14,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Broschiertes Buch

Meist ohne darüber nachzudenken, unterscheiden Menschen ständig: ob warm, ob kalt, ob sie einen andern riechen können, ob ihnen etwas paßt oder nicht. Die Unterschiede machen die Empfindungen von ganz allein, werden aber aus Erfahrungen gespeist, die in der Millionen Jahre alten Evolution des Menschen begründet sind. Das unaufhörlich tätige Unterscheidungsvermögen, das persönliche und gesellschaftliche Verhältnisse unter der Hand bestimmt, bezeichnet Alexander Kluge als seine Domäne. Er hält ein Plädoyer für die massenhafte Produktion von Unterscheidungsvermögen. In seiner Eröffnungsbilanz des…mehr

Produktbeschreibung
Meist ohne darüber nachzudenken, unterscheiden Menschen ständig: ob warm, ob kalt, ob sie einen andern riechen können, ob ihnen etwas paßt oder nicht. Die Unterschiede machen die Empfindungen von ganz allein, werden aber aus Erfahrungen gespeist, die in der Millionen Jahre alten Evolution des Menschen begründet sind. Das unaufhörlich tätige Unterscheidungsvermögen, das persönliche und gesellschaftliche Verhältnisse unter der Hand bestimmt, bezeichnet Alexander Kluge als seine Domäne. Er hält ein Plädoyer für die massenhafte Produktion von Unterscheidungsvermögen.
In seiner Eröffnungsbilanz des 21. Jahrhunderts, der Chronik der Gefühle, hat er mit der Inventur im Gefühlshaushalt begonnen. In diesem Buch nun erzählt er, woher sein Argwohn gegenüber dem Faktischen rührt, was ihn antreibt, Gefühle und Empfindungen aufzuspüren und als zerstörerische Geheimagenten zu enttarnen. Die Indizien sucht er in der Geschichte, in Geschichten, in Anekdoten, in den Wissenschaften. Detektivisch dem Unwahrscheinlichen auf der Spur, verwandelt er Fakten in Erzählung. Er rüstet die Übermacht des Faktischen ab und besteht auf der zivilisierenden Wirkung mündlicher Erzählung. So belebt er eine alte Kunst, die unterzugehen droht und die er auf besondere Weise beherrscht: die Kunst des Erzählens.
Autorenporträt
Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: 'Mein Hauptwerk sind meine Bücher.' Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt. 'Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, daß Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, daß die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.' Alexander Kluge (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2003

Gefühle aus der Ursuppe
Kalt, heiß, lauwarm: Alexander Kluge macht Unterschiede

Als unsere Zellen noch im Urmeer schwammen, wußten sie nichts von der Eiszeit, die einmal kommen würde. Sie suhlten sich im siebenunddreißig Grad warmen Wasser, an das sie später, als es kalt geworden war, nur noch die eigene Körpertemperatur erinnerte. Ansonsten fror der Mensch und dachte in der Kälte sehnsuchtsvoll an die verlorenen Meere: "Wir lernten Gefühle zu haben, nämlich zu sagen: zu heiß, zu kalt." Alle anderen Gefühle kamen später. Älter als das älteste Gefühl aber, älter als die Unterscheidung zwischen heiß und kalt, ist einzig die Musik, die Schwingungen in den Farben der Atome.

Ist das so? Warum erzeugte nicht die Unterscheidung zwischen hell und dunkel die ersten Gefühle, zwischen naß und trocken oder weich und hart, die sich ebenfalls sämtlich auf den schockhaften Kontrast zwischen Urmeer und Eislandschaft beziehen ließen? Und würde das irgend etwas ändern? An der Sehnsucht, der Geschichte oder der Musik? Ratlos bereits nach der Lektüre von zwei Seiten in Alexander Kluges jüngstem Buch, "Die Kunst, Unterschiede zu machen", blättert die Leserin zurück. Was hatte sie übersehen?

Der erste Text des Bandes erzählt unter dem Titel "Die Sehnsucht der Zellen" in zehn Zeilen nicht nur von der Körpertemperatur, sondern auch vom Salzgehalt der Nieren, der ebenfalls genau dem der Urmeere entsprechen soll. Das belegt sehr schön, daß der Körper über ein enormes Erinnerungsvermögen verfügt, das die stete Sehnsucht nährt, den Antrieb für all unser Tun. Der nächste Text verweist von der Erinnerung auf die Entstehung der Gefühle, spricht aber auch davon, wie in einer kleinwüchsigen "Tosca"-Darstellerin auf hohen Stöckeln das Gefühl "Gleich falle ich hin" lebt, und davon, wie es heiß und kalt wird in der Welt. Hier fällt dann der Satz vom hohen Alter der Musik. Die Leserin stockt wieder. Doch diesmal ist sie sicher, kein Wort oder Zeichen verpaßt zu haben, und blättert also nicht zurück, sondern läßt das Thema Musik und wie alt sie wirklich ist im Vergleich zu kalt und heiß erst einmal liegen, wie es übrigens auch Kluge tut, und liest dann mit ähnlicher Vorsicht, mit der die Tosca vorantrippelt, weiter: immer gewahr, daß sie über andere Passagen stolpern könnte, deren Bedeutung sich selbst bei wiederholter Lektüre nicht erschließen will.

Wie schon das Gesprächsbändchen "Verdeckte Ermittlung", das 2001 erschien, weist auch das jüngste Buch von Alexander Kluge zurück auf die mehr als zweitausendseitige "Chronik der Gefühle", in welcher der Autor zum Jahrtausendwechsel seine Erzählungen zusammengetragen hatte und darüber hinaus in neuen Texten alles, was er in den vergangenen Jahrzehnten gedacht, gefunden, beobachtet hatte. Diesmal handelt es sich um eine kaum über hundertseitige Collage aus kurzen neuen Texten - die auf der Grundlage von Gesprächstranskripten einer Veranstaltung mit Reinhardt Kahl im "Philosophischen Café" von Brigitte Landes bearbeitet und erweitert und von Kluge redigiert wurden - und aus alten, nämlich Auszügen aus der "Chronik": ein Digest also. Wer Kluges große Bücher kennt, wird nichts Neues entdecken. Wer sie nicht kennt, wird für die anderen, so ist zu fürchten, kaum Neugierde entwickeln.

Der Krieg war immer ein Thema in Kluges Werk, und so war es nur folgerichtig, daß seine Geschichten einst Trümmerfeldern glichen. Der neue Band aber präsentiert seine Texte wie auf einem geschmackvoll hergerichteten Tablett ähnlich jenen, auf denen in teuren Restaurants das Dessertangebot herumgetragen wird - Diverses, heiß und kalt. Abgestimmt auf einen Sinnhunger, den Kluge erst behauptet und dann nicht wirklich stillt, stellt er das scheinbar Unzusammenhängende nebeneinander, als sei es nicht nur offensichtlich durch den Willen des Autors verknüpft, sondern auch rätselhaft durch eine Gefühlsstruktur, denn "jede menschliche Eigenschaft ist gefühlsfähig und kann eine Struktur bilden, die mit anderen konzertiert". Hier ist sie wieder, die Musik, doch dann folgt als Beispiel: das Zwerchfell.

Es gibt auch in diesem neuen Buch Geschichten vom Bombenangriff auf Halberstadt, von Feuer und gekochten Leibern; auch von Asterix, dem Gallier, von dem blinden Lastwagenfahrer, den sein Sohn beim Fahren leitet, von Stalingrad, dem Ursprung der Sprache und dem Autor als Partisan. Nichts Neues also. Es gibt Zitate von Marx und Kafka, Anekdoten und Gleichnisse, durchmischt mit Banalitäten wie der Einsicht, daß "Angst etwas Lähmendes" hat und sie zu teilen "Vertrauen schafft". Mit einiger sprachlicher Schlampigkeit werden wir darüber informiert, daß "immer, wo" Lebewesen beteiligt sind, der "subjektive Anteil mitschwingt" und in der Gegend von Babylonien Städte entstanden, "in deren Mitte eine Burg und ein Heiligtum steht".

Kluges Erzählstrategie einer "Mobilisierung von Wahrnehmungsweisen und Gefühlen", die vom herrschenden Bewußtsein "nach unten gedrängt" wurden, hatte einst Schächte in tiefere Sinnschichten begehbar gemacht. Heute aber, nach Jahren nahezu täglicher Medienpräsenz, ist der unverwechselbare sound in Kluges Sätzen kein Störgeräusch mehr. In seinem sehr hohen Ton klingt kaum noch die Melodie der versteinerten Verhältnisse, sondern leise bereits der jingle intellektuellen Markenschmocks.

Alexander Kluge: "Die Kunst, Unterschiede zu machen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 111 S., geb., 15,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003

Lauter fünfte Akte
Alexander Kluge macht feine Unterschiede
All die Geschichten, biographischen Texte und kritischen Untersuchungen, die Alexander Kluge seit gut vier Jahrzehnten seinen Aktivitäten als Film- sowie TV-Produzent abzutrotzen weiß, stellen ein beeindruckendes work in progress dar. Seit den „Lebensläufen” von 1961 schuf Kluge, über eine wahrhaft entwaffnende Fülle von Realitäts- Partikeln aus dem historischen, biologisch-technologischen oder musikdramatischen Bildungsbereich gebietend, seine Prosa-Welt, seine Welt- Prosa. Vor drei Jahren stellte G.W. Sebald im Interview unangefochten fest: „Alexander Kluge, der klügste Schriftsteller in der deutschen Nachkriegszeit”.
Im Jahr 2000 bot Kluge eine 2006 Seiten umfassende summa seiner Schriftstellerei. Ein riesiges Ensemble aus alten und neuen Texten: die fast undurchdringliche „Chronik der Gefühle”. Damit verglichen wirkt Kluges neuestes Büchlein wie eine liebenswürdig kurze Zugabe. Knapp 60 Prosa- Miniaturen. Und im Inhaltsverzeichnis trägt fast die Hälfte der Stücke ein Sternchen. Das aber bedeutet: die „Texte erschienen zuerst in Alexander Kluges Chronik der Gefühle”. Doch auch da waren womöglich manche von ihnen bereits ein Zitat.
So nehmen die tatsächlich neuen Sachen wenig Lesezeit in Anspruch. Eine gewisse Anstrengung verlangen diese witzig und hintergründig, zwischen unsentimentaler Bestandsaufnahme und pathosloser Utopie vermittelnden Texte gleichwohl. Nach wie vor ist Kluge ein glänzender Prosaist. Obschon er mittlerweile manchmal nachlässiger formuliert. „Wir sind nicht auf der Höhe unserer Eigenschaften. Wir nutzen sie nicht. Aber es sind Schätze, die da versteckt sind” – eine derartige „Sind”-Flut hätte er sich früher kaum durchgehen lassen.
Auch hier, im „Unterschiede”-Nachspiel, lassen sich drei verschiedene Formen der Darstellung erkennen: der Gleichnis-Typ, der Biographie-nahe Lebenslauf-Bericht, schließlich jene kurz aufblitzende Schreckensfixierung, die Revolutions-Utopien hervorbringt.
„Gleichnis” meint weniger, die von Kluge dargestellten Dinge seien uralt, tief vergangen, biblisch – sondern eher die meisterlich bildhafte Aura ihrer Beschreibung. Mag es sich dabei um die „Sehnsucht der Zellen” handeln, um die schicksalhaften „Unterscheidungskräfte des Gefühls” oder um „Savonarola im Regen”. In solchen Gleichnis-Zusammenhängen kommt es oft zum unvorhersehbaren Anderen. Zum „Sprung”. Zur originellen, gelegentlich auf kühlen Überraschungs-Witz spekulierenden Wendung. Die aber ist keineswegs stets gleichermaßen plausibel. Nur: darf, soll man unbedingt Stimmigkeit fordern, immerfort allem pedantisch nachfragen? Etwa, was die „Partisanenzone Zwerchfell” eigentlich mit den „Grotesken des Mittelalters” zu tun habe? Kluges Sprünge wirken souverän entspannt. Seine Prosa assoziiert ebenso zwingend, wie grotesk, abwegig oder absichtsvoll absurd. Das leise Lächeln des Autors bei alledem verstärkt des Lesers Verblüffung.
Meisterhaft seine Schilderung des Verhaltens simpler, auf ihre üblichen Lebensmuster festgelegter Opfer während aberwitziger Katastrophen. Verstörend nach wie vor die Stalingrad-Reflexionen. Manche Prosa-Funde Kluges nimmt man bewundernd zur Kenntnis, andere eher staunend, zum Widerspruch geneigt. Wenn etwa Kluge einerseits beklagt: „Gründungen von Gemeinwesen haben bisher das Defizit, dass sie etwas ausgrenzen” (doch lässt sich gemeinsame Identität überhaupt denken ohne „Nicht-Identisches”, also ohne Ausgrenzungen, die ja keineswegs unbedingt zum Hass führen müssen?), dann irritiert andererseits, wie Kluge mit seinen Asterix-Galliern sympathisiert, die sich wer weiß wie heftig gegen die Römer abgrenzen. Da hätte man gern noch weitere Nachrichten.
Alexander Kluge liebt und verfolgt lange schon die Idee eines fiktiven Opernführers. Musikdramatischem gilt seine produktive Passion. Hoffentlich hat er da auch was übrig für den lästigen Beckmesser und dessen pedantische Bitte, einige Irrtümer zu meiden, so er weiterhin lustig-listig über Opern nachdenken möchte. So schreibt Kluge vom „5. Akt”, wenn er die katastrophengeschwängerten Opernschlüsse meint. Doch: die allermeisten Opern (Mozart, Wagner, Puccini, Strauss) haben gar keine 5 Akte. Was Adorno betrifft: der liebte gewiss Bergs, aber nicht auch Schönbergs Opern. Und hat wirklich der „Fliegende Holländer” Jesus auf seinem Weg nach Golgatha verlacht? War das nicht, laut Wagner, die Kundry/Herodias? Es ist eben des Lernens kein Ende.
JOACHIM KAISER
ALEXANDER KLUGE: Die Kunst, Unterschiede zu machen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 120 S., 15 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Joachim Kaiser hat für Alexander Kluges neues Buch die Vorratskammer der Attribute aufgesucht: Witzig, hintergründig, unsentimental, ohne Pathos, originell, gelegentlich unplausibel, zwingend, grotesk und noch einiges mehr findet er diese "liebenswürdig kurze Zugabe" zu Kluges "Chronik der Gefühle". Manche der kurzen Prosastücke sind dort bereits enthalten, die neuen haben Kaiser gezeigt, dass Kluge noch immer "ein glänzender Prosaist" ist, wenn er auch mittlerweile "nachlässiger formuliert". Kluge tue, was sein Schaffen seit vierzig Jahren auszeichne, nämlich in biografischen Texte, Geschichten und Untersuchungen eine "wahrhaft entwaffnende Fülle von Realitäts-Partikeln" - von Stalingrad bis zur Oper - zu seiner eigenen "Prosa-Welt" zu kombinieren. Aufgefallen sind Kaiser die so überraschenden wie herausfordernden Denk-Wendungen in Kluges Texten, oft ist er beeindruckt, manchem will er widersprechen. Dennoch stimmt er G.W. Sebalds Wort vom "klügsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegszeit" zu und hat am Ende nur noch eine "pedantische Bitte": Kluge möge doch, "so er weiterhin lustig-listig über Opern nachdenken möchte", musikhistorische Fehler vermeiden.

© Perlentaucher Medien GmbH