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Das 19. Jahrhundert gilt als Epoche einer fundamentalen Säkularisierung von Staat und Gesellschaft. Vorreiter in diesem Prozess waren die Arbeiterbewegungen und ihre Parteien. Die Untersuchung von Sebastian Prüfer zeichnet die identitätsbildende Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der 'religiösen Frage' zwischen 1863 und 1890 nach. Dazu rekonstruiert und analysiert Prüfer, wie der sozialdemokratische Religionsdiskurs sich auf Parteitagen und Kongressen, in Schriftwechseln und Publikationen führender Vertreter sowie in der regionalen und lokalen Parteipresse entwickelte, in…mehr

Produktbeschreibung
Das 19. Jahrhundert gilt als Epoche einer fundamentalen Säkularisierung von Staat und Gesellschaft. Vorreiter in diesem Prozess waren die Arbeiterbewegungen und ihre Parteien. Die Untersuchung von Sebastian Prüfer zeichnet die identitätsbildende Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der 'religiösen Frage' zwischen 1863 und 1890 nach. Dazu rekonstruiert und analysiert Prüfer, wie der sozialdemokratische Religionsdiskurs sich auf Parteitagen und Kongressen, in Schriftwechseln und Publikationen führender Vertreter sowie in der regionalen und lokalen Parteipresse entwickelte, in Verbindung zu den entstehenden Mentalitäten und Ideologien der Arbeiterbewegung und vor allem im Verhältnis zu den konkurrierenden Religionsdiskursen von Katholizismus, Konservatismus und Liberalismus. Dabei wird deutlich: Weder eine 'freie Religion' noch radikaler Atheismus waren innerparteilich mehrheitsfähig. 'Sozialismus statt Religion': so schien das sozialdemokratische Milieu die religiöse Frage beantworten zu wollen.
Autorenporträt
Dr. Sebastian Prüfer promovierte 1999 an der Freien Universität Berlin.
Er ist Studienrat mit den Fächern Geschichte und Evangelische Religion an der Evangelischen Schule in Berlin-Frohnau.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2003

Fortschrittsfroh in den Himmel
Sozialdemokratie und Religion: Sebastian Prüfer protokolliert

In seiner Berliner Dissertation analysiert Sebastian Prüfer den "sozialdemokratischen Religionsdiskurs" zwischen 1860 und 1890. Diskurse bestimmt der Kocka-Schüler als Denk- und Argumentationssysteme, die Mentalitäten und kollektive Identitäten spiegeln. Dazu bedarf es tragender Institutionen, die Grenzen des Sagbaren festlegen. In den Arbeiterparteien erkennt Prüfer die den "sozialdemokratischen Religionsdiskurs autorisierenden Institutionen". Neben offiziösen Quellen wie Parteitagsdebatten und Parlamentsreden zieht er Tageszeitungen, Monatszeitschriften, Liederbücher und Kleinbroschüren heran. Der Blick von oben soll mit vielen Basisperspektiven sozialdemokratischer Männer und Frauen verbunden werden, die aus unterschiedlichen Lebenswelten stammten. Die hohe Komplexität und innere Widersprüchlichkeit der in sozialdemokratischen Milieus geführten Debatten über Religion, Christentum und Kirchen werden gut sichtbar.

Religion als mentale Macht und die Kirchen als gesellschaftliche Akteure spielten in den Selbstverständigungsdebatten der Sozialdemokraten eine zentrale Rolle. Elemente der populären Religionskritik, der zufolge religiöser Glaube "falsches Bewußtsein" sei, wurden mit soziologischen Beschreibungen der Kirchen als Herrschaftsagenturen der Obrigkeit verknüpft. In Texten der einfachen Leute findet sich viel Pfaffenschelte, galten Geistliche doch als Apologeten des Status quo. Zugleich wurden christliche Überlieferungsbestände für politische Zwecke konstruktiv angeeignet. Mit Beispielen aus der Christentumsgeschichte verkündigte man gegen die Amtskirchen ein besseres Tatchristentum gelebter Solidarität. Andere sozialdemokratische Kirchenkritiker predigten den liberal-bourgeoisen Wissenschaftsglauben, daß christliche Frömmigkeit kulturfeindlich sei und Gebildete im alten Glauben nur Märchen von gestern sehen könnten. Hier profilierte sich die Sozialdemokratie als "Partei der Moderne", die fortschrittsfrohe Menschen ins aufklärerische Licht führt.

Auch sozialdemokratische Kinder fragen nach Moral, Schicksal und Lebenssinn. Genossen können krank werden und müssen eines Tages sterben. Deshalb sah sich "die Partei" gezwungen, parallel zur populären Religionskritik religiöse Symbolsprachen konstruktiv aufzugreifen. Prüfer schildert ein faszinierend breites Spektrum sozialdemokratischer Alltagsfrömmigkeit. Ganze Ortsgruppen der Arbeiterparteien engagierten sich für die Freireligiösen, und einflußreiche Funktionäre wollten die politisch-sozialen Ziele mit Religionsreform verknüpfen. Die Partei sollte zur Avantgarde einer ganzheitlichen "Lebensreformbewegung" auf religiöser Wertbasis werden. Diese "neue Religion" wurde mit christlichen Symbolen entworfen. Jesus, der Zimmermannssohn, avancierte zum ersten Sozialisten, der das Himmelreich auf die Erde holen wollte, und der Sozalismus zum wahren Christentum. Die halb politisch-säkularen, halb religiös-rituellen Beerdigungen der Sozialdemokraten zeigen, daß für viele Parteimitglieder der Sozialismus zu einer quasireligiösen Deutungsmacht für Sinnorientierung geworden war.

Läßt sich der sozialdemokratische Religionsdiskurs als "politische Religion" deuten? Prüfer lehnt dies mit schwachen Argumenten ab. Doch charakterisiert er die Stellung der Arbeiterparteien zur "religiösen Frage" selbst als politische "Transformation von Religion". Ein sozialdemokratischer Lokalredakteur bezeichnete den Sozialismus 1889 als "glaubenslose Religion". Dies ist eine hilfreiche Selbstbeschreibung: Wer sich den Himmel ins Diesseits holt, schränkt fürs Jenseits die Wahlchancen ein. Im himmellosen Jenseits bleibt den Menschen nur die Hölle. Einzelne sozialdemokratische Religionstheoretiker sahen diese Aporie und entwickelten eine komplexe Symbolik zweier Himmelswelten. Ihre Spezialmetaphysik eines doppelten Himmels, der im Diesseits schon anbricht, aber auch im Jenseits Wohlbehagen verheißt, war auf Arbeiterparteitagen aber nicht mehrheitsfähig.

FRIEDRICH WILHELM GRAF.

Sebastian Prüfer: "Sozialismus statt Religion". Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 152. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002. 391 S., br., 42,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In dieser Berliner Dissertation Prüfers, eines "Kocka-Schülers", würde, schreibt Friedrich Wilhelm Graf, die "innere Widersprüchlichkeit" des Religions-Diskurses in der jungen Sozialdemokratie "gut sichtbar". Einerseits habe man Religion als "falsches Bewusstsein" zu brandmarken und sich als "Partei der Moderne" zu präsentieren versucht, andererseits aber hätte man auf die noch intakten Funktionen von Kirche und Religion Rücksicht nehmen müssen: Auch Genossen brauchen Trost, werden krank und sterben. Da sei Jesus, der Zimmermannssohn, dann sogar schon mal "zum ersten Sozialisten, der das Himmelreich auf Erden holen wollte" stilisiert worden, und der Sozialismus zum wahren Christentum. Prüfer erwähne außerdem sozialdemokratische Religionstheoretiker, die den Kompromiss mit dem Christentum in einer "Spezialmetaphysik des doppelten Himmels", wie Graf es nennt, auf die Spitze getrieben hätten: Dieser Himmel breche im Diesseits schon an, und setze sich im Jenseits dann nur noch fort. Graf meint wohl, dass das zusammengetragene Material sich am Ende gegen die Absicht des Autors wenden lasse. Prüfer versuche dann jedenfalls "mit schwachen Argumenten" den Eindruck abzuwehren, sein Textmaterial lasse es auch zu, den frühen sozialdemokratischen Diskurs als "politische Religion" zu deuten.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr