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Sein autokratischer Führungsstil brachte ihm den Titel 'Zar Boris' ein, zugleich feierte der Westen ihn als 'Vater der russischen Demokratie'. Zehn turbulente Jahre stand Boris Jelzin als erster frei gewählter Präsident an der Spitze Russlands, nun legt er seine Memoiren vor - basierend auf zumeist nachts im Kreml geschriebenen Tagebüchern. Ein freimütiges Zeugnis, das Einblick gewährt in die einsamen Entscheidungen eines Mannes, der gegen alle Widrigkeiten die neu errungene Freiheit seines Landes zu sichern suchte.

Produktbeschreibung
Sein autokratischer Führungsstil brachte ihm den Titel 'Zar Boris' ein, zugleich feierte der Westen ihn als 'Vater der russischen Demokratie'. Zehn turbulente Jahre stand Boris Jelzin als erster frei gewählter Präsident an der Spitze Russlands, nun legt er seine Memoiren vor - basierend auf zumeist nachts im Kreml geschriebenen Tagebüchern. Ein freimütiges Zeugnis, das Einblick gewährt in die einsamen Entscheidungen eines Mannes, der gegen alle Widrigkeiten die neu errungene Freiheit seines Landes zu sichern suchte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2000

Den Präsidentenmarathon geschafft
Boris Jelzin berichtet über seine Jahre als Kremlherr: Tochter Tanja als beratendes "Phänomen"

Boris Jelzin: Mitternachtstagebuch. Meine Jahre im Kreml. Aus dem Russischen von Sergej Gladkich. Propyläen Verlag, München und Berlin 2000. 384 Seiten, 16 Seiten Abbildungen, 39,90 Mark.

Tanja ist sein ein und alles. Ihr Vater lobt sie gleich seitenlang, weil er nach eigenem Bekunden in seiner Zeit als Hausherr des Kremls allein der zweitältesten Tochter wirklich trauen konnte und diese ihm als einzige "alle wichtigen Informationen ungefiltert zukommen" ließ. Wenn es stimmt, was Boris Jelzin in einer nicht nur für russische Präsidenten beispiellosen Offenheit eingesteht, dann hat Tanja Djatschenko ihren Vater sogar vor einem demokratischen Sündenfall sondergleichen und Rußland vor einem Rückfall in die Diktatur bewahrt.

Denn das ist die eigentliche Neuigkeit, die Jelzin in seinem sogenannten Mitternachtstagebuch enthüllt: seine Bereitschaft, Mitte der neunziger Jahre, als ihm die Meinungsumfragen im Lande einen Sympathiewert von gerade noch drei Prozent bescheinigten, dem Druck enger Berater mit KGB-Hintergrund nachzugeben, die Kommunistische Partei seines Hauptrivalen Sjuganow zu verbieten, die Duma aufzulösen und die Präsidentenwahl auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Als Tanja davon Wind bekam, flehte sie ihren Vater an: "Papa, du mußt auch eine andere Meinung hören." Sie rief den früheren Kremlstabschef Tschubajs herbei, und beiden gelang es, Jelzin zur Umkehr zu bewegen. Dieser im Rückblick: "Ich schämte mich vor denjenigen, die an mich glaubten."

Ansonsten sind die Aufzeichnungen von dem Bemühen geprägt, sein oft irritierend wirkendes Schalten und Walten im Kreml zu rechtfertigen, sich als ein alles in allem weiser Landesvater darzustellen und auch ein bißchen Legendenbildung zu betreiben. Es trifft sicherlich zu, daß kein sowjetisches Staatsoberhaupt je unter Bedingungen arbeiten mußte wie der erste frei gewählte und dann wiedergewählte Präsident Rußlands. Da gab es, so Jelzin, "wütende Obstruktion im Parlament, absolute Pressefreiheit und immer neue Wellen der politischen Krise". Sein Reagieren darauf weist den solcherart geplagten Präsidenten freilich als wenig zimperlichen Taktiker und Machtpolitiker aus: "Um den Status quo zu wahren, mußte ich immer wieder neue Figuren einführen, die einen austauschen, die anderen opfern."

Die Folge war, daß Jelzin in seiner zweiten Amtszeit einen Regierungschef nach dem anderen auswechselte, es mal mit jungen Reformern, mal mit Altkommunisten versuchte, bis, ja, bis er endlich einen Mann fand, der "ein eindeutiges Bekenntnis zu Demokratie und Marktwirtschaft mit entschiedenem Patriotismus vereinte": Wladimir Putin, der es im Schnellverfahren vom Geheimdienstchef zum Ministerpräsidenten und dann zum Staatspräsidenten brachte.

Putins erste Amtshandlung war es, seinem Vorgänger und Mentor per Ukas absolute Immunität auf Lebenszeit zu garantieren. Das stellt Jelzin ungerührt gleichsam als Fortsetzung einer von ihm eingeführten neuen Tradition im neuen Rußland dar. Er habe zum ersten Mal in der wechselvollen Geschichte des Landes dafür gesorgt, daß ein ehemaliges Staatsoberhaupt ein freies, ruhiges Leben führen kann: "Ich war der Garant für die Unantastbarkeit Gorbatschows."

Auch dem letzten Präsidenten der Sowjetunion hat man in Rußland vieles vorgeworfen, eines aber nicht: daß seine "Familie" gemeinsame Sache mit neureichen Oligarchen und korrupten Elementen der Schattenwirtschaft gemacht habe. Genau das aber wurde der "Familie" Jelzins und insbesondere seiner Tochter Tanja unterstellt, was den Vater jetzt veranlaßt, den in dieser Angelegenheit und in Zusammenarbeit mit den Schweizer Behörden tätig gewordenen ehemaligen russischen Generalstaatsanwalt Skuratow in Grund und Boden zu verdammen.

Jelzin weist alle Vorwürfe empört zurück und legt zum Gegenbeweis seine "Besitzverhältnisse" offen: "Ich lebe auf einer staatlichen Datscha. Abgesehen davon, besitze ich zusammen mit meiner Frau eine Immobilie (eine Datscha mit vier Hektar Land und einem Haus mit 452 Quadratmetern bei Odinzowo im Großraum Moskau); ein Auto der Marke BMW (gekauft 1995); eine Wohnung in der Ossennjaja-Straße in Moskau; Kühlschränke auf der Datscha und einen Kühlschrank zu Hause; einige Fernseher; Schmuck meiner Frau und meiner Töchter; Tennisschläger; eine Waage; Jagdgewehre; Bücher; eine Stereoanlage; ein Diktiergerät. Was ich überhaupt nicht habe, sind Wertpapiere, Aktien, Wechsel; Immobilien im Ausland; Konten bei ausländischen Banken."

Vor allem auf Tanja läßt er nichts kommen, zumal sie - dieses "Phänomen" - ihn dazu gebracht habe, darüber nachzudenken, ob in Rußland nicht die Zeit der Frauen in der Politik gekommen sei. Allerdings hat er eben nur seine Tochter im Auge. Denn, so Jelzin, der Schelm: "Die militanten Feministinnen brauchen sich darüber nicht zu freuen. Ich möchte, daß in Rußland endlich eine ruhige, eine glückliche Zeit anbricht."

Außenpolitisch geht er vor allem auf das von vielen Russen bis heute nicht verwundene militärische Vorgehen der Nato gegen das Regime Milosevic ein. Letzteren hält Jelzin - und das stellte er immerhin vor dem Machtwechsel in Belgrad klar - für absolut prinzipienlos. "In seiner Beziehung zu Rußland setzte er (Milosevic) vor allem auf die Eskalation der Unzufriedenheit der Russen mit meiner Außenpolitik, auf die Spaltung unserer Gesellschaft und darauf, Rußland in eine politische und militärische Konfrontation mit den westlichen Ländern zu treiben." Obwohl Jelzin auch "etliche Einwände" gegen den Führungsstil des weißrussischen Autokraten Lukaschenka hat, sieht er dem "heiteren Mann" vieles nach. Nicht zuletzt dank Lukaschenkas Beharrlichkeit und Energie mit der Union Rußlands und Weißrußlands sei auch für ihn, Jelzin, ein Traum in Erfüllung gegangen.

Wie in seinen beiden früheren Tagebüchern gibt es auch in diesem, in dem er abschließend "ehrlich Bericht erstattet", viel Persönliches, das teils rührend menschlich ist, teils den Stempel plumper Rechtfertigung einer mehr als widersprüchlichen Politik trägt. Jelzin macht aus seinen körperlichen Gebrechen ebensowenig Hehl wie aus seiner Einstellung zum Alkohol. Da wartet er allerdings noch mit einer weiteren Überraschung auf. Einerseits mochte er noch nie "Trinker" in seinem Bekanntenkreis, andererseits bemerkte er jedoch "schon früh, daß sich Streß mit Alkohol leicht abbauen läßt".

Jedenfalls hätte Jelzin seinen "Präsidentenmarathon", so der Titel der russischen Ausgabe des Mitternachtstagebuchs, unter keinen Umständen missen wollen. Und wenn die Kremlherren nach ihm nun schneller, eleganter, leichter "die vierzig Kilometer" laufen sollten: Jelzin ficht das nicht länger an: "Ich habe die Strecke immerhin geschafft" - was in der Tat auch im neuen Rußland einiges heißen will.

WERNER ADAM

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Was Alexander Sambuk in seiner Rezension zu Jelzins Memoiren schreibt, ist so distanzlos und unkritisch, dass man glauben könnte, Sambuk habe den Agitprop noch bei Trotzki persönlich gelernt. Sambuk findet Jelzins Sicht auf sich selbst anscheinend überzeugend. Niemals erhebt er Einwände gegen die Selbstdarstellung des russischen Ex-Präsidenten als `unbestrittener Großmeister` der Spielkunst Politik, der es dank seiner eigener Intuition und der Herzenswärme seiner Tochter geschafft hat, seine ruchlosen (kommunistischen) Gegner schachmatt zu setzen und sein Land in die lichte Zukunft zu führen. Manchmal, wenn Jelzin selbst ihm zu hanebüchen wird, benutzt Sambuk in seiner Wiedergabe die indirekte Rede - vielleicht um sich zu distanzieren. Aber warum er dann nicht ein wenig Wirklichkeit in seine Kritik miteingebaut hat, bleibt wirklich schleierhaft.

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