wirkt sozusagen französisch – „Auf mich hat sich nie etwas gereimt”. Man darf übrigens die Raddatzsche Unsentimentalität keineswegs als kess „berlinerisch” oder norddeutsch-nüchtern zu erklären suchen – wie wenn es nicht gerade einen sehr nordlichternden Hang zur tränenschweren Empfindsamkeit gäbe.
Raddatz hat sein Erinnerungsbuch geschickt aufgebaut. Es besteht im Wesentlichen aus Charakterisierung jener Menschen, die für sein Leben wichtig waren. Eine so vollkommen a-moralische, faszinierende Gestalt wie die Schwester, mit der er sich – sie froren, wärmten sich aneinander, hungerten und stahlen – gegen die in Flammen aufgehende väterliche Welt verbündete, ist mir weder im Leben noch auf Buchseiten kaum je so eindrucksvoll begegnet. Diese später ungemein weltläufige „Schnecke” endete aber nicht, wie noch die Stiefmutter es ärgerlich wollte, im Bordell. Sondern sie verkam, von Liebhabern umflattert, nobel-„vulgär”. Schließlich: „Schlaganfall. In Bangkok”. Und: „Während ich dies schreibe, Winter 2002, liegt sie das zweite Jahr im Wachkoma . . .”
In chronologischer Folge je nach dem Moment ihres ersten Auftretens, begegnen wir nun mannigfachen Porträts. Etwa jenem zwischen Lauterkeit und Lotterhaftigkeit „schwankenden evangelischen DDR-Pfaffen”, der dem jungen Fritz die Weihen der Homosexualität, aber auch Respekt vor tapferem gläubigem Anstand beibrachte. Wolfgang Harich, einst so berühmt, tritt als opportunistischer „Verräter” auf. Wir erfahren Gutes und viel Boshaftes über Kindler, über Kuby – Ausführlicheres, Hochamüsantes über Ledig-Rowohlt, der an Raddatz geglaubt hatte, sowie über die Kollegen der Zeit-Redaktion, an die Raddatz zunächst geglaubt hatte. Es ist unmöglich – „Auftritt die Mondäne” – Gabriele Henkel nicht wiederzuerkennen, Hans Mayer noch ganz ernst zu nehmen. Augstein spielt eine eher klägliche Rolle. Dafür schneiden Günter Grass, der kluge und herzliche Maler Wunderlich oder Inge Feltrinelli entschieden besser ab.
Viele „Opfer” dürfen und werden tief gekränkt sein. Nur sollten sie mitbedenken, dass Raddatz ungerührt auch schlimmste Dinge, die gegen ihn öffentlich verhandelt wurden, mitteilt. Was Uwe Johnson (und da war Johnson, im Hinblick auf die zur Diskussion stehende Indiskretion, wohl doch sachlich im Unrecht) an Raddatz schrieb, unterschlägt der Memoiren-Autor keineswegs: „Sie lohnen uns schlecht, dass wir zu Ihnen standen zu einer Zeit, da ihre Reputation noch mehr umstritten war. Sie danken uns mit Infamie für unsere Gastfreundschaft . . . unsere Nachsicht gegenüber Ihrem Personalstil, den wir wieder und wieder verteidigt haben gegen Leute, die er verletzt. Für ihr Verhalten gibt es nur einen Namen: Illoyalität, westdeutsche Spielart.”
Aristokratisch-hochgemut
Ein Revoluzzer, der gern Porsche fährt. So werden manche braven Zünftler, die den passionierten Literaten Raddatz nie in ihre Akademien aufnähmen, denken. Andererseits, die Verachtungs-Ausdrücke, mit denen Raddatz unablässig die „flotten Spiegel-Bubis” bedenkt, die „denuntiatorische Spiegel-Masche” („kaum eine Meldung, die je über mich im Spiegel stand, stimmte”) ja überhaupt die Dummheiten dieses „Packs” – derart hochfahrende Zurückweisungen gehören ihrerseits offensichtlich durchaus in ein typisch aristokratisch-hochgemutes NegativVokabular! Wer weiß, ob nicht Raddatz’ Vater, der hohe Wilhelminische Offizier, in genau solcher Weise über blöde Zeitungsfritzen befunden hat . . .
Fritz J. Raddatz erfreut sich eines fabelhaften Gedächtnisses für charakteristische Einzelheiten, für Sätze, Farben und Valeurs. Gelegentlich überkommt ihn die Lust am sich überschlagenden Polemisieren, am affektierten Hohn, an der Antithetik. Nun ist eine Biographie ihrem Wesen nach keine unanfechtbar wahre, sondern immer nur eine authentische Quelle. Zieht unser Autor oft seine Tagebuch-Notizen ausführlich zu Rate, als wären sie Dokumente – dann können natürlich jene einstigen, parteiischen Tagebuch-Aufzeichnungen, die der Autor überdies kaum aus einer späteren Perspektive kommentiert, auch nur als Momentaufnahmen gelten. Als Fragmente eines deutschen Intellektuellen-Lebens, das hier zum Biographie- und Buchereignis von Rang geworden ist.
JOACHIM KAISER
FRITZ J. RADDATZ: Unruhestifter. Erinnerungen. Propyläen Verlag, Berlin 2003. 494 Seiten, 24 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Völlig aus dem Reim gegangen
Ein Mensch in seiner ganzen Kulturwahrheit: Die Erinnerungen von Fritz J. Raddatz stolzieren in den Fußstapfen Rousseaus / Von Heinz Ludwig Arnold

Wer ihn kennt, hat es sich ja denken können: Wenn der Publizist und Schriftsteller Fritz J. Raddatz einmal seine Memoiren schriebe, würden in den Feuilletons die Fetzen fliegen. Und so ist es denn auch gekommen. Noch bevor das Buch der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, stand in der "Zeit", deren Feuilletonchef Raddatz von 1977 bis 1985 gewesen ist, eine herbe Zurechtweisung von Theo Sommer, der ihm vorwarf, die Beschimpfungen seiner früheren Mitstreiter gerieten zur "unfreiwilligen Selbstbespiegelung".

Unfreiwillig nun gerade nicht. Das alles hat der "Unruhestifter" - so der Titel seines Buchs - schon sehr bewußt, wenn auch sehr rücksichtslos und rückhaltlos, aufgeschrieben; denn Raddatz setzt ein mit einem Motto aus Jean-Jacques Rousseaus "Bekenntnissen": "Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Ich allein." Rousseaus rückhaltlos ehrliche Bekenntnisse und Selbstanalysen sollten der Welt den Menschen als für alle anderen erkenntnisfähiges Grundmuster vorführen - und gerieten dann doch zur baren Selbstdarstellung, einer Mischung aus Klage und Anklage, hergestellt aus verzeichneter Wirklichkeit und ungerechten Urteilen. Rousseau stellte sich dar als das mißgeleitete Produkt einer schlechten Welt.

Fritz J. Raddatz' Erinnerungen beginnen, was die eigene Rolle im Weltganzen betrifft, relativ zurückhaltend, auch wenn er gleich auf der zweiten Seite anmerkt: "Auf mich hat sich nie etwas gereimt. Die deutsche Sprache kennt keinen Reim auf Mensch." Aber auf viele andere macht er sich seine Reime, auf Siegfried Lenz, Helmut Schmidt und Günter Grass, Rolf Hochhuth, Hans Mayer und Willy Brandt, Erich Kästner, George Tabori und Hans Magnus Enzensberger, auf García Márquez, Henry Miller und die Knef, Rudolf Augstein, Ernst Rowohlt und Walter Höllerer, Hrdlicka und Paul Wunderlich, Wapnewski und Joachim Kaiser, Inge Feltrinelli, Updike, Ledig-Rowohlt, Kempowski, Johnson, Baumgart - sie alle und noch viel mehr spielen in diesen Erinnerungen ihre Rollen, und in ihnen spiegelt er sich. Und damit wir auch sehen können, in welch illustren Kreisen er sich sein Leben lang bewegt hat, finden wir sie alle, jeweils abgebildet mit Raddatz, vorn und hinten in den Klappen des Buchs.

Diese Erinnerungen beginnen einigermaßen moderat, zeichnen bei aller Subjektivität eine objektiv erkennbare Realität: Sie entwerfen ein farbiges Panorama von der sich entwurzelnden Kriegs- und einer turbulenten Nachkriegszeit (man erkennt manche gewagten Bilder wieder aus Raddatz' Erzählung "Kuhauge") und erzählen interessant auch die Erfahrungen in den zehn Jahren von 1948 bis 1958 in der DDR, die Raddatz ab 1953 als stellvertretender Cheflektor des Verlags Volk und Welt gemacht hat, samt allen Kämpfen und Intrigen - bis hin zum Verrat des Wolfgang Harich an dem auch in der DDR unbequemen Unruhestifter Raddatz, der 1957 in sein Tagebuch schrieb: "Alles, was mit Kunst oder Literatur zu tun hat, ist in einem Chaos der Unkultur untergegangen. (...) Ich sprach gegen eine Wand - hinter der das Magnetophon stand. Immerhin hat man sich genauso scharf, wie ich es war, entblößen müssen: Wir wollen nicht Qualität, wir wollen Parteilichkeit."

Ein Jahr später, im November 1958, geht Raddatz, nachdem sich der Staatssicherheitsdienst unmißverständlich bei ihm angesagt hatte, nach West-Berlin; und schreibt, frei nach Hölderlin: "So kam ich unter die (West-)Deutschen. Es war eine hochsonderbare Landung im Wirtschaftswunderland. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt. Ich besaß einen Anzug, ein Paar Schuhe, einen Wintermantel mit breitem Gürtel und großer Hornschnalle, zwei Hemden und dreihundert Westmark. Einen Beruf hatte ich, eine Aussicht, ihn auszuüben, besaß ich nicht." Das änderte sich bald. Schon Anfang 1959 wird Raddatz Cheflektor des Kindler-Verlags; ein Jahr später will Rudolf Augstein ihn zum Cheffeuilletonisten einer neuen Tageszeitung machen (die nie erschienen ist), doch Raddatz gibt ihm einen Korb und schreibt doch Kindler die Kündigung - und wird unter Heinrich Maria Ledig-Rowohlt stellvertretender Rowohlt-Chef. Fast zehn Jahre lang gibt er diesem damals wichtigsten westdeutschen Verlag ein profundes literarisches und politisches Profil - bis 1969, da verläßt er Rowohlt, weil der Verlag sich ohne sein Wissen auf eine windige Propagandaaktion in der DDR eingelassen hat.

Ein Jahr lang leitet er danach ein von Augstein finanziertes "Spiegel-Institut für Projektstudien", habilitiert sich bei dem inzwischen aus der DDR übergesiedelten Hans Mayer in Hannover, schreibt unter anderem eine Marx-Biographie und wird 1977 Feuilletonchef der "Zeit" - die ihn 1985 entläßt: angeblich, weil er in einem hastig geforderten Leitartikel zur Buchmesse einer Glosse der "Neuen Zürcher Zeitung" aufgesessen war und ein falsches Goethe-Zitat, in dem ein paar Jahre zu früh von einem Frankfurter Bahnhof die Rede war, für bare Münze genommen hatte; tatsächlich wohl, weil der arrogante linke Dandy, ihr wohl interessantester, aber auch anstrengendster Feuilletonchef, von Anfang an nicht ins großbürgerliche Weltbild der "Zeit"-Herren und -Damen von Bucerius bis zur Gräfin Dönhoff paßte - das war wie Feuer und Wasser, auch wenn Raddatz sich selbst darin als Champagner empfand. Immerhin blieb Raddatz der Wochenzeitung bis Ende 2001 als korrespondierender Autor erhalten - schrieb große Reportagen und Porträts und vier Romane, die, wie er betont, zwar in Paris und anderswo Furore machten, in Deutschland aber im besten Falle auf wohlwollende Distanz stießen.

Immerhin, das ist keine unbedeutende Karriere für einen Literaten, der bei allen Abhängigkeiten sich doch stets eine große persönliche Unabhängigkeit bewahrt zu haben schien. Und daß einer wie Raddatz im juste milieu dieser Republik ganz besonders wie ein eitler Pfau wirken muß, das sei geschenkt. Den gibt er ja gern, häufig und ausführlich. Und so hätte man sich von ihm durchaus jenes Erinnerungsbuch vorstellen können, das die Republik, deren beide alten Teile er ja genügend kennengelernt hat, mitten ins Herz zu treffen vermochte: eine komplexe Geistesgeschichte (die er ja begleitet und mitgestaltet hat), durchaus gegen den Strich gebürstete, auch widerspruchsvolle Porträts wichtiger Literaten und Künstler, Verleger und Journalisten, mit denen er umgegangen ist; ja durchaus auch ein bißchen Klatsch und Tratsch, eine gern mitgehörte Hintergrundmusik des intellektuellen Betriebs und willkommenes Schmiermittel jeder Autobiographie.

Aber aus der Hintergrundmusik wird in diesem Buch leider meist grellstes Gelärme. Die Porträts geraten oft zu peinlichen Abrechnungen. Und der einzige Komplex, der sich dem Leser dieser Erinnerungen aufdrängt, ist der zu monströser Selbstüberhebung aufgeblasene Minderwertigkeitskomplex ihres Verfassers. Eine seiner erklärtermaßen großen Freundschaften schloß Raddatz mit Mary Tucholsky. Mit ihr korrespondierte er schon aus der DDR, als er sich dort für eine Tucholsky-Ausgabe einsetzte; sie nimmt ihn auf, als er aus der DDR kommt; er versorgt später Tucholsky bei Rowohlt und betreut sein Leben lang das Tucholsky-Archiv. Mary liefert ihm das Motto seines Lebens: "Bleiben Sie unabhängig, und erwarten Sie nie etwas von Ihren Freunden."

Woran er sich aber nur selten wirklich gehalten hat. Auch mit Mary, die er seine Königin - "Ma Reine" - und die ihn "mein Fürst" zu nennen beliebt, kommt es schließlich immer öfter zum Streit, und sehr aufgeregt und entschieden rebelliert Raddatz, als La Reine Kurt Tucholskys persönliches "Sudelbuch", das sie ihm einst versprochen hatte, dann doch ins Archiv nach Marbach gibt; denn, so Raddatz: "Wer, wenn nicht ich, wäre würdig, dieses Stück Tucho-Mary zu besitzen, das muß ich mich doch fragen." Und dann bricht es aus ihm heraus, und dieser Ausbruch charakterisiert diesen hypersensiblen Narziß in seiner grundverlorenen Einsamkeit: "Für mich ist es wie ein Treubruch, und dieses Wort hat bei mir, dem angeblichen ,Elegant' und ,Bonvivant' und ich weiß nicht was, noch einen schweren Wert. Gut, ich habe das alles - natürlich - auch haben wollen, welcher Mann will's nicht: Erfolg und Geld und Eleganz und Reisen und das; was ich eigentlich, mein ganzes Leben, gesucht habe mit einer den jeweils anderen offenbar verbrennenden Intensität, war Absolutheit - ob im Vertrauen, in der Liebe, in der Treue. Man kann's auch einen Partner nennen."

So steht es in einem Brief, den Raddatz 1971 an Mary geschrieben hat. Dieses Erinnerungsbuch ist ja kein einheitlich durchgeschriebenes, ein ganzes Leben noch einmal reflektierendes, rekapitulierendes Manuskript. Es besteht, wesentlich im ersten Viertel, aus neuem Text, danach mischt Raddatz zunehmend und ausgiebig alte Briefwechsel, Tagebuchblätter und gar kleinere Artikel ein, und diese Lese aus den verschiedensten Zeiten zeigt einmal mehr, wie sehr die Menschen, mit denen er umging, für Raddatz schon immer jene Spiegel waren, in denen er sich suchte, in denen er aber, weil sie nicht so waren wie er, nur immer sein von ihnen angeblich verzerrtes Selbstbild zu erkennen, ja wiederzuerkennen vermeinte. Und daß sie nicht so waren und sind wie er - das zahlt er ihnen nun heim, nicht böswillig, wie man bei der Lektüre durchaus glauben könnte, sondern ehrlich, wie er zu meinen scheint.

So zeichnet er von jenen Prominenten, mit denen er sich in diesem Buch abbilden läßt und in deren Ruhm auch er ein wenig glänzte, manch häßliches, ja manch geschmackloses Zerrbild. Wie böse er da unter vielen anderen über Rudolf Augstein und Uwe Johnson und über Hans Mayer schreibt! Auch über seine reiche Freundin Gabriele Henkel, an deren Rock er doch ständig hing, wenn sie von einer Prominentenparty zu anderen, von einer Galerie zur nächsten hetzte, nur um immer dabeizusein, wenn irgendeine Berühmtheit da zu erwarten war - und zieht noch aus dem vernichtenden Porträt den Honig seiner Selbsterkenntnis: "Keineswegs ist das hier berichtende Ich, ist Fritz J. Raddatz ausgenommen von jenem Beschleunigungsdefekt, wie ich den Effekt einer sich überschlagenden, hektischen Suche nach ,Leben' nennen möchte." Nein, davon war, davon ist er nicht ausgenommen, im Gegenteil: Aber die bloße Erwähnung solcher Verstricktheit hat ebensowenig wie das kritische Eingeständnis eigener Fehler dazu geführt, daß Raddatz daraus Konsequenzen für sein Erinnerungs-Schreiben gezogen hätte.

So hat es fast durchwegs den Anschein, als zöge sich da einer bis auf die Unterhose aus, nur um die schönen blauen Flecken zu zeigen, die ihm die anderen verpaßt haben. Und Raddatz' genußvoller Exhibitionismus wäre demnach nur mehr der als extreme Selbstliebe verkleidete Selbsthaß? Daß er auch anders kann, zeigen insbesondere zwei Porträtskizzen: jene des italienischen Verlegers Giangiacomo Feltrinelli, der 1972 unter mysteriösen Umständen bei der Explosion einer Bombe starb - ein Revolutionär als Selbstmörder oder ein ermordeter linker Rebell? Über ihn jedenfalls schreibt Raddatz in der ihm eigenen larmoyanten Überheblichkeit: "Ich hegte viel Bewunderung für den Mann. Wer keinen Kopf hat, der kann ihn auch nicht verlieren. Beifahrer machen keine Unfälle. Ein Beifahrer war er nicht, Giangiacomo Feltrinelli. Wir hatten das ähnlich überschäumende Temperament, das sich von Büchern Wirkung erhofft. Mich kostete es den Job. Ihn kostete es das Leben."

Ein Beifahrer wollte auch Raddatz nie sein und mußte doch erleben, daß, auch wenn er sein Metier einigermaßen selbst in der Hand hatte, er immer noch abhängig war von anderen, die ihn dann ja auch entlassen haben. Aus dieser Sehnsucht nach der materiellen Unabhängigkeit und der menschlichen Freiheit rührt wohl auch die spürbar tiefempfundene Achtung und Freundschaft zu Paul Wunderlich: weil er in ihm als einzigem, dem er wohl je in seinem Leben begegnete, von Anfang an den wirklich großen Künstler und zugleich den wirklich unabhängigen, ja freien Menschen erkannt hat, und zwar zu Recht. Dagegen nehmen sich die ausgiebigen Scharmützel mit Günter Grass, die das Buch durchziehen, wie die Hahnenkämpfe zweier rechthaberischer Gockel aus.

Erinnern wir uns noch einmal an das Motto dieser Erinnerungen. Fritz J. Raddatz ist gebildet und kennt seinen Rousseau. Und beschließt wohl auch deshalb seine Erinnerungen auf ihrer letzten Seite mit den Sätzen: "Es gibt wohl kein einheitliches Ich; es ist immer zusammengesetzt aus widersprüchlichen Neigungen und gegenläufigen Erfahrungen. Weswegen ich für dieses Buch die Form der Spiegelungen gewählt habe. Die werfen ein immer neues Konterfei zurück - weil Menschen, Handlungen, Situationen, Verletzungen, Liebe und Abweisungen denjenigen geformt wie verformt haben, der ich bin. Der ich geworden bin. Wie ich geworden bin. Mit Anstand kläglich, mit Verve irrend, den eigenen Sehnsüchten entfliehend und der Gnade, die ihm zuteil wurde, zu wenig achtend. Ein Weltenschlürfer des ungestillten Durstes. Torero und Stier zugleich." Raddatz also kennt seinen Rousseau; aber er ist keiner. Nur darin ist er ihm ähnlich: Auch er mit seinen Erinnerungen und Bekenntnissen ist gescheitert; freilich auf anderem Niveau.

Fritz J. Raddatz: "Unruhestifter". Erinnerungen. Propyläen Verlag, München 2003. 494 S., geb., 24,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Die "Verteidigungsschrift eines narzisstisch Gekränkten" erblickt Rezensent Wolfgang Schneider in Fritz J. Raddatz' Erinnerungen mit dem "allzu plakativen Titel" "Unruhestifter". Dass sich der "Paradiesvogel und Provokateur des deutschen Feuilletons" in seinen Erinnerungen nicht als Musterschüler mit behüteter Kindheit stilisieren würde, war nach Schneider zu erwarten. Stattdessen lerne man Raddatz kennen als "perfekten Dieb" in den Ruinen des ausgebombten Berlins, als stellvertretenden Cheflektor beim renommierten Verlag "Volk und Welt", als Programmchef von "Rowohlt", als mit Millionärsgattinnen durch New York streifenden Dandy, als Feuilletonchef der "Zeit", der permanent seinen nimmermüden Einsatz für die Literatur preise. Über einen Mangel an Selbstbeweihräucherung kann man sich nach Einschätzung Schneiders nicht beklagen: Raddatz' "kompensatorisches Eigenlob" grenze bisweilen an Nietzsches groteske Selbstverherrlichung in "Ecce Homo", urteilt der Rezensent.

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