16,80 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Broschiertes Buch

Flickwerk betreibt, wer Notlösungen für reale Probleme findet. Doch wie soll sich der anders verhalten, dem seine Existenzgrundlage genommen ist, der gar nicht oder »kurz« arbeitet? Wie sind ernst gemeinte Vorschläge eines Politikers zu verstehen, den »Tüchtigen und Tätigen« ein doppeltes Stimmrecht zu geben? Volker Braun, der die große Misere in den tagtäglichen Entscheidungen zwischen Erfurt, Kaiserslautern und Venezuela entziffert, teilt uns in Flickwerk 64 Episoden aus der katastrophischen Gegenwart mit, bei denen nicht zu entscheiden ist, ob man über unsere Situation weinen oder lachen…mehr

Produktbeschreibung
Flickwerk betreibt, wer Notlösungen für reale Probleme findet. Doch wie soll sich der anders verhalten, dem seine Existenzgrundlage genommen ist, der gar nicht oder »kurz« arbeitet? Wie sind ernst gemeinte Vorschläge eines Politikers zu verstehen, den »Tüchtigen und Tätigen« ein doppeltes Stimmrecht zu geben? Volker Braun, der die große Misere in den tagtäglichen Entscheidungen zwischen Erfurt, Kaiserslautern und Venezuela entziffert, teilt uns in Flickwerk 64 Episoden aus der katastrophischen Gegenwart mit, bei denen nicht zu entscheiden ist, ob man über unsere Situation weinen oder lachen soll.Flickwerk vereint in seinen Kurzreportagen die Tradition von Bertolt Brechts Geschichten von Herrn Keuner mit Thomas Bernhards Miniaturen im Stimmenimitator: Es entstellt auf diese Weise unsere Gegenwart zur Kenntlichkeit. Flickwerk belegt erneut die hohe Kunst des Schelmenschriftstellers Volker Braun, unsere Wirklichkeit so zu finden und zu erfinden, daß wir nicht entscheiden können, ob wir die Narren sind oder die Dummen uns vorführen.
Autorenporträt
Braun, VolkerVolker Braun, 1939 in Dresden geboren, arbeitete in einer Druckerei in Dresden, als Tiefbauarbeiter im Kombinat Schwarze Pumpe und absolvierte einen Facharbeiterlehrgang im Tagebau Burghammer. Nach seinem anschließenden Philosophiestudium in Leipzig wurde er Dramaturg am Berliner Ensemble. 1983 wurde Volker Braun Mitglied der Akademie der Künste der DDR, 1993 der (gesamtdeutschen) Akademie der Künste in Berlin. 1996 erfolgte die Aufnahme in die Sächsische Akademie der Künste und in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Im Wintersemester 1999/2000 erhielt er die Brüder-Grimm-Professur an der Universität Kassel. Von 2006 bis 2010 war Volker Braun Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste. Er erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Georg-Büchner-Preis im Jahr 2000. Volker Braun lebt heute in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2009

Auf dem Narrenschiff
Antifiskalischer Bürgerkrieg: Volker Brauns Glossen

Was bitte ist da los? Im brennenden Mahagonny tanzt der Dreigroschenverstand über den Tresen, macht die eigentlich Schuldigen für den Niedergang aus: keineswegs die Ideologie der Individualgier, keineswegs das Bankensystem, sondern, Bingo, die Arbeitslosen - Florida-Rolf und Gemüse-Ali. Thilo Sarrazin hat das altgediente Parasitenmodell hervorgeholt: Ein leistungsstarkes, aussterbendes "Wir" halte ein nutzloses, wild kopulierendes "die" aus, beide Seiten schön rassisch abgegrenzt. Als gebende, und zwar bedeutend zu viel gebende Hand fühlt sich auch Peter Sloterdijk, redet dem antifiskalischen Bürgerkrieg das Wort, der Hartz-Dauerlösung durch Steuerverweigerung: Soll das Geschmeiß - von der alleinerziehenden Mutter bis zum Behinderten - doch lieber auf die Gnade der Reichen angewiesen sein und bei erwartbarer Ungnade, ganz nach Sarrazin, eben "woandershin gehen".

Ein gewissermaßen professioneller Beobachter der großen Entsolidarisierung ist seit Jahren Volker Braun, geschult noch am alten Brecht-Ensemble Helene Weigels und schon in der DDR mit deprimierenden Stücken auf literarische Schocktherapie setzend. Erst im vergangenen Jahr ist er mit dem "Schichtbuch des Flick von Lauchhammer", einem arbeitslosen Bergbauexperten aus der Lausitz, durch die Schächte und Stollen der Ein-Euro-Jobs gefolgt. "Flickwerk", im Umkreis dieses Schelmenromans entstanden, nimmt im Titel Bezug auf einen Ausspruch des Berliner Wirtschaftstheoretikers Michael Burda. Dieser hatte die Bemühungen des Bundesarbeitsministeriums um Erhöhung der Beschäftigungszahlen durch Lohnzuschüsse und gelockerten Kündigungsschutz "Flickwerk" genannt.

Braun möchte darin eine Zustandsbeschreibung "der ganzen bunten Gattung" erkennen. Das Modell gibt Sebastian Brants "Narrenschiff" ab, und Brauns Kontrafaktur der Gesellschaftssatire gelingt getreuer, als es ihr guttut: Denn so ganz anders als der Shakespearesche Narr ist derjenige Brants ein Muster an Verderbtheit, gottesfern, dumm und maßlos. Zwar hat Braun alle Schichten unserer Gesellschaft im Narrenverdacht, aber die Erwerbslosen-Meute bildet denn doch den Dreh- und Angelpunkt dieser über sechzig Kurztexte, die sich oftmals um Zeitungsmeldungen ranken.

So erinnern Brauns Glossen - abgesehen von dem barocken Schwulstton, den schlechten Kalauern (die Arbeitslosen sollten nach "Verdi"-Vorbild die Gewerkschaft "Wagner" gründen) und den lauen Pointen ("Die Gerechtigkeit ist die Pasta des Volkes") - an Kalendergeschichten, nur dass Herr Keuner sich dabei in die Albträume der zynischen Vernunft verirrt zu haben scheint. Gleich zu Beginn schon weigern sich die "Hoffnungslosen", kleine Lösungen anzuerkennen, weil sie nur allzu gern im Luxus darben. Würdelos versuchen sie daraufhin unablässig, Bestimmungen zu hintergehen, mehr aus dem Staat herauszupressen. Bedarfsgemeinschaften werden geleugnet, Nieren verkauft, ganze Eisenbahnstrecken entwendet, und das alles besten Gewissens: "Verurteilt, töricht zu sein und sich an den gedeckten Tisch zu setzen."

Ein vor der Ausweisung zitternder Ausländer (Braun sagt "Asylant") lügt sich um den Verstand: "Man hätte ihn selbst aus Münchhausen ausweisen müssen." Nichts scheint dem Autor so unsinnig wie ein übergebratenes Schlaraffenland. Sei einmal die Scham verloren, trete die Unverschämtheit auf den Plan: "Und warum nicht der Fernseher, warum nicht Ferien?", fragen die Vollfinanzierten auf dem Höhepunkt der Undankbarkeit. Welch eine Vermessenheit, als Arbeitsloser an Ferien zu denken!

Dass die lustigsten Akte der menschlichen Komödie in der Unterschicht spielen, ist womöglich einfach wahr. Doch in diesem Fall wird weniger gelacht als ausgelacht, hat sich ein Tonfall der Abschätzigkeit in die Narrenhistörchen gefressen, der das Buch schwer verdaulich macht. Eine Geldregeninstallation beispielsweise bringt den abrechnenden Erzähler auf folgende Idee: "So könnte man, um zum Brot die Spiele zu geben, die Stütze aus dem Sozialamt streuen und dem Pack auf die Sprünge helfen." Ironiesignale fehlen.

Nur einmal scheint da eine andere, revolutionäre Botschaft zu sein: Es müsse, so wird angedeutet, doch im Interesse der Abgewrackten selbst liegen, den in den Mund geflogenen Schweinebraten und das "Bier, in dem sie badeten", stolz auszukotzen: "Der Nischel hebt sich; und wer weiß, was wird" (Nischel ist der mitteldeutsche Ausdruck für "Kopf"). Misstrauisch macht bloß, dass die Idee mit dem Zorn wieder wie bei Sloterdijk, dem rhetorisch brillanten Philosophen des Ressentiments, abgeschrieben wirkt. Vielleicht ist Zorn überhaupt das neue Codewort für ein als pädagogische Maßnahme ausgegebenes Hungern: Wenn die Unnützen nur Ehre im Leib haben, werden sie gar nicht mehr essen wollen.

OLIVER JUNGEN

VolkerBraun: "Flickwerk". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 82 S., br., 16,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ganz wohl fühlt sich Oliver Jungen nicht beim Lesen von Volker Brauns kontrafaktischer Satire auf die Welt der "Erwerbslosen-Meute". Obgleich er den Autor als Profi-Erkunder entsolidarisierender Bewegungen und literarischen Schocktherapeuten kennt, erscheint ihm der Generalverdacht der Narretei in den gut 60 versammelten Texten dann doch ein bisschen zu sehr barock beziehungsweise allzu lau kalauernd vorgetragen. Und: Auslachen gilt nicht, findet Jungen. Den abschätzigen Ton dieser Glossen schätzt er gar nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Braun platziert seinen Meister Flick strategisch klug an die Schaltstellen der real existierenden Marktwirtschaft. Dort lässt er ihn agieren: derart kompromisslos, auf seiner ureignen Logik beharrend, wie es nur einer literarischen Gestalt dieses Formats erlaubt ist. Es ist grotesk. Aber was ist grotesk? Nicht der Text, nein, sondern die Welt, aus der er entstanden ist.« Gabi Rüth actalitterarum.de