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"Man muß die Gesellschaft verändern" - diese Parole aus alter Zeit ist nach wie vor aktuell, denn die Gesellschaft, in der wir leben, ist voller Härte und Zumutungen. Aber um dies Veränderung zu ermöglichen, sollte man vielleicht erst einmal versuchen, den Begriff "Gesellschaft" zu verändern. Heute läßt sich ein immer größeres Auseinanderklaffen der Praxis der Soziologie, der Theorie der Politik und des Glaubens an die Idee der Gesellschaft beobachten. Um einen Ausweg aus dieser Krise zu finden, sollte, so die provokative These dieses Buchs, diese Spannung bis zum äußersten ausgereizt werden.…mehr

Produktbeschreibung
"Man muß die Gesellschaft verändern" - diese Parole aus alter Zeit ist nach wie vor aktuell, denn die Gesellschaft, in der wir leben, ist voller Härte und Zumutungen. Aber um dies Veränderung zu ermöglichen, sollte man vielleicht erst einmal versuchen, den Begriff "Gesellschaft" zu verändern. Heute läßt sich ein immer größeres Auseinanderklaffen der Praxis der Soziologie, der Theorie der Politik und des Glaubens an die Idee der Gesellschaft beobachten. Um einen Ausweg aus dieser Krise zu finden, sollte, so die provokative These dieses Buchs, diese Spannung bis zum äußersten ausgereizt werden. Bruno Latour, der die etablierten Grenzen zwischenWissenschaft, Kultur, Technik und Natur eingerissen hat, schlägt vor, zwei unterschiedliche Konzepte von Gesellschaft zu unterscheiden. Der einen Auffassung zufolge ist "Gesellschaft" eine unveränderliche abstrakte Entität, die ihren Schatten auf andere Bereiche wirft: auf die Wirtschaft, das Recht, die Wissenschaft etc. Nach der anderen hingegen ist "Gesellschaft" notwendig instabil: eine Verbindung überraschender Akteure, die die einlullende Gewißheit, einer gemeinsamen Welt anzugehören, in Frage stellen. Die Analyse dieser unerwarteten Verknüpfungen höchst unterschiedlicher Bereiche, wie etwa zwischen Viren, Wissenschaftlern, Leidenschaften, Naturkatastrophen oder Erfindungen, ist nach Bruno Latour Aufgabe der Soziologie.
Autorenporträt
Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie. Bruno Latour war Professor am Sciences Politiques Paris. Für sein umfangreiches Werk hat er zahlreiche Preise und Ehrungen erhalten, darunter den Siegfried Unseld Preis und den Holberg-Preis. Latour verstarb am 09. Oktober 2022 in Paris.

Gustav Roßler studierte Philosophie, Soziologie und Psychologie in Berlin und Paris. Er ist als Autor und als Übersetzer französischer Texte in den Bereichen Philosophie und Soziologie tätig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2007

Trauen Sie sich nie so ganz über den Weg!

Schon lange war die Soziologie nicht mehr so sehr bei der Sache wie in dem neuen Buch von Bruno Latour. Seine Soziologie stimmt mit dem überein, was Niklas Luhmann mit der Systemtheorie vorhatte.

Spätestens beim Zahnarzt wünscht man sich, dieses Buch nicht gelesen zu haben. Jede andere Soziologie wäre hilfreicher. Mit Max Weber würde man die Rationalisierung begrüßen, die im technischen Fortschritt der Instrumente liegt, und seine Schmerzen als Erinnerung an frühere, vielleicht lebendigere Zeiten begrüßen. Mit Emile Durkheim würde man sich darauf konzentrieren, das korporative Selbstbewusstsein der Zahnärztin zu prüfen, und darauf hinweisen, dass auch der Patient andernorts seine wichtige Stellung in der Gesellschaft hat. Mit Talcott Parsons könnte man bewundern, wie subtil die Unterscheidungen gebaut sind, die zwischen Arzt und Patient körperliche Berührungen ermöglichen, ohne je die Option der Intimität in Reichweite zu rücken. Sogar mit Erving Goffman, dem Meister der Interaktionsanalyse, könnte man sich ablenken, indem man sich an den Gedanken hält, dass man sich in einer Zahnarztpraxis hinter der Bühne befindet und die Zahnärztin braucht, um die Voraussetzungen für den Eindruck aufzupolieren, den man auf der Bühne der Gesellschaft machen muss und machen möchte.

An Gabriel Tarde allerdings, den Bruno Latour zu seinen wichtigsten Vordenkern zählt, sollte man sich auf dem Behandlungsstuhl besser nicht erinnern. Er würde darauf hinweisen, dass die aktuelle Form der Behandlung nur oberflächlich einen Streit stillstellt, der jederzeit um die Art und die Länge, den Anlass und den Preis der Behandlung wieder ausbrechen könnte. Welcher Patient kann schon kontrollieren, worauf der Arzt glaubt, mit seinen Bohrern reagieren zu müssen? Und auch mit Georg Simmel sollte man vorsichtig sein, den Latour zu wenig kennt, um sich auch auf ihn zu beziehen. Simmel würde in ein und derselben Geste seiner Begrifflichkeit vorführen, wie der Schmerz auf Abstand gehalten wird, im Modus dieses Abstands aber auch jederzeit erinnert werden kann.

Und auch bei Niklas Luhmann, den Latour etwas besser kennt, müsste man beim Zahnarzt vorsichtig sein. Man würde eine oberflächliche Kenntnis seines Werks empfehlen. Denn dann könnte man sich auf die Ausdifferenzierung verlassen, die den Körper mit seinem Schmerz vom Bewusstsein und dessen Aufmerksamkeit und beides von der Interaktion und deren im Moment unabsehbares Ende trennt. Ist man mit Luhmanns Werk vertrauter, wird es schwieriger. Denn dann fiele, ähnlich wie bei Simmel, das Riskante und Prekäre der Ausdifferenzierung auf, und man ahnte, wie schnell wieder zusammenschießen kann, was gerade noch sorgfältig getrennt war. Man würde dann den Tanz der Kommunikation beobachten, die antippt, worauf die Aufmerksamkeit gelenkt und wovon abgelenkt werden kann und sich zwischen Ärztin und Patient auf ein fast liebevolles Einverständnis einpendelt, worüber nicht zu reden ist, obwohl alle Beteiligten wissen, worum es geht.

Vielleicht wäre es beim Zahnarzt am besten, man wüsste gar nichts von der Soziologie und könnte sich an so bewährte Unterscheidungen wie diejenigen zwischen Körper und Bewusstsein, Natur und Gesellschaft, Technik und Kultur halten - um mit jeder dieser Unterscheidungen Möglichkeiten, ja Verfahren der Abstraktion zu gewinnen, die es erlauben, das Bewusstsein vor den Schmerzen des Körpers zu schützen, den Fortschritt der Gesellschaft im Umgang mit den Verfallsprozessen der Natur zu bewundern und sich daran zu freuen, wie kultiviert die Zahnärztin die Techniken handhabt, die fast unbemerkt jene Unterscheidungen setzen und unterstreichen, auf die man sich gleich anschließend verlässt, als hätte man sie nicht kurz zuvor selber erst hergestellt.

Mit diesem neuen Buch von Bruno Latour jedoch, das die mittlerweile beachtliche Forschungstradition der sogenannten "social science studies" erläutert, auf den Punkt bringt und noch einmal ein erhebliches Stück weitertreibt, hat man beim Zahnarzt keine Chance mehr auf eine Ausflucht. Man beobachtet jede einzelne der Unterscheidungen, Latour nennt sie "Klammern", dank deren die Situation einigermaßen erträglich wird, schaut dabei zu, wie sie hergestellt, gemacht werden, und stellt fest, wie sehr die eigene Mitarbeit vonnöten ist, selbst wenn man offenen Mundes, den Kopf nach hinten gelegt, nur in das Licht starren kann, von dem man weiß, dass es der Zahnärztin Dinge zeigt, die man sich selber lieber nicht anschauen würde und die so intim sind, dass sie jede Intimität ausschließen. Man bewundert, wie mit kleinen Bewegungen einer Sonde und eines Spiegels, eines scharfen Löffels, eines Exkavators oder Spatels sowohl der Patient ob des Kommenden unruhig beruhigt wie auch der Zugriff des Arztes sichergestellt werden kann. Man setzt die beruhigenden Bilder an der Wand (ich frage mich immer, warum diese Bilder nicht auch an der Decke hängen), das leise dudelnde Radio und das Surren des Bohrers, solange er noch keinen Kontakt mit dem Zahn hat, in Relation zur Tiefe des Eingriffs und stellt ein im wahrsten Sinne des Wortes synästhetisches Gesamtbild her, in dem tausend kleine Hilfskräfte am Werk sind, die es allen Beteiligten ermöglichen, in die Situation hinein und auch wieder aus ihr herauszukommen.

Schon lange war die Soziologie nicht mehr so sehr bei der Sache. Gerne konzediert man Latour den polemischen Übermut, mit dem dieses Buch geschrieben ist und mit dessen Hilfe er sich vom Normalbetrieb eines Faches absetzt, das sich so empirisch wie kritisch mit einem Bild der Gesellschaft eingerichtet hat, das zunehmend folkloristische Züge trägt. Mit diesem Buch steht ein weiteres Mal vor Augen, wie groß der Unterschied ist zwischen der soziologischen Theorie auf der einen Seite, die in der Lage ist, sich und der Sache, um die es ihr geht, nie so ganz über den Weg zu trauen, und einer Sozialforschung auf der anderen Seite, die ihr Repertoire an Begriffen und Methoden nur bereithält, um den nächsten Gegenstand damit einzufangen und einzuordnen.

Zu Recht überschätzt Latour die Reichweite der soziologischen Theorie in keinem Moment, ist sie doch nur eine unter den vielen Theorien, die auch die Netzwerke und ihre Akteure laufend hervorbringen, während er andererseits darauf hinweist, wie sehr die Kategorien und Statistiken der Sozialwissenschaften aus einer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken sind, in der keine Gruppe und kein Akteur mehr auftreten, die sich nicht mit Etiketten ausstatten, die aus der Begleitforschung der Sozialwissenschaften stammen. Man stelle sich einen Politiker, Unternehmer oder Richter, einen Angestellten, Studenten oder Arbeitslosen, einen Künstler, NGO-Praktikanten oder Ehemann ohne den Begleitschutz der Sozialwissenschaften vor. Nicht auszudenken, welche Hilflosigkeit man zu sehen bekäme.

Die Wirkung dieses Buches liegt darin, dass es die soziologische Theorie auf eine sogenannte Infrasprache zurücknimmt, die den Gegenstand nicht erfassen und ordnen soll, sondern die den Soziologen befähigen soll, den unterschiedlichsten Spuren zu folgen, mit denen der Gegenstand sich in der Praxis seiner Selbstherstellung finden und verfolgen lässt. Fünf Quellen der Unbestimmtheit gibt Latour der soziologischen Theorie mit auf den Weg, die sich an Einsteins Relativitätstheorie, der Latour schon 1988 einen wichtigen Aufsatz gewidmet hat, ebenso orientieren wie an der Quantenphysik - und dies, das sei hinzugefügt, ohne jeden oft allzu raschen Import einer naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit, die eher modischen als analytischen Bedürfnissen Rechnung trägt.

Erstens haben wir es immer mit Prozessen der Gruppenbildung zu tun und nie mit bereits fertigen Gruppen. Zweitens kann man nie genau wissen, wer es eigentlich ist, der handelt, so dass man zum Beispiel fragen kann, ob es die Karies oder der Patient ist, die bestimmte Handlungen der Zahnärztin auslösen. Drittens käme ohne Objekte, die ebenso als Mittler auftreten wie die vermeintlich unvermittelten Subjekte, keine Handlung zustande, man denke nur an die Bedeutung des Patientenstuhls in der Zahnarztpraxis. Viertens ist die Versammlung der Objekte und Akteure in die Konstruktion eines Netzwerks in jedem einzelnen ihrer Momente riskant, ohne dass es dies erübrigen würde, eine Sache so gut wie möglich zu bewältigen. Und nicht zuletzt kann niemand dem Soziologen, der nichts anderes herstellen kann als seinen Bericht, garantieren, dass er etwas anderes zustande bringt als einen wahren und vollständigen Bericht aus seiner Perspektive.

Mehr als es Latours Selbststilisierung vielleicht lieb ist, stimmt sein Plädoyer für eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft mit dem überein, was Niklas Luhmann mit der Systemtheorie vorhatte und was Harrison C. White, auf den sich bei Latour seltsamerweise keinerlei Hinweis findet, mit seiner Version einer Netzwerktheorie betreibt. Doch das ist selbstverständlich kein Einwand gegen dieses Buch, sondern eher eine weitere Begründung seiner Bedeutung. Man ahnt, was von der soziologischen Forschung in einer sich zur Weltgesellschaft und zur Computergesellschaft neu formierenden Gesellschaft der Assoziationen geleistet werden und durch sie gewonnen werden kann. Dafür nimmt man die Schmerzen beim Zahnarzt, die auch nichts anderes sind als eine wichtige Spur, gerne in Kauf.

DIRK BAECKER

Bruno Latour: "Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft". Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 488 S., geb., 32,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Besonders befriedigend findet Rezensent Harry Nutt nicht, wie sich der Wissenschafts- und Techniksoziologe Bruno Latour mit den losen Enden seiner wissenschaftlichen Disziplin befasst. Zwar ist der Ansatz, die "soziologischen Unbestimmtheiten" neu zu ordnen und den Verhärtungstendenzen innerhalb der Soziologie entgegenzuwirken, nach Nutts Meinung durchaus lobenswert. Doch sieht der Rezensent diesen Anspruch nicht unbedingt eingelöst. Die Theoriebildung kommt seiner Meinung nach überhaupt nicht in Fahrt, und er ertappte sich "bei der gereizten Frage", ob die Fragestellungen auch nur im Ansatz beantwortet werden. Dass das Buch mehr verspricht als es hält, liegt nicht nur an dem unglücklich übersetzten Titel. Im englischen Originatitel - "Reassembling The Social" - ist allerdings wenigstens weniger Selbstüberschätzung im Spiel.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Beeindruckend ist, wie Latour auf eine Beschreibung des Sozialen drängt, die nicht länger von der Gesellschaft, sondern von Individuen ausgeht.« Ludger Heidbrink DIE ZEIT