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Mitternachtsgesellschaft sollte der Roman heißen, den Ludwig Hohl über das Bohèmeleben im Paris der zwanziger Jahre schreiben wollte. Träumer, Trinker, Schnorrer, verkannte Literaten, Künstler, die unterhalb der Armutsgrenze leben, sich allabendlich in immer denselben Cafés, Restaurants und Bars am Montparnasse treffen und von dort aus ihre Streifzüge in die übler beleumundeten Viertel antreten - Ludwig Hohl war als Beobachter unter ihnen. In Heften, die in seinem Nachlaß gefunden wurden, schildert er die nächtlichen Pariser Begegnungen mit klarem Blick, zuweilen auch ironisch und sarkastisch,…mehr

Produktbeschreibung
Mitternachtsgesellschaft sollte der Roman heißen, den Ludwig Hohl über das Bohèmeleben im Paris der zwanziger Jahre schreiben wollte. Träumer, Trinker, Schnorrer, verkannte Literaten, Künstler, die unterhalb der Armutsgrenze leben, sich allabendlich in immer denselben Cafés, Restaurants und Bars am Montparnasse treffen und von dort aus ihre Streifzüge in die übler beleumundeten Viertel antreten - Ludwig Hohl war als Beobachter unter ihnen. In Heften, die in seinem Nachlaß gefunden wurden, schildert er die nächtlichen Pariser Begegnungen mit klarem Blick, zuweilen auch ironisch und sarkastisch, und bekundet dabei ein außergewöhnliches Gespür für Menschliches, Zwischenmenschliches, Allzumenschliches. Ein geschlossener Roman ist nie daraus geworden. Hohls Vorsatz, beim Schreiben stets die übersicht zu behalten und Autobiographisches auszuklammern, wird bald hinweggefegt: Was ihm zustößt, überfordert ihn, sprengt sein erzählerisches Ich, verweigert sich der konventionellen Romanform.
Aus der Tiefsee gibt Einblick in die Atmosphäre im Paris der zwanziger Jahre und in die Seelenlandschaft eines jungen Autors, seine unbedingte Wahrheitsliebe, seine Wünsche und ängste, seinen moralischen Rigorismus, der immer wieder Schiffbruch erleidet, und in seine besondere Auffassung von Sünde.
Autorenporträt
Ludwig Hohl wurde am 9. April 1904 im schweizerischen Netstal im Kanton Glarus geboren. Nach Aufenthalten in Frankreich, Österreich und Holland, wo sein Hauptwerk Die Notizen entstand, lebt und arbeitete er als Schriftsteller über vierzig Jahre in Genf. Hohl war fünfmal verheiratet. Der dritten Ehe entstammt eine Tochter. Ludwig Hohl starb am 3. November 1980 in Genf.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2004

Das Leben der Bohème
Zum 100. Geburtstag des Kellerarbeiters Ludwig Hohl: Aufzeichnungen aus Paris
Die Besucher der Genfer Kellerwohnung, in der Ludwig Hohl mehr als zwei Jahrzehnte seines Lebens, von 1954 bis 1975 verbrachte, staunten nicht schlecht über die Wäscheleinen, die dort reihenweise von der Decke hingen und die Zimmerwände zerteilten: „Hunderte, Tausende vielleicht Zehntausende von Zetteln sind mit Wäscheklammern befestigt”, schrieb Jürg Federspiel über die gigantische Ansammlung von Aufzeichnungen und Notizen, in deren Gegenwart und Reichweite der Schriftsteller an einem Werk bastelte, das einer papierenen Trümmerlandschaft glich. Allein für die Veröffentlichung seiner bedeutendsten Erzählung, der im Jahr 1926 begonnenen „Bergfahrt”, ließ sich Hohl ganze fünfzig Jahre Zeit, in denen er den Text immer wieder umarbeitete, überarbeitete, am Manuskript feilte und schliff, um es in der Zwischenzeit auch mal für ein paar Jahrzehnte beiseite zu legen.
Das Hauptwerk des vor hundert Jahren, am 9. April 1904 in ein Pfarrhaus des glarnerischen Netstals zu Füßen der Schweizer Alpen geborenen und im Jahr 1980 in Genf verstorbenen Schriftstellers sind „Die Notizen”, eine Mitte der dreißiger Jahre entstandene Sammlung von 1185 nach thematischen Gesichtspunkten gegliederten Aufzeichnungen. Erstmals zwischen 1944 und 1954 in zwei Bänden erschienen, bergen sie eine Schatzkammer verschiedener Textsorten, vom Aphorismus über den Essay bis zur Mikroerzählung. Leidlich ernährte sich der nur Eingeweihten bekannte literarische Sonderling die meiste Zeit seines Lebens von feuilletonistischen Arbeiten. Auch sie waren skrupulös bearbeitete bunte Steine vom Mosaik eines Werks, das Großbaustelle blieb und das der Autor selbst archivierte. Als „epische Grundschriften” verzeichnete Hohl ein dickes Konvolut mit vorwiegend autobiographischen Aufzeichnungen aus den langen Jahren, die er im Ausland, in Frankreich, Holland und Österreich verbrachte. Darunter befand sich auch der Stoff für das Projekt eines Romans, der nie geschrieben wurde.
„Mitternachtsgesellschaft” sollte der Roman heißen, von einem Häuflein Nachtschwärmer, Hurenböcke und Trunkenbolde des Pariser Montparnasse sollte er handeln: Von Hungerleidern, Schnorrern und erfolglosen Künstlern, Zuwanderern aus unterschiedlichen Nationen. Stoff war genug vorhanden, denn Hohl selbst war als Schulabbrecher und Wehrflüchtiger im Jahr 1924 mit seiner Freundin, der Musikerin Gertrud Luder, nach Paris durchgebrannt . Dort schrieb er bald alles auf, was ihm vor die Füße lief oder durch den Kopf ging. Das war aber zugleich das heikle Problem des Autors mit seinem Romanprojekt, das vom Anspruch her alle autobiographischen Züge abstreifen wollte, während Hohl doch selbst der ebenso trinkfreudige wie rauflustige Teilnehmer, mehr noch die Leitfigur der von ihm geschilderten Artistentruppe war. Der Grundstock des schließlich wieder aufgegebenen Romanprojekts, die von Hohl bereits mehrfach überarbeiteten Rohstoffe des in Tagebuchform verzettelten ersten Halbjahres 1926, sind jetzt von den Nachlassverwaltern in einer für den Lesegebrauch zurückhaltend kommentierten Ausgabe herausgegeben worden. Unter der Lektüre, die einem gescheiterten Werk normalerweise gar nicht anstehen sollte, kommt der Leser freilich in den Genuss eines einzigartigen Dokuments: Es versetzt ihn zurück in ein längst nicht mehr vorhandenes Paris, wo er den Autor auf seinen Spaziergängen begleitet und ihm beim Aufzeichnen und Schreiben über die Schultern blickt. Besonders gelungen sind Hohls Beschreibungen des nächtlichen Treibens in den alten Hallen, die nuancierte Schilderung der Grauwerte der Stadt sowie seine Miniaturen gesellschaftlicher Außenseiter.
Ziemlich am Eingang steht ein wunderbarer Aphorismus, von dessen Maxime man sich auch heute noch wünschte, dass die Schriftsteller und Intellektuellen sie befolgten, obgleich auch Hohl dies nicht immer gelingt: „Man soll durchaus nicht alles aufschreiben was man denkt, weil es lange nicht immer gut ist, weil es oft nur Spuren von Gedanken, oder für sich leblose Teile eines größern noch nicht ausgereiften Gedankens sind, was man im Moment ihres ersten Auftauchens für fertige ausgewachsene Gebilde hält. Überhaupt soll man nie allzu viele Gedanken haben: sehen kann man nie genug. Wenn man sehr viel sieht, kann man sich erlauben mehr Gedanken zu haben ...” Der törichte Reklamespruch einer auf Halbbildung bauenden Sightseeing-Industrie, der ausgerechnet auf Goethe, den Anwalt des erkennenden Sehens zurückgehen soll – „man sieht nur, was man weiß” – , wird von Hohl mit seiner Umkehrung bestraft. Um schauend zu erkennen, dazu benutzte dieser alpine Zeitgenosse von Aragons „Le Paysan de Paris” vorzugsweise seine Beine. Kaum eine Gangart – vom Schreiten und Trotten, Schlendern und Stolpern bis zum gesuchten „Abweichen von der vorgezeichneten Linie” und zu den „Zickzackgängen” – , die in Hohls Aufzeichnungen nicht vorkäme und als Vorschule des Schreibens nicht mit einer schier unerschöpflichen Semantik bedacht würde. Durch gezielte „Umkreisungen” erschließt sich Hohl nach und nach die zwanzig Pariser Arrondissements. Hinzu kommen die Ausflüge nach den damals noch ländlichen Flecken der Banlieue, die Hohl als Wallspaziergänge nach Wilhelm Meisters und Anton Reisers Art in Szene setzt.
Unter dem aufreibenden Laufpensum, das Hohl an der Spitze seines Künstlerklüngels bei Tag und bei Nacht absolviert, unterbrochen nur von den Besuchen einschlägiger Kaffeehäuser, Bars und Nummernetablissements, leiden nicht nur die Füße, sondern rauchen auch die Köpfe. Qualvoller nur sind die Rituale der schriftstellerischen Selbstpeinigung unter dem unbedingten Willen zum Schreiben bei andauernden Blockaden und Paniken. Erst auf ihrem Höhepunkt, der von einem ständigen Hin und Her, hinaus auf die Straße und wieder zurück an den Kaffeehaustisch, begleitet wird – „nie wußte ich klarer als jetzt: ‚hier mußt du bleiben und schreiben, du hast kein Arrondissement mehr zu umkreisen’” –, stellt sich Befreiung ein: Vom „skandalösen Anblick dreier Exemplare von studentischen Khinstlern” (!) beim Arbeiten gestört, holt Hohl zu einer unerhört komischen Beschreibung dieser merkwürdigen Gesellen aus. Seiner letzten Schreibhemmungen entledigt er sich alsdann in der fulminanten Schilderung eines Boxkampfes vor einem Massenpublikum – bis der gewaltige Menschenstrom wieder „von Paris verschlungen” wird und der Beobachter nach dem Montparnasse in sein Stammlokal, die berühmte Rotonde zurückkehrt. Am Ende hat Hohl seinen mystischen „Weg zum strahlenden Werke” eingeschlagen: Er besteht in nichts anderem als in „kleinen peinlichen Federstrichen im blauen Büchlein” – seinem Notizbuch. Das Romanprojekt ist gescheitert, doch an seiner Stelle sind Hohl eine ganze Reihe großartiger Feuilletons und Reportagen gelungen.
VOLKER BREIDECKER
LUDWIG HOHL: Aus der Tiefsee. Paris 1926. Herausgegeben von Ulrich Stadler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 341 Seiten, 22,90 Euro.
Ludwig Hohl.
Foto: Schweizerische Landesbibliothek
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Peter Hamm verbindet die Besprechung zweier Bücher von Ludwig Hohl mit einem ausführlichen Porträt des 1904 in der Schweiz geborenen Dichters. Ein charmanter Zeitgenosse war Hohl wohl nicht. Hamm beschreibt ihn als "erschreckend schroff", mit einem "hochfahrenden Wesen", pathetisch, humorlos und mit einem "Hang zum Superlativismus und zum Hierarchisieren". Der Sohn eines Pfarrers war ein Außenseiter, der vorzeitig vom Gymnasium verwiesen wurde, weil er "zu viel über Frauen, Zigaretten und Nietzsche" gesprochen habe. Dennoch, versichert Hamm, war Hohl ein begnadeter Schriftsteller, neben Valery "der größte Schriftsteller ohne Werk". Hinterlassen hat er nämlich keine Romane, Erzählungen oder Gedichte, sondern einen riesigen "Gedanken-Steinbruch" aus Notizen, Skizzen, Porträts und Traum-Notaten. Die Tagebuchaufzeichnungen "Aus der Tiefsee. Paris 1926" geben einen guten Einblick in Hohls "Unversöhnlichkeit", schreibt Hamm. Hauptschauplatz sei "La Rotonde", ein Cafe in Montparnasse. Von dort aus unternahm Hohl mit den Bohemiens jede Nacht Exkursionen in die Banlieue oder verschiedene Pariser Arrondissements. Keine Berühmtheiten tauchen hier auf, schreibt Hamm. Weder Picasso noch Blaise Cendrars oder Alberto Giacometti, die zur gleichen Zeit im Rotonde verkehrten, werden erwähnt. Hohls Kumpane sind Unbekannte, "Möchtegernkünstler", deren Geplapper er jeden Morgen nach seiner Heimkehr "in rasender Eile" aufs Papier warf. "So überscharf gesehen, bekommt die Realität etwas irritierend Surreales", findet Hamm.

© Perlentaucher Medien GmbH
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