Marktplatzangebote
6 Angebote ab € 2,99 €
  • Gebundenes Buch

Ein ungarischer Schriftsteller, Alter ego des kämpferischen Moralisten István Eörsi, gibt einer jungen Journalistin aus England bereitwillig Auskunft über sein Leben. Sie sitzen auf der Terrasse eines Sommerhauses auf einer kleinen Donauinsel unweit von Budapest, die nur mit der Fähre zu erreichen ist. Der Versuch, lästige Besucher aus der Vergangenheit abzuschütteln, scheitert - genauso wie das geplante Zeitungsinterview. Statt über sein einst verbotenes Theaterstück Im geschlossenen Raum spricht Eörsis Held über den Alltag in Zeiten der Diktatur, wo Spitzel und ihre Opfer, ehemals verfolgte…mehr

Produktbeschreibung
Ein ungarischer Schriftsteller, Alter ego des kämpferischen Moralisten István Eörsi, gibt einer jungen Journalistin aus England bereitwillig Auskunft über sein Leben. Sie sitzen auf der Terrasse eines Sommerhauses auf einer kleinen Donauinsel unweit von Budapest, die nur mit der Fähre zu erreichen ist. Der Versuch, lästige Besucher aus der Vergangenheit abzuschütteln, scheitert - genauso wie das geplante Zeitungsinterview. Statt über sein einst verbotenes Theaterstück Im geschlossenen Raum spricht Eörsis Held über den Alltag in Zeiten der Diktatur, wo Spitzel und ihre Opfer, ehemals verfolgte Kommunisten und ihre Henker, im geschlossenen Raum der Gesellschaft miteinander auskommen müssen.

Unterhaltsam und witzig, voller Charme und Selbstironie erzählt István Eörsi, der streitlustigste ungarische Autor der Gegenwart, von erotischen Affären und herzzerreißenden Abschieden, von tragischen Entscheidungen und der Kunst, mutig zu sein vor Freund und Feind. Das beeindruckende Dokument einer unerschrockenen Selbstanalyse - zugleich ein kraftvoll gezeichnetes Bild der ungarischen Gesellschaft zwischen 1956 und 1989.
Autorenporträt
Istvan Eörsi wurde 1931 in Budapest geboren. Lyriker, Dramatiker und Prosaautor, war Schüler von Georg Lukács, wurde 1956 wegen Beteiligung am Ungarnaufstand zu acht Jahren Haft verurteilt und 1960 amnestiert. Freier Schriftsteller, Journalist und Übersetzer, 1978-82 Dramaturg am Theater in Kaposvár. Berufsverbot. 1983/84 war er Stipendiat des DAAD in West-Berlin, 1986 kehrte er nach Ungarn zurück. Er lebte in Budapest und Berlin und arbeitete an einem autobiographischen Roman.
Freundschaften verbanden ihn u.a. mit Ernst Jandl und Allen Ginsberg, die er ins Ungarische übersetzte. Seine übersetzerische und herausgeberische Tätigkeit war immens, u.a. übertrug er Gedichte von Goethe, Heine, Brecht, Shakespeare, Shelley, Keats, Puschkin und Majakowski, Apollinaire und Lorca sowie das Spätwerk von Georg Lukács ins Ungarische.
Am 13.10.2005 starb Istvan Eörsi in Budapest.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.2006

Selbstporträt als Widerborst
Schlimm: István Eörsi zeigt den Eros des politischen Intellektuellen

István Eörsi ist eine kanonische Größe in Ungarn: als vielleicht einflußreichster literarischer Publizist der vergangenen Jahrzehnte. Man sehe und staune nur, was für einen Kranz von Attributen György Konrád dem im Herbst 2005 im Alter von vierundsiebzig Jahren gestorbenen Autor nachgeworfen hat: Ein "Sporn in der Flanke des Staates" sei Eörsi gewesen, ein "Republikaner", "Ironiker", "Sportsmann", "Wettkämpfer", "Champion des Alltags", "treuer und treuloser Ehemann", "antisentimentaler Sentimentaler", "dahinpreschender Moralist" und "possenreißerischer Stoiker", der den Humor auch in bitterernsten Situationen nicht verloren habe.

Dabei hat Konrád noch vieles ausgelassen. Für das Kádár-Regime zum Beispiel war Eörsi vor allem eines: Konterrevolutionär. 1956 wurde er wegen publizistischer Unterstützung von Imre Nagy zu acht Jahren Haft verurteilt. Der blutig erstickte Ungarn-Aufstand, der sich in diesem Herbst zum fünfzigsten Mal jährt, hat sein Leben geprägt. Das Gefängnisstück "Das Verhör" wurde zu seinem umstrittensten und berühmtesten Werk.

Es bildet auch den Fixpunkt des autobiographischen Romans "Im geschlossenen Raum", der drei Jahre nach dem Original nun auf deutsch erschienen ist und als wichtigste literarische Gabe zum Jubiläum der ungarischen Revolution gelten darf. Wie Eörsis Gefängnismemoiren "Erinnerungen an die schönen alten Zeiten" (1991) ist es ein Werk von sarkastischem Humor.

Über die berühmten Selbstporträts in den Museen und Galerien heißt es an einer Stelle: "Sie triefen nur so von Nachsicht, von nicht zu unterdrückender Zärtlichkeit, die der Maler seinem Gegenstand entgegenbringt." Ein unnachsichtiges Selbstporträt - darauf hat es Eörsi angelegt. Borsi heißt sein Alter ego, das wir im geschichtsträchtigen Sommer 1989 kennenlernen. Der auf die Sechzig zugehende Schriftsteller lebt zurückgezogen auf einer Insel in der Donau. Die junge Journalistin Erzsébet - eine Exil-Ungarin, die in England lebt - besucht ihn, um ein langes Interview mit ihm zu führen. Vor allem will sie etwas erfahren über sein legendäres Stück "Im geschlossenen Raum" und dessen Nicht-Aufführungsgeschichte. Borsi aber erzählt ihr sein Leben. Daß beides schließlich aufs gleiche hinauslaufe, ist die Voraussetzung dieses Romans.

Borsi ist eine Reizfigur; mit seiner provokativen moralischen Unbeflecktheit geht er vielen auf die Nerven, die den Kompromiß für die bessere Lebensform gehalten haben. Die also für Geld, billige Grundstücke, Übersetzungen in die Weltsprachen, West-Autos, Reisepässe oder einfach nur für die Nähe zur Macht empfänglich waren. Die Diktatur zeigte ein joviales Antlitz, und der Autor konnte sich entscheiden, Nutznießer oder Nichtsnutz zu sein.

Hartnäckig sträubt sich Borsi gegen das große Vergessen, das vom Kádár-Regime seit den sechziger Jahren empfohlen wird. Er hält die Erinnerung wach: an die Arroganz der Macht und die Zeremonien der Demütigung, die hingerichteten Freunde, ausgeschlagenen Zähne und blauen Flecken, die Zauberkünste des Opportunismus, die abverlangten Gesten der Selbstkritik, die Spitzeleien und Denunziationen. Erst recht vor diesem Hintergrund macht ihm die Vorstellung, daß Erzsébet ein ganzseitiges Porträt von ihm im "Times Literary Supplement" veröffentlichen wird, ein geradezu diebisches Vergnügen: "Der gesamte Schriftstellerverband würde vor Wut schäumen, seine Freunde und sonstigen Feinde würde der Schlag treffen."

Aber auch die Borsi-Figur schillert. Ist sie ein Held des Widerstands, die nicht zur Gelassenheit übergehen will? Oder ein mittelmäßiger Schriftsteller, der an Erfolglosigkeit und zuviel Eigenliebe leidet? Der Welt wirft Borsi vor, daß sie ihn nicht anerkennt; aber bei jedem Zeichen von Anerkennung beginnt er, seine eigene moralische Integrität in Zweifel zu ziehen. Er weiß: Ohne die bitteren Erfahrungen der Haft wäre aus ihm kein Schriftsteller geworden. Ist also auch Borsi ein subtiler Kollaborateur der Verhältnisse? Hängt er der Zeit der Unterdrückung gar mit pervertierter Nostalgie an? ("Die Erschießungskommandos haben Sie definitiv verpaßt", meint Erzsébet einmal höhnisch.) Das sind abgründige Fragen, die der Roman mit bohrender Hartnäckigkeit umkreist. Er bietet eine akribische Erforschung der Künstlerseele in Zeiten der politischen Versuchung, ein Selbstporträt als Widerborst. Schon als Kind hatte Borsi Leuten, die ihn auf der Straße darauf aufmerksam machten, daß sein Schuhband offen war, trotzig entgegnet: "Dann binden Sie's zu!"

Kaum erstaunlich, daß Eörsi bei seinem 1965 geschriebenen Stück, das dem Roman den Titel gibt, zu keinerlei Kompromiß bereit war. So mußte es neunzehn Jahre auf die Erstaufführung warten. Sie fand in West-Berlin statt, an der Schaubühne, die im Roman als "Kleisttheater" firmiert.

Ernst Jandl hatte das Manuskript seinerzeit aus Ungarn herausgeschmuggelt. Die Szene, in der Borsi den verängstigten, aber mutig entschlossenen Lyriker um den gefährlichen Gefallen bittet, ist ein Höhepunkt des Buches: "Leichenblaß stammelte der Dichter ein beglücktes ,Ja' und setzte noch ein ,natürlich' hinzu, in einem Ton, der von Widernatürlichkeit des Unternehmens zeugte."

Am Ende gewinnt "Der geschlossene Raum" den Kritikerpreis für das beste Stück des Jahres - allerdings des Freiheitsjahres 1989. Zur Verleihung stellen sich alte Weggefährten, Rivalen und Gegner ein. Auch der ehemalige Zensor, ein Trottel namens Trübe, kommt und versichert: "Ich habe dieses Stück immer sehr geschätzt." Nicht alle Figuren des Buches werden so anschaulich wie dieser karikierte Kulturfunktionär dritten Ranges. Was Eörsi über seinen Lehrer Georg Lukács oder über Jandl schreibt, beweist allerdings, welchen Eindruck dieses Buch auf Leser machen muß, die hinter den Figuren die genau porträtierten "Genossen" erkennen.

Das Buch setzt mit einem Bekenntnis zum Antibelletristischen ein: "Als Leser konnte ich Beschreibungen nie ausstehen. Sie langweilten mich unglaublich." Dieser Aversion folgend, hält Eörsi auch im Roman den Beschreibungsaufwand gering. Es ist ein Gesprächsroman, der vor Intelligenz und untergründiger erotischer Spannung vibriert - zwischenzeitlich liegen der Autor und die Journalistin gemeinsam in Borsis breitem Bett, allerdings symbolisch getrennt von einem Ruder.

Borsi will Erzsébet nicht nur als maßlos integrer Autor, sondern auch als musischer Macho und sexueller Gourmet imponieren. Genüßlich breitet er vor ihr seine erotische Biographie aus und erzählt etwa von jenem Holzhäuschen, wo er einen froststarrenden Winter lang seine Schäferstündchen abhielt: "Mit bibbernden Akteurinnen exerzierte ich dort Grenzfälle des Glücks." In den materiell und politisch beengten osteuropäischen Verhältnissen wurde mit vereinten Kräften geliebt - der Eros als Ventil für Bedrückungen, wie man es schon bei Kundera lesen konnte.

So ging als erstes Borsis Ehe zugrunde. Während er im Gefängnis saß, hatte das Paar unverbrüchlich zusammengehalten. Danach lebten sie sich schnell auseinander: "Ich war zu begierig, zu ausgehungert, als ich durch das Gefängnistor trat. Ich wollte schwelgen, meine Frau hoffte hingegen, sich nach fast vierjähriger Hetze endlich ausruhen zu können." Immerhin hat Borsi eine Legitimation für seine Untreue, die etwas von Brechtscher Spruchweisheit hat: "Von den Menschen mit revolutionärem Naturell liegt nur den Genußfreudigen der Gedanke an Terror völlig fern."

Die Formel des "geschlossenen Raums" meint also vieles: Borsis Theaterstück, das Gefängnis, das Leben unter der Diktatur, aber auch die Interviewsituation, in der zwei fremde Menschen in spannungsreiche Nähe geraten. Ein geschlossener Raum ist schließlich auch der Körper, der im Liebesfall vom anderen annektiert wird.

Aber wen interessiert die schummrig-schikanöse Welt des realsozialistischen Kulturbetriebs noch? "Du röhrst wie der Hirsch am längst verlassenen Waldrand", wirft ein Kritiker des Manuskripts Borsi vor. Dem ist entgegenzuhalten, daß das Buch dank seines luziden analytischen Blicks auf menschliches Verhalten und unmenschliche Verhältnisse hohen Reiz entwickelt. Der Eros des politischen Intellektuellen, der im zwanzigsten Jahrhundert so wirkmächtig war, in den letzten zwei Jahrzehnten aber gründlich abgestorben ist, wird noch einmal lebendig. Borsi: ein Denkmal für den Dissidenten und zugleich seine Demontage.

WOLFGANG SCHNEIDER

István Eörsi: "Im geschlossenen Raum". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Heinrich Eisterer. Mit einem Nachwort von György Konrád. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 323 S., geb., 22,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.07.2006

Ära der Schande
István Eörsi und sein Roman „Im geschlossenen Raum”
Als István Eörsi im Oktober 2005 im Alter von 74 Jahren starb, waren sich die Ungarn zum ersten Mal einig über ihn, der das Kunststück zuwege gebracht hatte, mitunter von den gleichen Leuten bewundert und gehasst, geliebt und gefürchtet zu werden. Jetzt aber herrschte Einigkeit: Der da nach einjährigem Leiden hatte abtreten müssen, war eine moralische Instanz gewesen, die ihre Anliegen mit Vehemenz, Unbeugsamkeit und Schärfe, aber ohne verkniffene Lippen verfochten hatte, ein Rebell aus Temperament und Neigung, dem das Lachen, das höhnische wie das ausgelassene, niemals vergangen war. In Ungarn hat es nach 1945 viele gute Schriftsteller gegeben (und manchen hochbegabten, den die politischen Verhältnisse verbogen haben), aber nur einen István Eörsi, der zwar nicht das eine große Meisterwerk hinterlassen hat, mit dessen satirischen Meisterstücken aber jeder rechnen musste, der sich gar zu bequem in seinem Leben eingerichtet hatte.
Ein nie aufgeführtes Stück
1956 wurde Eörsi, als einer von Georg Lukács‘ engsten Vertrauten und als Kombattant der Revolution - die er sich weigerte, im amtlichen Sprachgebrauch je als „Konterrevolution” zu bezeichnen - zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. 1931 in Budapest geboren, war er damals gerade 25 Jahre alt, und im Grunde ist sein gesamtes schriftstellerisches Werk auf diese Revolution und die unheilige Allianz bezogen, die János Kádár danach zwischen dem Obrigkeitsstaat nach sowjetischem Muster und einer Gesellschaft schmiedete, die sich um den Preis der Heuchelei, der Bespitzelung und des großen Vergessens in Verhältnissen einrichtete, die im Westen gerne zu denen eines gemütlichen „Gulaschkommunismus” verklärt wurden.
Im Jahr 1991 berichtete Eörsi in der „Erinnerung an die schönen alten Zeiten” von den Jahren seiner Haft - die 1960, nach vier Jahren, vorzeitig endete; in deutscher Sprache noch nicht erschienen sind seine „Gedichtdokumente mit Kommentaren”, die die Jahre von 1949 bis 1956 selbstkritisch durchleuchten. An beide Bücher schließt der jetzt erschienene Roman „Im geschlossenen Raum” an, der die allgemeine Geschichte Ungarns und die besondere des Autors von 1960 bis zur Wende 1989 erfasst und mit grimmigem Zorn, ironischer Weisheit und selbstkritischem Furor deutet.
Der Titel des Romans spielt auf Eörsis wichtigstes Theaterstück an, „Das Verhör”, das 1984, zwanzig Jahre nach seiner Niederschrift, in Berlin uraufgeführt wurde; ein Stück, das in Ungarn einmal verboten, dann mit dem Staatspreis ausgezeichnet, aber nie aufgeführt wurde, um das er mit Dramaturgen, Zensoren und Ministern stritt, die es in veränderter Fassung gerne auf der Bühne gesehen hätten, und von dem es im Roman einmal heißt: „Sein Gefängnisstück hat ihn kaputtgemacht. . . ”. Um das Stück und die kuriose Geschichte seiner zahllosen Nicht-Aufführungen soll es in dem Gespräch gehen, das den Handlungsgang des Romans bestimmt: Erzsébet, eine junge Ungarin, die in England lebt, ist nach Budapest gekommen, um mit dem alternden, auf einer Donauinsel lebenden Dichter ein großes Gespräch für „Times Literary Supplement” zu führen. Für sie wäre das der Durchbruch als englische Journalistin, für den Autor ist es die Gelegenheit, noch einmal abzurechnen: mit dem Kommunismus, den er als „Spießbürgerdiktatur” bezeichnet, mit den zahllosen Varianten, sich mit dem System zu arrangieren, und, nicht zuletzt, mit sich selbst.
Formal ist „Im geschlossenen Raum” ein Roman im Roman, denn Eörsi bezieht seine Schreibsituation zwischen 2001 und 2003 in den Roman mit ein, er erklärt gleich zu Beginn, sich gewissermaßen zu Versuchszwecken im Roman „Borsi” zu nennen und das „hochverehrte Publikum im unklaren darüber zu lassen, was tatsächlich geschehen ist und was ich hinzugedichtet habe”. Hinzu kommt, dass er diesen Borsi nicht nur selber aus kritischer Distanz betrachtet, sondern ihn immer wieder auch von anderen charakterisieren lässt. Der berühmte Schriftsteller Mátrai etwa - eine Hommage an Sándor Márai - sagt auf Erzsébets Frage, wie dieser Borsi, von dem sie so vieles so Widersprüchliches gehört habe, eigentlich sei: „Als Freund großartig, als Schriftsteller mittelmäßig, als Mann grauenhaft.” Über seinen Hang, Frauen unglücklich zu machen, gibt Borsi Erzsébet selber nur allzu gerne Auskunft; allerdings beharrt er darauf, dass er in dem gelebten Widerspruch, ein Anhänger der Gleichberechtigung zu sein und Frauen dennoch als Eroberungsbeute zu betrachten, „nur höchst selten auf die Waffe der Lüge zurückgegriffen habe”, und nur, „wenn die Partnerin das wünschte”.
In den zwei Tagen, die Erzsébet und Borsi auf der Insel verbringen - auch sie ein geschlossener Raum, eine Art von idyllischem Gefängnis -, werden sie einander nicht sympathischer. Für Erzsébet ist Borsi „ein Ungeheuer”, an dessen moralischer Integrität andere zerbrechen mussten. Denn Borsi hat, im Unterschied zu fast allen seiner Kollegen, auch den kleinsten Schritt vermieden, sich mit der herrschenden Kaste gemein zu machen. Und das war schwer genug. Nicht etwa deswegen, weil die Repression so groß war, sondern weil es einem jeden so leicht gemacht wurde, der Verführung zu erliegen. Der oberste Zensor des Landes war selbst ein Schriftsteller, der mit seinen Kollegen per Du verkehrte, er gab sich als ihren Freund aus, hielt sich womöglich selber für diesen, der ihnen das Publizieren ermöglichen, ihnen zu den kleinen und großen Benefizien, die der Obrigkeitsstaat für seine Genies zu bieten hatte, verhelfen wollte.
Auf hellsichtige Weise nimmt Eörsi im Roman jene Affäre vorweg, die vor einigen Monaten Ungarn (nur für sehr kurze Zeit) erschütterte, als nämlich bekannt wurde, dass auch der weltberühmte, von allen geliebte Regisseur István Szabó Berichte für den Staatssicherheitsdienst geschrieben hat; und als ihm Hunderte ungarischer Intellektueller mit der hurtigen Loyalitätsbekundung beisprangen, seine Berichte hätten gewiss nie jemandem Schaden zugefügt. „Für seine Spitzeldienste, Denunziationen kann so gut wie jeder eine Entschuldigung und Erklärung finden”, schreibt Eörsi, der um die beklemmende Zwangslage wusste, in die jeder Einzelne geraten konnte und die es noch heute schwer mache, „die offenen und versteckten Spielarten der Kollaboration in ethischer Hinsicht” zu unterscheiden.
Wie tragisch die Situation des Einzelnen in der Despotie sein konnte, legt Eörsi am Fall seines eigenen Bruders dar. Dieser war ein brillanter Wissenschaftler, ein idealistischer Kommunist, ein persönlich mutiger und lauterer Mann; seine glänzende Karriere wurde unterbrochen, weil sein Bruder, der Schriftsteller, 1956 als Staatsfeind galt und er sich, wiewohl politisch anderer Auffassung weigerte, sich von dem inhaftierten „Konterrevolutionär” loszusagen. Später musste Eörsi in den Akten lesen, dass sich der Bruder in den Jahren darauf gerade deswegen mit der Staatssicherheit eingelassen hat, um ihm, der im Gefängnis saß, zu helfen. Der geliebte Bruder erkrankte übrigens später an Alzheimer, was Eörsi als Flucht „in die dunkelste Nacht der Krankheit - zur Selbstverteidigung” wertet.
Die Facetten der Perfidie
Geschichten wie diese werden in Eörsis letztem Roman viele erzählt, manche mit Empörung, andere mit abgeklärter Ironie. Immer aber scheint im individuellen Fall eine Facette des perfiden Regimes auf, über das es einmal heißt: „Nur ist hier die Schande Gemeingut, sie verseucht jeden von uns. Selbst die Unschuldigen entgehen ihr nicht.” Am Ende seines Lebens hat István Eörsi, der den realen ungarischen Kapitalismus nach der politischen Wende übrigens konsequent von links kritisierte, die Ära der Schande noch einmal angeprangert und untersucht.
Und er hat, wiederum wie für die Affäre Szabó und alle noch kommenden Enthüllungen gesagt, dass „die ungarische Gesellschaft mit ihrem schlechten Gewissen und ihren Gedächtnisstörungen...davor zittert, von der Vergangenheit eingeholt zu werden”. Auch weil er sich unerbittlich mit den kollektiven Gedächtnisstörungen beschäftigte und gegen das Recht auf allgemeine und gleiche Amnesie kämpfte, wird István Eörsi, der heitere Melancholiker, Ungarn fehlen.
KARL-MARKUS GAUSS
ISTVÁN EÖRSI: Im geschlossenen Raum. Roman. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 323 Seiten, 22,80 Euro.
„Nur ist hier die Schande Gemeingut, sie verseucht jeden von uns”: Der ungarische Schriftsteller István Eörsi (1931 bis 2005).
Foto: AFP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensentin Ilma Rakusa ist tief beeindruckt von Istvan Eörsis autobiografisch gefärbtem Roman, zu dessen Qualitäten sie Eörsis Schonungslosigkeit Freund und Feind aber auch sich selbst gegenüber zählt, ebenso wie seinen Witz und sinnlichen Charme. Über weite Strecken sei das als fiktives Interview konzipierte Buch eine in der Art der Bekenntnisse von Augustin bis Gombrowicz verfasste "skrupellose Selbstbefragung". Immer wieder zeigt sich die Rezensentin dabei fasziniert von Eörsis dramatischen Fähigkeiten, die sie ihn im verhörartig geführten Interview über die Zeit nach Stalins Tod bis zur Wende1989 entfalten sieht. Besonders die Episoden aus der Gefängniszeit von 1953 bis 1960 packen die Rezensentin sehr. Ihr gefällt aber auch die subtile Erotik in der Beziehung zwischen der fiktiven Interviewerin und dem Protagonisten des Romans, den die Rezensentin im Übrigen von Heinrich Eisterer "prägnant übersetzt" findet.

© Perlentaucher Medien GmbH