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»Ediths Wohnung hat Krebs, und die Metastasen treiben Plastikblumen, Goldherzen, Blumenkränze in die Ecken und Augenwinkel. Bunte Karzinome wuchern von allen Seiten in Richtung Fernseher.« Die Bewohnerin selbst ist etwas aus der Art geschlagen; ständig unter Hochdruck, sprengt sie am Weihnachtsabend den Familienverband. Auch der Optiker in der titelgebenden Geschichte unterliegt einem unkontrollierbaren Impuls und fällt bei der Wohnungssuche plötzlich aus der Rolle; die Gruppe Studienstiftler in Nachtschwimmen wird von einer Dynamik ergriffen, die beinahe tödlich endet; und Jonna, die junge…mehr

Produktbeschreibung
»Ediths Wohnung hat Krebs, und die Metastasen treiben Plastikblumen, Goldherzen, Blumenkränze in die Ecken und Augenwinkel. Bunte Karzinome wuchern von allen Seiten in Richtung Fernseher.« Die Bewohnerin selbst ist etwas aus der Art geschlagen; ständig unter Hochdruck, sprengt sie am Weihnachtsabend den Familienverband. Auch der Optiker in der titelgebenden Geschichte unterliegt einem unkontrollierbaren Impuls und fällt bei der Wohnungssuche plötzlich aus der Rolle; die Gruppe Studienstiftler in Nachtschwimmen wird von einer Dynamik ergriffen, die beinahe tödlich endet; und Jonna, die junge Mutter, kann den Erwartungen der Gesellschaft nicht entsprechen: Das Baby liegt ihr in den Armen wie ein Alien.

Es sind die Momente, in denen etwas entgleist und der Organismus sich gegen sich selbst wendet, die Thomas Melle in seinem Debüt untersucht. Mit dem Blick eines Morphologen folgt er den Vernetzungen und Verästelungen dieser Welt, dringt ein in ihr Gewebe, entnimmt ihm Proben und spürt die Abweichungen in der Gesamtstruktur auf: Raumforderungen mutierter Zellen. Die Sprache wird dabei kontrollierten Wucherungen unterzogen, bildet Metaphern wie Metastasen und entfaltet ihre ganze expansive Kraft. Das Bekenntnis des Erzählers in Wuchernde Netze ist auch eines des Autors: »Ich glaube an den Text wie andere an Hexenflüche und Zaubersprüche.«
Autorenporträt
Thomas Melle, 1975 in Bonn geboren, lebt in Berlin. Studium der Komparatistik und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Er übersetzte William T. Vollmanns Roman Huren für Gloria, Suhrkamp 2005. Raumforderung ist Thomas Melles Debüt. Thomas Melle schreibt für das Theater, er ist mit zwei Stücken bei Hartmann & Stauffacher, zusammen mit Martin Heckmanns hat er das Stück 4 Millionen Türen geschrieben, das vom Suhrkamp Theaterverlag vertreten wird. Das Stück wurde im Oktober 2004 im Werkraum am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt und vom Schweizer Radio DRS 2 als Hörspiel produziert.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.05.2007

Drückt da schon die Zyste Hölderlins?
Durchaus unbescheiden: Thomas Melles Erzählungsband „Raumforderung”
In der Erzählung „Santo Lucci” lässt die weibliche Hauptfigur in der Erschöpfung eines Nervenanfalls den Kopf auf das Steuer ihres Wagens sinken: „Als Edith wieder auftaucht, hat sie das Gesicht eines Clowns, eines verrückten Clowns aber, im Regen gestrauchelt vielleicht, ohne Zirkus weit und breit”. Sie kehrt da gerade zurück von einem familiären Weihnachtsessen, bei dem es auch Karpfen gab, von dem es heißt, er sähe aus „wie ein Scherzartikel”.
Ein Clown ohne Zirkus ist in Wahrheit kein Clown, sondern ein unglücklicher Mensch. Die verrutschte Fratze ist echt. Während der echte Karpfen beim Weihnachtsessen wie künstlich erscheint. Die Natur sieht aus wie Plastik, wenn ein unglückliches Bewusstsein sie in den Blick nimmt. In solchen Bildern ist Thomas Melle stark. Sie sind enorm suggestiv, aber man kann sie auch begrifflich aufschlüsseln, und dann lösen sie eine zweite, eine reflexive Gänsehaut aus.
Die Erzählung „Gewissen” erzählt von der erloschenen Leidenschaft des Ehepaars Stefan und Annika. Ein tausendfach durchgespieltes Motiv in der Literatur. Aber Melle gewinnt ihm ein neues, erhellendes Bild ab. Natürlich, heißt es da, könne Stefan immer noch sehen, wie schön seine Frau sei, ihre hohen Wangenknochen, die Blässe ihrer Haut und so fort. „Er konnte das alles sehen, konnte Annikas Profil nachzeichnen und das Attraktive, Besondere an ihr aufsagen wie einen Bibelvers. Aber er konnte ihre Schönheit nicht mehr fühlen. Etwas von ihr kam nicht mehr zu ihm durch, etwas ging verloren auf dem Weg zu ihm, etwas, das Entscheidende. Wie ein längst kanonisiertes Kunstwerk: keine Aufregung, keine Begierde weit und breit, nur sanfter, musealer Frieden.”
„Raumforderung” heißt das Debüt des Schriftstellers Thomas Melle. Jahrgang 1975, ist er bisher als Übersetzer von William T. Vollmanns „Huren für Gloria” aufgefallen. Im vergangenen Jahr trat er mit der brillanten Erzählung „Nachtschwimmen” in Klagenfurt an, vermochte die Jury aber nicht zu überzeugen. Dass dies ein Fehler war, beweist nun spätestens dieser Erzählungsband. Er besitzt all jene Schwächen, die der Preis für das Risiko sind, kühn etwas Neues zu wagen. Und als Leser stellt man begeistert fest, dass man die Schwächen Melles aufregender findet als die meisten braven Perfektionismen eines allzu kontrollierten Erzählens.
Dabei haben Melles Schwächen alle etwas mit einem Gestus zu tun, den man – geschenkt! – als unbescheiden brandmarken kann: Zuviel Theorie, zuviel Reflexion, zu viel literatur- und philosophiegeschichtliche Anspielungen. Zu häufig die ganz großen Themen. Zu großes Selbstbewusstsein in der Wahl verschiedener Stilebenen. Außerdem das Kraftmeierische und der entschlossene Wille, im Hallraum der großen Geistesgiganten zu schreiben, statt sich in irgendeiner Schreibschule einzurichten. Kurz, jeder Beckmesser kann beim ersten Blick mit dem Finger auf Thomas Melles Schwächen zeigen. Aber vielleicht wünschte man sich in Wahrheit viel öfter diese Größenwahn-Attitüde, bei der man auch dort, wo sie ins Auge geht, wenigstens ein Zittern spürt.
Wuselndes Leben im Topf
In der Erzählung „Jonnas Baby” geht es um die Ästhetik des Schimmels. Und um eine junge Frau, Jonna, die ein Kind bekommt, zu dem sie keine wirkliche Beziehung aufbaut. Wie Melle aber diese beiden Motive zusammenführt, ist von abgründiger Meisterschaft. Der Ich-Erzähler beobachtet fasziniert, wie in einem Topf mit alten Spaghetti der Schimmel wächst. Mit seiner Farbenvielfalt hält er ihn für einen außergewöhnlich ausdrucksstarken Schimmel von geradezu „kitschiger Schönheit”: „Im Topf sah es sehr nach verkannter Pop-Art aus.” Während er Jonna von seiner Schimmelfaszination berichtet, erzählt diese von ihrem Kummer mit dem Kind, das ihr wie ein Alien im Arm liege. Und er entgegnet, dass der Schimmel für sich nur ästhetisch sei. Spannend würde es erst, wenn Würmer kommen: „Das ist unheimlich: wenn aus Totem plötzlich Leben entsteht. Das Unheimliche und Unnormale ist nämlich das Leben, nicht der Tod, der ist normal. Der Tod wird nur ekelhaft, wenn zuviel Leben in ihm wuselt.” – Dass das Unheimliche das Leben ist und nicht der Tod, von dieser Erfahrung berichten fast alle Erzählungen Melles.
Ein anderes wiederkehrendes Leitmotiv sind Entfremdungserfahrungen vom eigenen Körper. In der Erzählung „Nachtschwimmen” hat sich die Ich-Erzählerin an ihren Brüsten operieren lassen, weil sie ihr zu groß waren: „Die blaugeäderten Euter prahlten mit einer Fruchtbarkeit und Gebärfreude, die mein Weltbild verhöhnten”, erklärt sie und bekennt: „Wenn Männer an meinen Brüsten hingen und nuckelten wie Säuglinge, knirschte ich mit den Zähnen und zählte die Sekunden.”
In solchen Momenten ist der Erzähler Melle von geradezu süffig-eindringlicher Anschaulichkeit. Aber wie bei dem Zerebral-Lyriker Gottfried Benn, der in manchen von Melles Sätzen aufschimmert, gesellt sich sogleich ein Begriff dazu: Wie „der Blick des Betrachters auf die Bilder von Francis Bacon”, erläutert die Erzählerin in „Nachtschwimmen”, sei ihr Verhältnis zu ihrem Körper: „Man sieht den Kern der Form, das Menschliche, das sich hinter all den Kanten und Ecken und Bögen verbirgt. Aber schon dreht das Verhältnis sich um in einem Schock. Die Verzerrung scheint dem Menschlichen nun vorgeordnet.” Die Verzerrung des Menschlichen nämlich sei das Ursprüngliche, das Primäre, während das „Menschliche, Realistische, das Foto” als Lüge zu gelten habe. Die Welt ist ursprünglich derangiert, es ist nur unser verzerrender Blick, der uns eine ,heile Welt‘ vorspiegelt. Ein neuronales Synthetisierungsprogramm, das uns vor dem Unheimlichen des Lebens schützt.
Thomas Melle inszeniert in seinen Erzählungen ein Theater der Grausamkeit mit reichlich Anleihen bei Splatter, Porno und Psychoschocker. Aber faszinierender als die körperlichen Verzerrungen sind die mentalen. Bei mehr als einer Erzählung haben wir begeistert an den Rand notiert: „Welch geile kranke Phantasie.” Und das ist ja in der Tat ein ehrwürdiger ästhetischer Wert. Bis dann die Erzählung „Dinosaurier in Ägypten” kommt, die Geschichte einer Einlieferung in die Psychiatrie. Da wird es einem dann doch anders. Denn plötzlich wird der Irrsinn buchstäblich als Motor des Erzählens thematisiert. Der Protagonist dieser Erzählung ist, könnte man sagen, an einer Überdosis Poststrukturalismus erkrankt. Er betreibt eine Art neuronale Mimesis von Derridas Zeichentheorie, in deren unendlicher Differenz er selbst verloren geht. Die Zeichen, die kein festes Signifikat mehr finden und immer nur aufeinander verweisen, sind dem Protagonisten zum kognitiven Verknüpfungsmuster in seinem Kopf geworden.
Auch einem Literaturkritiker, der gewohnt ist, Kunst und Leben zu trennen, kommt bei der Eindringlichkeit, mit der Melle die Innenperspektive eines Psychiatriepatienten beschreibt, der Verdacht des Autobiografischen. Doch ist die Erzählung für einen Erfahrungsbericht zu klug und abgedreht konstruiert. Denn Melle weiß um die Klischeehaftigkeit von Wahnsinn und Künstlertum, den ganzen anti-psychiatrischen Foucault-Kitsch hat er immer schon reflexiv miteingebaut: „Oder ist das schon die Zyste Hölderlins, die drückt?”
Karzinogene Wortfetzen
Der Erzähler sagt: „Das Verrückte ist: Ich bin nicht verrückt. Denn wovon man spricht, das hat man nicht, so Novalis. Und von nichts anderem spreche ich als vom Wahnsinn.” Und diesen Wahnsinn, aus dessen Paradoxien es keinen Ausweg gibt beschreibt er als inverse Lektüre: „Die neuen Sätze waren in sämtliche Richtungen wendbar, ja, das Gelesene kehrte die Richtung um und begann, mich zu lesen.”
Die Vielfalt an Erzählstilen, die Melle entfaltet, ist enorm. Die lässigste und komischste Erzählung, deren extravaganter Prosastil nicht zufällig an Nabokov erinnert, heißt „Wuchernde Netze”. Sie ist das hinreißend narzisstische Bekenntnis eines Autors mit „Hang zu Krebsmetaphern”. „Ich selber weiß nicht genau, wo meine Vorliebe für karzinogene Wortfelder herrührt. Kaum schreibe ich, schon wuchert es.” Er, der Meister des „Krebsbarock”, nennt sich selbst die „Obernudel in der Buchstabensuppe”. Melle hat in dieser Schriftsteller-Parodie eine Selbstcharakterisierung eingebaut, hinter deren triftiger Anschaulichkeit jeder Rezensent nur zurückbleiben kann: „Trotz deftiger Details bin ich nämlich ein höchst theoretischer Schriftsteller, der sich lieber in die nächste Metaschleife hochschraubt, anstatt in schnödem Realismus den Asphalt der Straße zu besingen.”IJOMA MANGOLD
THOMAS MELLE: Raumforderung. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 200 Seiten, 15,90 Euro.
„Die ästhetische Erfahrung eines Swimmingpools konnte mich schon immer begeistern”, heißt es bei Thomas Melle. Foto: Millennium Images/Look-Foto
Auch im Umgang mit der Zigarette ist der Schriftsteller Thomas Melle ganz Vertreter der klassischen Moderne Foto: Ullstein/Schleyer
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2007

Die reizvolle Verpilzung der Welt

Thomas Melles Erzählungen sind verlockend und zugleich widerspenstig: Selten war es für den Leser so bereichernd, sich verwirren zu lassen, wie in den geglückten Texten dieses kompromisslosen Debüts.

Von Klaus Ungerer

Man mag das Buch gleich noch mal lesen. Nein, falsch: Man mag es zergliedern und zerlegen, man mag die zwölf Geschichten sortieren: Was gut ist, ins Köpfchen. Den Rest dem Vergessen anheim. Thomas Melle hat es nicht anders gewollt. Er hat einen Erzählband vorgelegt, der verlockend und doch widerspenstig ist, er hat eine Vorliebe fürs bunt schillernd Formlose zumindest ausformuliert, dass man nicht umhin kann zu scheiden: Beim zweiten Lesen würden wir nicht mehr lesen: "Das Kippy Game 1", vierzehn Seiten zwischen Computerspieltexturen und zerstückelten Briefen, zwischen Perspektivwechseln, die man nicht kapiert und um die man sich nicht bemühen mag, zwischen Wursttheke und irren Handlungsanweisungen, ein rechter Klump des Patchwork-Schreibens, welches das Erzählen aufgegeben hat, um den Leser in eine Wirrnis und Wildnis zu stoßen, die sich nicht erschließen mag oder vielleicht nur den besonders Schlauen oder besonders Wirren. Den nachfolgenden Text "Die Geisel" hingegen ließe man gleich ganz weg: fünf Monologe voller halluzinierter Gewalt und Selbstauflösung; vorgestriger, zwangsirrer Identitätsklumpatsch.

Zehn Geschichten blieben übrig - diejenigen, die man gerne wieder lesen und womöglich besser verstehen will. Am tiefsten blicken lässt Thomas Melle vielleicht in seinem seitenkurzen Abschlussstück "Sch (1997)", einer atmosphärischen, musikalischen Textfläche, einer Prosa, die doch Lyrik ist: Hier glaubt man einen Hauptantrieb dieses Autors zu erahnen, der sich wohltuend abhebt vom Gros des Buchmarkts, welcher ja meist das brav Wegerzählte favorisiert, das Handwerk ohne Kunst.

Thomas Melle liebt die Sprache, und seine Liebe wird erwidert: Dicht ist die seine, prall und perlend, ein flottes Tempo schenkt sie dem Leser, kühne Wendungen, Volten und Witze - wenn alles glatt läuft. Zu Glattes aber, zu Gelungenes ist vom Autor gar nicht gewünscht: Die verbliebenen Stücke sind neun Sprünge in neun Achterbahnen, und nicht immer kommt man wo an: "Der Ken" etwa behält seine Geschichte weitgehend für sich: Was mit dem Ken passierte und mit der Toni, für die er bestimmt schien, man erfährt es ja gar nicht, der Ken verschwindet hinter einem zehnseitigen Proll-Monolog, einer Sprachstudie, die bewusst um nichts kreist, die nur mit immer neuen, knackigen Floskeln eine Aufmerksamkeit anstacheln will, die dann aber doch irgendwann ermüdet.

Soll man nun weiter beckmessern, zergliedern? Thomas Melle hat es darauf angelegt. Er reizt den Leser. Er mag es, wenn seine Geschichten sich wegwenden, wenn sie den Leser in unerwartete Schlaglöcher ziehen. In vielen gelungenen und auch in anderen Momenten huldigt er dem großen Auseinanderfallen, der gemixten Nachvollziehbarkeit und dem unkontrollierten Wuchern: Eine Passage, die gleich in zwei Geschichten auftaucht, porträtiert eingehend eine Ansiedlung verschiedenfarbiger Schimmelpilzkulturen, welche sich in einem zu spülenden Topf zu leben entschlossen haben und welche spielerisch für die Formulierung einer Programmatik hergenommen werden: "Der Topf stand da wahrscheinlich schon seit Wochen. Und jetzt hat es diese irren Farben, gleich nach den dezentesten Tönen, es sieht nach Plüsch und Zuckerwatte aus, grünliche Gewässer, wo die Kindheit sirrt, Jonna! Es ist Kunst, die Kunst, die ich schon immer wollte. Oberflächlich tote, unterschwellig lebendige Kunst, die sogar im Verfall noch poppig wirkt. Die gleichzeitig wächst und vergeht, locker, weich, fraktal zerklüftet, kindergeeignet ab sechs."

Das klingt berückend wie so vieles bei Thomas Melle, doch steht man am Ende des Bandes vor der Frage: Ansage oder Ausrede? Wird durch solches Statement ein Mangel an Stringenz und Form schöngeredet, oder führt hier ein gangbarer Weg in die Zukunft? Ist es der verpflichtende Auftrag intelligenter Autoren, alle Deutbarkeit, alle Symbol- und Strukturanalyse zu unterwandern? Und vergeht darüber dann ihre Literatur? Oder muss Thomas Melles Projekt noch konsequenter durchgeführt werden? In Ansätzen hat er eine sehr reizvolle Verpilzung seines Erzählbandes durchgeführt; ein gegenseitiges Befruchten und Infiltrieren der Erzählungen, ein gegenseitiges Zitieren, das die Scheinwelt jeder Geschichte sprengt. Die Ausbreitung dieser Sporenfäden verfolgt man nicht nur mit Vergnügen, sie bilden auch ein Netz aus, welches die disparate Geschichtensammlung zumindest zart und versuchsweise zusammenhält.

Liebe in Zeiten des Chatrooms.

"Raumforderung" ist Thomas Melles Erzähldebüt und nicht sein letztes Wort, wie man hoffen darf. Sollte die Schimmelpilz-Poetik wirklich die Ansage sein, als die sie ins Erzählte eingebaut worden ist, so wäre es dennoch unfair, den Band daran zu messen. Mutmaßlich ist dies eine Ansammlung von Testläufen, die sich über die Jahre angesammelt haben und unterschiedlichen Ertrag einbrachten. "Santo Lucci" etwa betört vom Fleck weg: Kurzatmig wirbelt er durch die Kalamitäten einer Familienfeier, rasant geht es dahin und ein wenig auch über den Leser hinweg.

Folgt, ruhiger, doch auch sprunghaft gehalten, die Erzählung "Gewissen", die den Sex und den Voyeurismus der Freudschen Urszene ins Medienzeitalter übersetzt: Intime Einblicke werden nicht mehr durchs Schlüsselloch dicker Eichentüren gewonnen, sondern aus der Homeporno-DVD oder über die allweil ruckelige Übertragung aus der Spanner-Webcam, und es sind nicht die eigenen Eltern der Gegenstand der Beobachtung, sondern die etwas angeknitterten Tante und Onkel.

Auch in "Interferenz" kommt keiner so richtig zum Zuge: Susanne ist allein zu Hause geblieben, ihr Andreas hat sich für eine Zeit nach Brasilien absentiert; was ihnen bleibt, ist der Chatkontakt. Das Chatten aber hat so seine Tücken, und die Tücken nutzt Susanne weidlich aus, bis sie der Meinung ist, ihren Andreas mit einem anderen Mann gewissermaßen betrogen zu haben. Dies ist wohl der schalste aller rauschhaften Zustände, in die Melles einsame Figuren sich versetzen - ganz bisschen abgestanden schmeckt aber auch das Sujet: Dies dann doch die Geschichte, die mit dem Aufkommen der Chatrooms vor vielen Jahren jedem Zweiten als Erstes eingefallen wäre - nur dass die wenigsten sie mit ähnlicher Sprachpracht hätten ausschmücken können.

"Jonnas Baby", das mit der Schimmelpilzpassage beginnt, ist diejenige Geschichte, welche einen Erzähler am weitesten herauszwingt aus der Einsamkeit, aus dem Kreisen um sich selbst, aus der unbefruchteten Zone: Er begegnet einer Frau. Und die Frau bekommt sogar ein Kind. Das ist die intimste Begegnung, ist der stärkste Anprall, dem eine Melle-Figur ausgesetzt wird, auch wenn die Frau eben nur eine vertraute, halb begehrte Grundschulfreundin ist und das Kind von einem anderen. In dieser Begegnung aber, in diesem Abtausch zweier Geister, leuchtet Melle am hellsten. Hier bringt er seine vielen Talente ein in einem lockeren, runden Reigen der Erzählsprengsel; hier lockt er den Leser am weitesten hinein in sein Buch: unterhaltsam, dialogstark, lustvoll; ambitioniert, ohne allzu auffällig schlau zu sein.

- Thomas Melle: "Raumforderung". Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 200 S., geb., 15,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Ijoma Mangold ist sich sicher, mit Thomas Melle einem sehr starken Erzähler begegnet zu sein, eine "reflexive Gänsehaut" hat er bei der Lektüre gar gespürt. In den Geschichten geht es meist um nicht weniger als erloschene Liebe, Wahnsinn, die Ästhetik des Schimmels und andere Entfremdungserfahrungen. Was Mangold am Debüt des 1975 geborenen Melle besonders beeindruckt, sind zum einen die starken, "enorm suggestiven" Bilder und der immer wiederkehrende Gedanke, dass das Leben viel unheimlicher als der Tod sei. Zum anderen sind es Melles durchaus vorhandene Schwächen - zuviel Theorie, zu große Themen, zuviel "Kraftmeierei". Aber Mangold nimmt es nicht gelassen, sondern mit Freude hin, dass ein Autor aus der braven Routine des Erzählens ausbricht: Hier riskiert wenigstens mal jemand etwas! Und so bekennt Mangold nicht nur, neben einige Passagen "Welch geile kranke Fantasie!" notiert zu haben, sondern auch bei gewissen Größenwahn-Attitüden Melles "ein Zittern" gespürt zu haben.

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