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Das meint die buecher.de-Redaktion: Es ist wirklich bedauerlich, dass Erzählungen hierzulande so selten Leser und Käufer finden. Dabei gibt es kaum etwas Schöneres als eine gelungene Erzählung: welthaltig wie ein guter Roman, poetisch eindringlich wie ein Gedicht.
Ralf Rothmann gehört zu den Autoren, die die Form der Erzählung meisterhaft beherrschen, was er in „Shakespeares Hühner“ erneut unter Beweis stellt.
In seinen acht Geschichten begegnet man Menschen, die scheinbar verloren haben, die sich an einem Punkt in ihrem Leben befinden, nach dem es nur noch bergab zu gehen scheint,
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Produktbeschreibung
Das meint die buecher.de-Redaktion: Es ist wirklich bedauerlich, dass Erzählungen hierzulande so selten Leser und Käufer finden. Dabei gibt es kaum etwas Schöneres als eine gelungene Erzählung: welthaltig wie ein guter Roman, poetisch eindringlich wie ein Gedicht.

Ralf Rothmann gehört zu den Autoren, die die Form der Erzählung meisterhaft beherrschen, was er in „Shakespeares Hühner“ erneut unter Beweis stellt.
In seinen acht Geschichten begegnet man Menschen, die scheinbar verloren haben, die sich an einem Punkt in ihrem Leben befinden, nach dem es nur noch bergab zu gehen scheint, verlassen, verloren, verraten, krank, gescheitert. Aber Ralf Rothmann blickt mit wenigen Sätzen und ganz beiläufig tief ins Herz seiner Figuren und zeigt viel mehr von ihnen als nur ihr Scheitern, schenkt ihnen Hoffnung und gibt ihnen ihre Würde zurück. Großartig!
In einer der neuen Erzählungen Ralf Rothmanns denkt Fritzi, eine junge Gitarristin, über William Shakespeare nach und findet: »Verglichen mit den Sorgen und Nöten seiner finsteren Gestalten sind wir eigentlich nur Hühner oder? Shakespeares Hühner. Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram - Prüfungen, Lockenstäbe, Handymarken, Geld -, und wissen insgeheim doch alle, dass es nicht das Wahre ist. Dass nichts das Wahre sein kann hinterm Hühnerdraht.« Dramatische oder auch beglückende Wendepunkte im Leben schildert dieses Buch, dessen Sprache durch eine magische Genauigkeit besticht, und ob wir nun vom Selbstbetrug eines sterbenden Stasi-Beamten, von einer missratenen Orgie an der Ostsee, vom Wiedererwachen einer Liebe in einem japanischen Kloster oder vom Gedächtnis des Schnees hören: »Es ist ja nicht dieser oder jener Zustand, der das Leben ausmacht«, sagt Fritzi. »Es sind die Übergänge, wie in der Musik. Manchmal denke ich, sogar der Tod ist nur ein Akkordwechsel.« RalfRothmann, der unangefochtene Meister der langen wie der kurzen Prosa, hat Erzählungen geschrieben, deren Realismus von der Sehnsucht nach dem Unvermuteten befeuert wird, voller Humor und Empathie. Und deren Nachhall verändert.
Autorenporträt
Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt seit 1976 in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Hellauf begeistert ist Markus Clauer von Ralf Rothmanns Erzählungsband "Shakespeares Hühner", an dem er insbesondere die Authentizität der geschilderten Figuren und Situationen zu schätzen weiß. Der Autor, aus dem Ruhrgebiet stammend und ehemaliger Maurer, wie der Rezensent berichtet, verstehe es in unnachahmlicher Weise, sich in die Befindlichkeit von Außenseitern einzufühlen. Vehaltene Kritik äußert der Rezensent nur an Rothmanns Bemühen, die Milieus und Perspektiven zu diversifizieren und damit gelegentlich das bewährte Terrain zu verlassen - wenn es nach Clauer geht: lieber Männer in Deutschland als Frauen in Frankreich beschreiben! In seinen stärksten Momenten, von denen es, wie der Rezensent versichert, viele gibt, erinnere ihn Rothmann an John Steinbeck und lasse sogar "die Tatsache, dass sich das jemand ausgedacht hat", vergessen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2012

Maus, wo ist dein Ohr, Tod, wo ist dein Stachel?

Als wohnte in jedem Herzen die Ahnung der Liebe und das Echo des Endes: Ralf Rothmann erweist sich mit seinem Erzählungsband "Shakespeares Hühner" als Meister des schwerelosen Pathos.

Wie fühlt sich eine Maus, mit der die Katze ihr grausames Spiel treibt, eine Maus, die zuerst den Schwanz verliert, dann ihre Ohren einbüßt, die winzigen Mäusekrallen, das Näschen und am Ende das ganze kleine graue Fell? Wir können es nicht wissen, aber wir können versuchen, das, was wir nicht wissen können, in Worte zu kleiden. Wem es gelingt, ist ein Dichter.

Ralf Rothmann, der gern von Tieren spricht, um von Menschen zu erzählen, handelt in seinen Büchern fast immer von dem, was wir nicht wissen können, von den Mysterien der Liebe und des Todes vor allem, und davon, wie beides zusammenhängt und manchmal sogar in einem Einklang zu stehen scheint, den man weder sehen noch hören kann, den Rothmann aber doch zu beschreiben weiß, weil er Worte und Bilder dafür findet. Etwa, wenn das unerfüllte Begehren, die Sehnsucht und die Einsamkeit eines Heranwachsenden dazu führen, dass dieser im Herzschlag der schlafenden Frau in seinen Armen einen Doppelschlag verspürt, "als wäre da noch ein Puls unter ihrem Puls, ein zarterer, und auch der schien ein leises Echo zu haben".

Zuvor hatte der Ich-Erzähler der letzten der acht Erzählungen dieses Bandes daran gedacht, dass er am nächsten Morgen wieder würde Schnee räumen müssen. Ein prosaischer Gedanke. Bei den meisten anderen Autoren wäre er nur das offensichtliche Signal dafür, dass das Abenteuer, das keines war, nun vorüber ist und Alltag und Routine sich fordernd zurückmelden.

Der Ich-Erzähler und sein Freund Lars haben in einer Kneipe zwei junge Frauen aufgegabelt und in die schicke Ferienanlage mitgenommen, in der die Mutter des Erzählers als Hausmeisterin arbeitet und ihr Sohn, ein arbeitsloser Fliesenleger mit abgebrochener Lehre, ihr zur Hand geht. Aber während Lars und die hübsche Aischa sich in ein frisch bezogenes Gästebett stürzen, hält Marlies den Jungen auf Distanz, die sie erst aufgibt, als sie ihm klar gemacht hat, dass ihr nach einer Liebesnacht nicht zumute ist, weil sie gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Und so fügt sich der schüchterne, an Niederlagen gewöhnte Ich-Erzähler in sein Schicksal: Die schlafende, vollständig bekleidete Marlies im Arm, die nackte, vor Lust stöhnende Aischa im Nebenzimmer, denkt er an den nächsten Morgen und den Schnee, den er wird räumen müssen wie schon so oft zuvor. So könnte die Geschichte ihr Ende finden, wenn ihr Autor nicht Ralf Rothmann hieße.

Rothmann lässt nun noch drei kurze Absätze folgen, nicht mehr. Darin erinnert sich der Erzähler daran, wie er als Kind entdeckt hat, dass auch der Schnee ein Gedächtnis besitzt. Denn die Spuren der Tiere, die mit jedem neuen Niederschlag zu verschwinden scheinen, werden im Schnee bewahrt und treten wieder zutage, wenn es taut, Schicht um Schicht: "Sogar in der letzten glasigen, kurz bevor das fahle Gras erscheint, oder die eine oder andere Krokusspitze, erkennt man die Tritte von Hirschen, Vögeln oder Hasen, die vor Monaten dort gegangen waren und längst woanders leben. Oder längst tot sind."

Und so, mit der Hand auf dem Herzen der Schlafenden, und dem Gedanken an die Spuren, die tote Tiere im Schnee hinterlassen haben, der erst in jenem Moment offenbart, dass er ihre Tritte bewahrt hat, in dem sie im Tau endgültig verloren gehen, spürt der Junge den Puls unter dem Puls, als wohnte in jedem Herzen immer schon das Echo des Todes.

Acht Erzählungen versammelt dieser Band, die kürzeste gerade einmal acht, die beiden längsten fast vierzig Seiten lang. Die Themen sind die alten Rothmann-Themen von Außenseitertum und Scheitern, Sehnsucht, Liebe, Einsamkeit und Tod. In ihrer Variation zeigt sich indes nicht Stagnation, sondern wahre Meisterschaft. Rothmanns Universum scheint beherrscht von Wiedergängern: einsilbige Bergleute und zotige Arbeiter; eigensinnige, lebenshungrige Frauen, die ihr Milieu abstreifen wollen wie ein abgetragenes Kleid, dass ihnen weder passt noch steht; Heranwachsende im Kleine-Leute-Milieu, die mit feinstem Sensorium erotische Signale auffangen und zu entschlüsseln versuchen, als hätten sie es mit Hieroglyphen zu tun. Aber im neuen Band kommen auch neue Milieus hinzu, neue Figuren und mit ihnen neue Perspektiven.

Für "Othello für Anfänger", der Erzählung, in der Shakespeares Helden und Hünen mit den titelgebenden Hühnern des Dramatikers verwechselt werden, schlüpft Rothmann in die Haut einer jungen Ich-Erzählerin, die im Schultheater die Desdemona spielte, sich zu ihrer Verblüffung auch jenseits der Bühne in den Armen einer leidenschaftlich-besitzergreifenden Othello-Darstellerin wiederfindet und sich im gemeinsamen Urlaub mit dem eifersüchtigen Tomboy zu einer Kneipenbekanntschaft flüchtet, einem jener schüchternen jungen Burschen, aus deren Perspektive Rothmann schon so oft erzählt hat.

Um gleichgeschlechtliche Liebe geht es, zumindest am Rande, auch in "Der Hunger der Vergesslichkeit", einer Erzählung, in der es einen Bauleiter von Düsseldorf nach Berlin verschlägt, wo er in der Remise neben dem Haus seiner alten Tante unterkommt, die im Gegensatz zum Rest der Familie nach Kriegsende nicht in den Westen gegangen war, sondern im Osten Berlins geblieben war - der Liebe wegen. Nun findet ihr nicht mehr ganz junger Neffe nach Karriereknick, Scheidung und Zwangsversteigerung der Düsseldorfer Villa hier nicht nur einen Liebhaber, sondern er lernt einen jener Greise kennen, die sich bis zum letzten Atemzug an ihre Ideologie klammern, unverbesserlich, starrköpfig, stolz und nicht ohne Würde. Das historische Werk, an dem der alte Mann mit dem Eifer und der Genauigkeit des peniblen Buchhalters schreibt, erweist sich am Ende als pure Geschichtsfälschung in eigener Sache. Es ist eines jener Luftschlösser, von denen es in der Erzählung einmal heißt, auch sie bedürften einer Statik. Da ahnt der Architekt und Bauleiter noch nicht, dass er es in dem Alten mit einem gewieften Apologeten der eigenen Lebenslügen zu tun hat, der Rothmanns poetisches Credo indes ohne jedes Zögern unterschreiben würde: "Fakten sind bestenfalls die Wirklichkeit; sie mögen hart oder unumstößlich oder nicht von der Hand zu weisen sein, aber am Ende kühlen sie einen aus. Die Wahrheit liegt woanders."

Von der Wirklichkeit und ihren Fakten nicht ausgekühlt zu werden, das ist die Aufgabe, der sich Rothmanns Figuren gegenübersehen, so unterschiedlich ihre Betriebstemperaturen auch sein mögen. Onkel Gabi, wie der stoische Riese im weißen Kittel mit gutmütigem Kollegenspott genannt wird, hat als Mädchen für alles im Krankenhaus am Wochenende den Leichenstau in der Pathologie zu bewältigen. Ein schlichter Mann mit dunkler Vergangenheit und geringen Ansprüchen, ein später Nachfahre des armen einfältigen Wanderarbeiters Lennie aus John Steinbecks Klassiker "Von Mäusen und Menschen". Der aufgeweckte Neunjährige aus der Nachbarschaft, der den rauchenden Riesen im Krankenhausgarten entdeckt, merkt rasch, dass sein neuer Freund aus einer ganz anderen Welt stammt als seine Mutter, die Opernsängerin, und sein Vater, der Schriftsteller. Es ist das Kind, das den gutmütigen Riesen adoptiert.

John Steinbeck zitierte mit den Titel seiner Novelle Robert Burns Gedicht "To a Mouse"; Rothmann lässt nun seinen Riesen das Mausgedicht beenden, dass sein altkluger kleiner Freund schreiben wollte, weil ihn die toten Mäuse, die von der hochmütigen Katze als Trophäen ins Haus geschleppt werden, gerührt haben. Mithilfe eines Reimlexikons verfasst Onkel Gabi nun schlichte Verse, die Mäusen und Menschen das Herz schwer lassen werden.

Der einfältige Riese in der kühlen Pathologie als warmherziger Dichter? Klingt schrecklich. Kann das überhaupt gutgehen? Eigentlich nicht. Ralf Rothmann gelingt es. Weil er sich um die Wirklichkeit der Fakten nicht mehr schert als für einen Dichter nötig ist, und weil er kennt, was niemand berechnen kann: die empfindliche Statik des menschlichen Herzens.

HUBERT SPIEGEL

Ralf Rothmann: "Shakespeares Hühner". Erzählungen.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 211 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.05.2012

Dieses Gegacker um
nichts als Lockenstäbe
Ralf Rothmann tanzt als Erzähler lässig auf dünnem Eis
– nicht immer halten „Shakespeares Hühner“ die Balance
Mit Tieren hat es bei Ralf Rothmann eine besondere Bewandtnis. Sie dienen nicht als Metaphern, müssen nichts „bedeuten“, treten aber meist dort in Erscheinung, wo im ansonsten handfesten Realismus der Erzählprosa etwas Ungesagtes, Unbewusstes oder Unerklärliches ins Spiel kommt, das weder durch Bilder noch durch Begriffe verdeutlicht wird. Bei den Erzählungsbänden „Ein Winter unter Hirschen“ und „Rehe am Meer“ war ein solches Tier-Rätsel jeweils schon im Titel präsent, und die Buchumschläge zeigten, passend dazu, Fragmente von Geweihen oder großäugigen Rehköpfen. Diesmal ist die Konstellation skurriler: Für „Shakespeares Hühner“ wurde ein Fuchs als Titel-Illustration gewählt, und das Federvieh selbst hat einen völlig geheimnislosen, nun in der Tat metaphorischen Auftritt.
Es sinniert hier nämlich die junge Fritzi, die für eine Schüleraufführung die Desdemona einstudieren musste, dabei an ein betagtes Buch über Shakespeares „Hünen“ geriet und diese zunächst mit „Hühnern“ verwechselte: „Angesichts der Sorgen und Nöte seiner Gestalten, die ihre finsteren Schicksale wie riesige Kreuze mit sich herumschleppen, sind wir eigentlich nur Hühner, oder? Shakespeares Hühner. Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram – Prüfungen, Lockenstäbe, Handymarken, Geld – und wissen insgeheim doch alle, dass es nicht das Wahre ist. Dass nichts das Wahre sein kann hinterm Hühnerdraht.“
Man würde Rothmann, der als Schriftsteller so raffinierte Mittel gefunden hat, „das Wahre“ zu umkreisen, an dieser Erzählung nicht unbedingt wiedererkennen. Bei allem Respekt vor der Virtuosität, mit der er sich in fremde Ichs hineinversetzt, wirkt der südfranzösisch aromatisierte Liebeskonflikt zwischen Fritzi und der besitzergreifenden Dinah (sie mimte den Othello) ein wenig zu spätpubertär und Brigitte-kompatibel, um als ernstzunehmende Literatur durchzugehen, trotz Shakespeare und wohlfeiler Lebensphilosophie.
Viel besser funktioniert die Anverwandlung, wenn der Autor in die Rolle jener schüchternen, sensiblen jungen Männer schlüpft, in denen er seine eigene Jugend wiedererstehen lässt. So einer ist der Ich-Erzähler der Geschichte „Frischer Schnee“, der mit seinem dreisteren und erfahreneren Freund zwei junge Frauen aus der Kneipe abschleppt. Eine strandnahe Ferienanlage im Winterschlaf wird zum Ort einer seltsamen Liebesnacht, in der das eine Paar sich lautstark und lüstern dem schnellen Vergnügen widmet, während das andere – der Erzähler und die weniger attraktive Frau – im Nebenraum keusch auf dem Sofa liegt und sich in menschlicher Annäherung versucht.
Draußen schneit es unablässig, und kurz vor dem Wegdämmern, die Hand auf dem Herzen seiner Schlafgenossin, erinnert sich der Junge an seine Kindheit am Waldrand und an die übereinander gelagerten Trittspuren von Hirschen, Vögeln oder Hasen, die das Tauwetter in jedem Frühjahr zutage förderte, Schneeschicht um Schneeschicht. Ohne zu wissen, warum, bringt er jenes Erlebnis mit dem Pochen unter seiner Hand in Verbindung: „Weil sie so einen Doppelschlag hatte, fühlte sich das an, als wäre da noch ein Puls unter ihrem Puls, ein zarterer, und auch der schien ein leises Echo zu haben.“ Da sind sie wieder, die Tiere, und diesmal bringen sie eines jener kleinen, hellen Mysterien mit, die Rothmanns Menschen-Panoptikum so interessant machen.
Ein Art- und Seelenverwandter dieses Schneeträumers ist der Erzähler in „Alte Zwinger“, einer Geschichte, in der Rothmann das Milieu seiner Herkunft aufgreift. Im Ruhrgebiet der sechziger Jahre wird der vierzehnjährige Tim von seinem Mitschüler Raskin zum Besuch bei einer ehemaligen Sängerin und Bardame animiert, die als Hure verrufen und angeblich auch für die ersten sexuellen Erfahrungen von Pubertierenden zuständig ist. Auf ihrem verwahrlosten Anwesen am Rand eines Baggerlochs haben ihre Eltern, aus Böhmen stammend, einst eine Hundezucht betrieben, und am Zaun hängt noch ein verwittertes Firmenschild mit den Umrissen eines Dackels – da sind sie wieder, die Tiere. Drinnen erleben die beiden Jungen eine grausige Überraschung, aber in die detaillierte Schilderung des Schrecklichen hat der Autor lakonisch ein Zeichen aus einer anderen Welt gesetzt: Mitten im Chaos steht ein Klavier mit einem Campingstuhl davor, und auf dem Fensterbrett liegen die Noten von Schuberts „Winterreise“.
Um weiter nach Tierspuren zu suchen: Als die Gäste eines japanischen Zen-Klosters, ausnahmslos Abendländer, in einer Regennacht zum Tempel pilgern, müssen sie einer Prozession von Fröschen ausweichen, von denen etliche missgebildet sind. Zuvor, während der Gruppenmeditation, ist ein krähenartiger Vogel gegen die Fensterscheibe geprallt und mit verletztem Flügel davongehüpft. Das alles kann etwas mit der brüchigen Beziehung der beiden Hauptfiguren zu tun haben – muss es aber nicht.
Zwei alte Freunde aus der DDR-Volksarmee begegnen sich nach Jahrzehnten wieder – auf einer Trabrennbahn, deren Atmosphäre der Autor so lebendig beschreibt, dass man den Pferdemist förmlich riecht. Ein Hilfspfleger, Typ „gutmütiger Riese“ mit undurchsichtiger Vergangenheit, der in der Klinik-Pathologie für die Beseitigung des Leichenstaus zuständig ist, freundet sich mit einem Neunjährigen aus der Nachbarvilla an und vollendet dessen Gedicht über eine tote Maus: So unübersehbar wie unaufdringlich ist hier die Hommage an John Steinbeck – ganz abgesehen davon, dass Rothmanns Geschichten in ihren besten Momenten die Eleganz und Ökonomie großer amerikanischer Erzählkunst in Erinnerung rufen.
Es gibt auch „Tierfreies“ in diesem Band: Ein Düsseldorfer Architekt sucht nach einem Karriereknick Zuflucht bei seiner Berliner Tante und lernt dort einen Ex-Beamten der DDR kennen, einen schwerkranken alten Mann, der mit seiner obsessiven Forschung über faschistische Bluttaten Geschichtsfälschung zugunsten seines eigenen Vaters betreibt. Und dann ist da noch die Eingangserzählung – sie spielt in einem Pariser Bistro und inszeniert die flüchtige Begegnung zwischen einer jungen Berlinerin und einem Pilzsammler, der alle Merkmale des Dichters Peter Handke trägt.
Ralf Rothmann hat, horizontal gesehen, seinen Spielraum erweitert, erprobt neue Rollen, Milieus und Situationen, nach wie vor bewundernswert in seiner Balance zwischen Einfühlung und Bodenhaftung. Das Wunderbare oder Wundersame allerdings, das manchen seiner früheren Erzählungen eine schwindelerregende Tiefe verlieh, scheint sich auf dem Rückzug zu befinden. Das ist schade, denn in Rothmann haben wir einen der wenigen deutschen Autoren, die sich auf solch dünnem Eis lässig zu bewegen wissen.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
RALF ROTHMANN: Shakespeares Hühner. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 212 Seiten, 19,95 Euro.
Die besten Geschichten haben
die Eleganz und Ökonomie
großer amerikanischer Erzähler
Neue Farben auf der Palette: Ralf Rothmann. Foto: Jens-Ulrich Koch/ddp
Verglichen mit Shakespeares Hünen seien wir doch eigentlich nur Hühner, Shakespeares Hühner, sinniert Fritzi, die gerade die Rolle der Desdemona für eine Schüleraufführung einstudiert. Und insgeheim wüssten wir schon, „dass nichts das Wahre sein kann hinterm Hühnerdraht“. Foto: Topical Press Agency/Getty Images
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