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Organisationsbildung setzt eine Erkennungsregel voraus, die erlaubt festzustellen, welche Handlungen und unter welchen Aspekten sie als Entscheidungen der Organisation zu gelten haben. Diese Erkenntnisregel ist zunächst und vor allem eine Mitgliedschaftsregel. Sie legt fest, wer als Mitglied des Systems angesehen wird und in welchen Rollen diese Mitgliedschaft ausgeübt werden kann. Durch Personalauswahl und Rollendefinition wird die Organisation gegen das sie umgebende sonstige Soziale abgegrenzt und ausdifferenziert.

Produktbeschreibung
Organisationsbildung setzt eine Erkennungsregel voraus, die erlaubt festzustellen, welche Handlungen und unter welchen Aspekten sie als Entscheidungen der Organisation zu gelten haben. Diese Erkenntnisregel ist zunächst und vor allem eine Mitgliedschaftsregel. Sie legt fest, wer als Mitglied des Systems angesehen wird und in welchen Rollen diese Mitgliedschaft ausgeübt werden kann. Durch Personalauswahl und Rollendefinition wird die Organisation gegen das sie umgebende sonstige Soziale abgegrenzt und ausdifferenziert.
Autorenporträt
Niklas Luhmann (1927 - 1998) war Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld.
Rezensionen
"Luhmanns [der Autor] Sprache ist nicht leicht zugänglich, belohnt den Leser aber mit Einsichten zum Service Public. Wer verstehen will, wie Organisationen den Kontakt untereinander und zur "Umwelt" (dem sogenannten Rest der Welt) aufrechterhalten, wie sie sich verändern und immer wieder an neue Umstände anpassen können, sollte sich an diese Lektüre wagen." kommunalmagazin, 2-2011

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.06.2000

Flaschenbier bei der Müllabfuhr?
Der Kreis schließt sich: Niklas Luhmann hat die Kunst der Organisation analysiert
Das Personal in Organisationen lernt bemerkenswert schnell, dass für seine Berufsausübung die Kenntnis von drei Sätzen unabdingbar ist: „Das machen wir immer so. Das haben wir noch nie so gemacht. Da könnte ja jeder kommen. ” Warum Organisationsmitglieder diese Sentenzen kennen müssen, erfahren sie in Niklas Luhmanns postum erschienenem Buch Organisation und Entscheidung: Sie stellen eine „Absorption von Unsicherheit” dar, ein Begriff, den Luhmann in die Organisationstheorie einführt. In den traditionellen Darstellungen hingegen war von Macht oder Rationalität als Entscheidungsgrundlage die Rede.
Es muss täglich mehrfach entschieden werden, und Ansprüche von außen dürfen dabei nicht irritieren, weil sonst ja „jeder kommen könnte”. Vor solchen externen Forderungen schützt die Einlassung, „dass das noch nie so gemacht worden sei”. Die Besonderheit des zu entscheidenden Sachverhalts muss ausgeblendet werden. Um dabei ihrer Unsicherheit zu entgehen, führen die Bediensteten Entscheidungen auf andere Entscheidungen zurück. Begründung: „Das haben wir immer so gemacht. ” Luhmann nennt das „positive Selektion”.
In Organisationen wird so entschieden, wie schon immer entschieden worden ist. Frühere Entscheidungen gehen in Form von Akten ins „Gedächtnis der Organisation” ein. Das persönliche Gedächtnis wird mittels Akten in Organisationsgedächtnis umgeformt. Deshalb können Entscheidungen ohne Bremsung und Zweifel ablaufen. Es ist dies die selbstgarantierte Fortsetzbarkeit von Entscheidungsprozessen. Nicht das Personal entscheidet, sondern die Organisation, was zwangsläufig zur Infantilisierung ihrer Mitglieder führt.
Das alles muss so sein, damit Organisationen weiterhin entscheiden können, auch wenn Mitarbeiter gehen. Es ist lediglich eine Form von Takt, dass man so tut, als sei die Entscheidung von einem Menschen gefällt worden. Takt ist ein Begriff, den wir erst seit dem 17.  Jahrhundert kennen, und der im Zuge der Individualisierung seine Bedeutung bekommen hat. Der Takt gebietet es, die Selbstdarstellung des Anderen nicht zu verletzen und seine Überzeugungen stillschweigend auf sich beruhen zu lassen. Wer möchte seinem Kollegen schon sagen: „Sie haben nicht entschieden, Sie sind entschieden worden. ” Bei fehlerhaften Entscheidungen erweisen sich Mitarbeiter als Defektflüchter. Falsche Entscheidungen werden stets der Organisation zugerechnet, sei es bei Navigationsfehlern des Piloten, sei es bei Rechtsverstößen einer Verwaltungsbehörde. Und Politiker können anführen, sie seien von der Abteilung ihres Hauses nicht informiert worden. Es gibt also laufend etwas zu tun, wenn andere etwas getan haben.
Entscheidungen gehen auf Entscheidungsprogramme zurück, die gleichsam das positive Recht der Organisationen bilden. Luhmann kennt zwei Arten – Konditional- und Zweckprogramme. Konditionalprogramme haben die allgemeine Form des „Wenn – Dann”: Nur wenn eine bestimmte Bedingung eintritt, wird gehandelt. Das Problem dieser Programme ist das Vergessen, denn sie können für extrem seltene Ereignissen vorgesehen sein; auch von solchen, von denen man hofft, dass sie nie eintreten werden. Es handelt sich beispielsweise um Katastrophenprogramme oder Mobilisierungsprogramme für den Kriegsfall. Weil diese Ereignisse selten, möglichst nie eintreten, müssen Entscheidungsprogramme ständig in Erinnerung gerufen und gegebenenfalls aktualisiert werden – das geschieht durch Katastrophenschutzübungen oder durch laufend verteilte Mahnungen, sie nicht zu vergessen.
Zweckprogramme sind anders geartet: Man muss bei ihnen zunächst Klarheit darüber gewinnen, dass man auch anders wählen könnte. Zweckprogramme sind reine Zukunftsprogramme. Darum ist das Hauptproblem nicht das Vergessen, sondern die unbekannte Zukunft. Zweckprogramme bauen auf allgemeinen Strukturen zweckorientierter Entscheidungen auf. Sie entziehen die Komponenten des Programms den Stellen, die das Programm durchzuführen haben und binden sie an das Entscheidungsprogramm. Der Müllabfuhr steht es nicht frei, ihr Fahrzeug für den Verkauf von Flaschenbier umzufunktionieren.
Zweckprogramme können außerdem hochkomplexe Programme für eine einmalige Ausführung sein, bei der eine Vielzahl von Organisationen mitwirken. Sie müssen für die Koordinierung ihr „positives Recht” erst entwerfen, um die lang erwartete Meerwasserentsalzungsanlage, den Großstaudamm, oder den Tunnel unter dem Ärmelkanal bauen zu können.
Leben und sterben im Bazar
Organisationen mit derart konstruierten Programmen, seien es Zweck- oder Konditionalprogramme, hat es nicht immer gegeben. Sie entstehen in hochkomplexen Gesellschaften, in denen Entscheidungen nicht mehr auf willkürlichen Überlegungen von selbstherrlichen Fürsten basieren. Die Folgen von Entscheidungen müssen für eine zunehmende Zahl von Menschen gleich sein, und die Gleichbehandlung kann eingeklagt werden. So festigt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Sprachgebrauch, der Organisationen als soziale Formationen besonderer Art von anderen Ordnungen unterscheidet. Sie lassen sich seither aus der Gesellschaft nicht mehr wegdenken und bekommen verstärkt Einfluss. Luhmann bemerkt, dass die Menschen in älteren Gesellschaften in Familienhaushalten lebten und es selten vorkam dass der Arbeitsplatz woanders lag, zum Beispiel im Bazar. Man starb, wo man lebte. In Organisationen stirbt man nicht, und wenn es vorkommt, wird der Vorfall unter den Begriff des Arbeitsunfalls subsumiert und entsprechend weiterbehandelt.
Schon diese einfache Überlegung zeigt, dass der Begriff des „Menschlichen” in der Organisationspolitik nur ideologische oder kompensatorische Bedeutung hat – eine Einsicht, die wir Luhmanns allgemeiner Systemtheorie verdanken, in der die Menschen nicht als Bestandteile der Gesellschaft betrachtet werden, sondern als deren Umwelt. Nur die Systemtheorie, meint Luhmann, nimmt das wirklich ernst, was der Begriff Subjekt oder Individuum traditionell implizierte, nämlich autonom und nicht lediglich Partikel der Gesellschaft zu sein. Die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft kann man sehen. Man kann die Außenseite des Organismus eines Anderen beobachten und wird durch diese Innen/Außen-Form veranlasst, auf eine unbeobachtbare Innenseite zu schließen. Weil das Innere des Anderen unbekannt ist, ist er als ewiges Rätsel attraktiv, und deshalb sind Liebende dafür bekannt, dass sie endlos miteinander über sich selber reden können und immer wieder etwas Neues erfahren.
Luhmanns ursprüngliches Forschungsmotiv war, das Regelwerk zu durchschauen, das die Gesellschaft trotz all ihrer Probleme immer erneut stabilisiert, so dass sie weiter bestehen und funktionieren kann. Dass dies geschieht, war ihm nach dem Zweiten Weltkrieg durch eigene Anschauung klar geworden. Nun wollte er wissen, wie das geschieht. In den fünfziger Jahren erkannte er als Verwaltungsjurist im niedersächsischen Kultusministerium in Hannover, dass dieser Mechanismus der Stabilisierung auch für Organisationen galt. Luhmann sah weiter, dass die gesamte Gesellschaft von Organisationen durchsetzt ist. Darum sei es um so erstaunlicher, konstatierte er damals, dass die Welt des Verwaltens ganz am Rand des staatsbürgerlichen Wissens geblieben sei.
Luhmann hingegen rückte die Analyse von Organisationen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Sein erstes Buch hieß 1964 Funktionen und Folgen formaler Organisation. In einem Gespräch sagte er einmal, dass er ein andauerndes Interesse an Organisationen gehabt habe. „In den Organisationstheorien lag aber immer ein Überschuss, den man auch auf Nicht-Organisationen übertragen konnte. ” Aus diesem Überschuss entwickelte er seine Gesellschaftstheorie. Mit dem vorliegenden Buch schließt sich der Kreis, denn nun wendet er die Ergebnisse der Systemtheorie, die er zunächst aus der Organisationstheorie gewonnen hatte, wiederum auf die Organisationstheorie an. Wie immer beginnt es mit einem komprimierten, hoch abstrakten „Ich versuche immer mit Wiederholungen zu arbeiten, um das Buch als einzelnes lesbar zu machen. ”
 DETLEF HORSTER
NIKLAS LUHMANN: Organisation und Entscheidung. Westdeutscher Verlag, Opladen Wiesbaden. 478 S. , 68 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

In einer Sammelrezension bespricht Niels Werber die drei nachgelassenen Bände "Die Religion der Gesellschaft", "Die Politik der Gesellschaft" (beide bei Suhrkamp) sowie "Organisation und Entscheidung" (Westdeutscher Verlag), ohne im einzelnen zwischen den Bänden zu unterscheiden. Zunächst legt Werber dar, dass Luhmann mit diesen Werken seine Theorie abschließt und in gewisser Weise auch krönt, denn nach Werber muss man die Sphären der Politik, also des Souveräns, und der Religion, also Gottes, zumindest im landläufigen Sinn als die alles überwölbenden ansehen - während Luhmann (und mit ihm Werber) allerdings betont, dass gesellschaftlichen Subsysteme wie Religion und Politik, aber auch Wissenschaft oder Kunst, ihre Autonomie haben. Besonderen Wert legt Werber in seiner Besprechung darauf, dass Luhmann Oberbegriffe wie Religion oder Politik, die für ihn gesellschaftliche Systeme bezeichnen, scharf unterscheidet von "Organisationen" wie Kirche oder Parlament - auch wenn sich diese Organisationen selbst gern mit den Sphären, innerhalb derer sie existieren, in eins setzen. Hier geht Werber besonders auf die "Kontrollillusion" der Politiker ein, die ernstlich glauben, in andere gesellschaftliche Systeme wie etwa die Wirtschaft eingreifen zu können. Folgt man Werbers Darstellung von Luhmanns System, so bewegen sich Politiker (aber parallel etwa auch Kirchenleute) dagegen wie Goldfische in einem Aquarium und verwechseln es mit der Welt. Indirekt ist daraus zu schließen, dass erst ein Politiker, der Luhmann versteht, versteht, was er ist - wir sehen schon vor unserem innern Auge, wie die Bundestagsabgeordneten an ihren Parlamentsbänken heimlich den Luhmann aus der Tasche holen, um ihn zu studieren!

© Perlentaucher Medien GmbH
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