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Produktdetails
  • Verlag: Propyläen
  • Seitenzahl: 456
  • Abmessung: 42mm x 145mm x 220mm
  • Gewicht: 726g
  • ISBN-13: 9783549058282
  • ISBN-10: 3549058284
  • Artikelnr.: 24920707
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.09.2000

Schlange stehen vor dem Spalt in der Tür
Die Aufrüstung im Westen, aber auch die Demoralisierung der sowjetischen Gesellschaft begünstigten das Ende des Kalten Krieges
MICHAEL PLOETZ: Wie die Sowjetunion den Kalten Krieg verlor; von der Nachrüstung zum Mauerfall, Propyläen-Verlag, Berlin 2000. 456 Seiten, 48 Mark.
Wie verlor die Sowjetunion den Kalten Krieg? Einer ersten Erklärung zufolge spielten im Schlussakt des Ost-West-Konflikts die USA und die Nato die wichtigste Rolle. Ronald Reagan und Helmut Kohl seien, so heißt es, dessen Hauptdarsteller gewesen. Die feste Haltung des deutschen Kanzlers bei der Nachrüstung (der Stationierung von nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa), die Pläne des US-Präsidenten zum Aufbau einer weltraumgestützen Raketenabwehr (SDI) und die drastischen Erhöhungen der Verteidigungsausgaben der USA auch für konventionelle Waffen hätten der Sowjetunion vor Augen geführt, dass es aussichtslos sei, in der Rüstungskonkurrenz mitzuhalten. Ob sie wollte oder nicht: Die Sowjetführung musste sich dem Druck beugen und kapitulieren.
Nach einer zweiten Argumentation waren eher politische und wirtschaftliche Faktoren sowie fundamentale Veränderungen in der Sowjetunion von ausschlaggebender Bedeutung für das Ende des Kalten Krieges. Hier gelten Michail Gorbatschow und Hans-Dietrich Genscher als maßgebliche Akteure. Der 1985 gewählte Generalsekretär der KPdSU habe, so diese These, die inneren Widersprüche des Sowjetsystems und die Notwendigkeit eines radikalen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft klar erkannt. Der Modernisierung und Demokratisierung standen aber sowohl die marxistisch-leninistische Ideologie als auch die kostspieligen Erfordernisse eines weit verzweigten Imperiums entgegen. Für den innenpolitisch schwierigen Abbau der ideologischen und militärischen Konfrontation brauchte Gorbatschow aber die Entspannung nach außen. Es sei also das Wechselspiel von Neuem Denken und der vom deutschen Außenminister verfolgten Entspannungspolitik gewesen, das es ermöglichte, den Ost-West-Konflikt zu beenden.
Ein dritter Interpretationsansatz verbindet die beiden Erklärungen und sieht diese als komplementär an. Dieser Sicht entsprechend machten das „Star-Wars”-Programm sowie die konventionelle Aufrüstung und atomare Nachrüstung in den USA der sowjetischen Führung die Gefahren einer Verschärfung des Rüstungswettlaufs bei sinkenden Wachstumsraten der Sowjet-Wirtschaft bewusst. Diese Gefahren wiederum konnte Gorbatschow in den innenpolitischen Auseinandersetzungen als Argument für grundlegende innere Reformen und außenpolitische Kursänderungen gebrauchen. Dabei sei es wichtig gewesen, dass er Partner im Westen benennen konnte, die bereit waren, seine Reformbemühungen zu unterstützen und die militärische Konfrontation schrittweise abzubauen.
Endstadium
Welcher dieser Hauptinterpretationen gibt nun das Buch den Vorzug? Das ist schwer zu sagen. Dem Buch fehlt ein Interpretationsraster, ein Leitfaden, der es dem Leser erleichtern würde, sich durch die Fülle des Materials hindurchzuarbeiten. Hinzu kommt: Der Untertitel erweckt den Eindruck, als erstrecke sich der Untersuchungszeitraum auf das Jahrzehnt von der sowjetischen Intervention in Afghanistan und dem Doppelbeschluss der im Dezember 1979 bis zum Fall der Mauer im November 1989. Das ist aber nur bedingt der Fall. Der Schwerpunkt liegt auf der Phase des so genannten Zweiten Kalten Krieges von Dezember 1979 bis März 1985. Das Buch geht folglich im wesentlichen nur auf einen Teil der Vorgeschichte der Beendigung des Kalten Krieges ein, nicht auf sein eigentliches Endstadium.
Wenn sich aus dem Buch ein zentraler Erklärungsansatz für das Ende des Kalten Krieges ableiten lässt, dann dürfte er der ersten der drei oben genannten Interpretationen zuzuordnen sein. Vor allem wird die Bedeutung der Nachrüstung für die Abkehr der Sowjetunion vom Rüstungswettlauf hervorgehoben. Die Aufstellung der ersten nuklearen Mittelstreckenwaffen – der Pershing II und Cruisemissiles – in der Bundesrepublik im Dezember 1983 wird als Wendepunkt im Kalten Krieg bezeichnet. Die Führungen in Moskau und Ost-Berlin, so Ploetz, haben eine groß angelegte Propagandakampagne entfacht, um der Nato einen entscheidenden Stoß zu versetzen. Als Hauptverbündete dieses „Friedenskampfes” wurden die deutsche Sozialdemokratie und die Friedensbewegung auserkoren. Doch man verrechnete sich: In den USA und Westeuropa begünstigte der Aufmarsch der Nachrüstungsgegner die Rückkehr der Konservativen zur Macht, in der Sowjetunion und der DDR verschärfte er die inneren Widersprüche des Systems. Die Friedensbewegung schlug auf die DDR zurück und verwandelte sich dort in eine politische Opposition, der die Stasi nicht mehr Herr wurde.
Gibt es aber nicht weitere mögliche Wendepunkte, schwelende und akute Krisen, die zu einem Umdenken in der Sowjetführung geführt haben? Hierzu gehören im Inneren der Sowjetunion die Erosion der Ideologie, die Innovationsunfähigkeit der Wirtschaft, ihre Überbelastung mit Militärausgaben, die Überalterung und Konzeptionslosigkeit der Parteielite und die Demoralisierung der Gesellschaft. In der Außenpolitik sind es die weltwirtschaftliche Isolierung der Sowjetunion, Rückschläge in der Dritten Welt und nicht zuletzt die latente Krise in Ostmitteleuropa, die 1980/81 in Polen in ihr akutes Stadium eintrat.
Auf dem Umschlag wird der Kauf des Buches mit der Behauptung schmackhaft gemacht, die Endphase des Sowjetimperiums lasse sich heute minutiös rekonstruieren: dank der fast vollständig erhaltenen Akten des SED-Regimes. Diese Behauptung ist strittig. Die vom Autor zitierten internen SED-Papiere und Aufzeichnungen von Gesprächen zwischen SED- und KPdSU-Genossen sind zwar von großem Interesse, aber auch problematisch. Das Überraschende an den KPdSU- und SED-Archivmaterialien ist ja gerade die Tatsache, dass sich Parteijargon und marxistisch-leninistische Denkschablonen auch durch die internen Diskussionen ziehen. Glaubten die sowjetischen und ostdeutschen Partei- und Militärführer aber tatsächlich an den Unsinn, den sie sich in Gesprächen immer wieder gegenseitig als richtig bestätigten? Memoiren und Interviews zeigen, dass es auch eine persönlichere und vertraulichere Ebene gab, auf der offener geredet wurde.
Wenn auch vereinzelt, lassen die internen Gesprächsaufzeichnungen dennoch abweichende Anschauungen erkennen. Ein Beispiel hierfür ist eine Bemerkung des damaligen KGB-Chefs Andropow zu Staatssicherheitsminister Mielke im Juli 1981, die er als seine „subjektive Meinung” bezeichnet: „Die USA bereiten den Krieg vor, aber sie sind nicht bereit, den Krieg zu beginnen . . . Sie wollen die militärische Überlegenheit, um uns ,Schach‘ zu bieten und uns für ‚matt‘ erklären zu können, ohne den Krieg zu beginnen. ” Diese Bemerkung legt den Schluss nahe, dass die Darstellung der Nachrüstung der Nato als konkrete Vorbereitung auf einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion nicht den tatsächlichen Anschauungen der Führung der Sowjetunion entsprach, sondern Propaganda war, mit deren Hilfe die Friedensbewegung unterstützt werden sollte.
Nicht jeder politisch Interessierte kann Aktenstudien betreiben. Derartige Zitate empfehlen insofern den Kauf des Buches. Dem Leser bleibt es allerdings weithin überlassen, aus den vielfältigen Auszügen seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen.
HANNES ADOMEIT
Der Rezensent ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen.
Notstand in Russland: Weil die Renten zu niedrig und die Preise zu hoch sind, verkaufen alte Frauen Lebensmittel und Kleider auf der Straße.
Foto: AP
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Geradezu traumhaft ist die Archivlage nach dem Ende der DDR für jeden Historiker, stellt der Rezensent Joachim Oertel fest, und Michael Ploetz habe die Quellen zum Zusammenbruch der Sowjetunion zu nutzen verstanden. Die gängige Auffassung, dass das Ende des Sowjetsystems unter Gorbatschow der Einsicht in die verzweifelte ökonomische Lage im Rüstungswettstreit zu verdanken war, wird bestätigt. Zugleich lasse sich aber auch belegen, dass erst die Friedensbewegung und die Kooperationsbereitschaft der SPD Gorbatschow eine "Brücke" gebaut hätten. Das Buch, so Oertel, liefert eine "faktenreiche Analyse".

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