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Die Notation fotografisch genauer Wahrnehmungen verschmilzt in den Gedichten Durs Grünbeins mit Abschweifungen über vermeintlich Entferntliegendes zu konzentriertester Reflexion: über die Zeit und die Geschichte, über das Gewordensein des gesellschaftlichen Ganzen von der Antike über die Renaissance bis in die jüngste Vergangenheit, über den eigenen Platz in den Zeitläuften. "Wohin aber sickert denn Zeit, / Nachdem sie die Körper durchlief? / Kein Tropfen im Grundwasser schreit. / Nicht Schweiß hat das Felsloch vertieft." Die Erkundung der Möglichkeiten des Individuums innerhalb der Grenzen…mehr

Produktbeschreibung
Die Notation fotografisch genauer Wahrnehmungen verschmilzt in den Gedichten Durs Grünbeins mit Abschweifungen über vermeintlich Entferntliegendes zu konzentriertester Reflexion: über die Zeit und die Geschichte, über das Gewordensein des gesellschaftlichen Ganzen von der Antike über die Renaissance bis in die jüngste Vergangenheit, über den eigenen Platz in den Zeitläuften.
"Wohin aber sickert denn Zeit, / Nachdem sie die Körper durchlief? / Kein Tropfen im Grundwasser schreit. / Nicht Schweiß hat das Felsloch vertieft."
Die Erkundung der Möglichkeiten des Individuums innerhalb der Grenzen seiner eigenen Lebenszeit und seines Lebensraums Großstadt sind seit langem Themen dieses Autors: "Warum bist Du hier? steht als Frage gleich morgens mit auf." In seinen neuen Gedichten, die unter die Kapitelüberschriften "Unzeitgemäße Gedichte", "Neue Historien" und "Traktat" vom Zeitverbleib geordnet sind, führt er diese Themen weiter und entfaltet sie in Langgedichten und Zyklen.
Das poe tologische Titelgedicht, das auf ein Schönbergsches Orchesterstück anspielt, beschreibt als Movens das Fortschreiten in Oppositionen zwischen magischen und rationalen Definitionen der Poesie und beschließt den Band mit einem vorläufigen Fazit.
Autorenporträt
Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, der u. a. mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Dichter und Essayist, gehört zu den bedeutendsten Autoren seiner Generation. Der Dialog mit den Naturwissenschaften und den Künsten ist von Anbeginn Thema seines Schreibens. Durs Grünbein befasst sich mit Fotografen wie Jeff Wall, William Eggleston oder Sternfeld, mit Künstlern wie Francis Bacon, Chardin, Cezanne, Ilya Kabakow, Hermann Nitsch u. a., er befragt sie nach ihrem Verhältnis zur Zeit, zum Körper und zur Geschichte. 2005 erhielt er den "Friedrich Hölderlin-Preis" und 2006 wurde Durs Grünbein mit dem "Pier Paolo Pasolino Preis", dem internationalen Lyrikerpreis, ausgezeichnet. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Tomas-Tranströmer-Preis geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Ein Seestern tröstet besser als der Stoizismus
Durs Grünbein zieht eine Zwischenbilanz / Von Lorenz Jäger

Dies sind Gedichte, die sich an einzelne wenden. Sie sind dem inneren Lesen zugedacht; das Lied, der Spruch, das Auswendiglernen liegen außerhalb ihres Bereichs. Noch für Brecht war die Lage anders, weil der Kommunismus - und darin mag seine Attraktion bestanden haben - ein Volk fingierte, an das der Dichter sich wenden konnte. Grünbein schreibt Kunstgedichte; wer sie liest, sollte sich für die antiken Stoffe den "Kleinen Pauly" zurechtlegen und für die italienischen Ansichten Jacob Burckhardts "Cicerone".

Zauberhaft leicht und sicher ist Grünbein in den Rhythmen seiner langen Zeilen. Musikalische und tänzerische Anspielungen geben den poetologischen Rahmen: Im ersten Gedicht - "Was ist das, Frühling" - erinnert Grünbein an Strawinskys "Sacre du printemps", im letzten, das der Sammlung den Titel gegeben hat, an Arnold Schönbergs Orchesterstück "Verklärte Nacht", eine der schönsten Kompositionen der Jahrhundertwende, die ihrerseits auf ein Gedicht von Richard Dehmel geantwortet hatte. Dazwischen findet man die lieblichere oder schärfere Sprach-Musik der Vögel in Umbrien.

Es sind Blicke nicht nur auf die Musik, sondern ebenso auf die Geschichte und die Philosophie, die die Gedichte charakterisieren: Einmal werden diese geradezu als "Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding" definiert. Aber die offensichtliche Anspielung, wie hier auf Schönberg, ist vor allem, wo sie einem ganzen Band den Titel gibt, eine problematische rhetorische Figur. Wenn sie nicht im bloßen Effekt der Sekunde verpuffen soll, muß sie abgearbeitet werden. Dann legt sie dem Dichter eine Verpflichtung auf - er muß sich nun bei jedem seiner Schritte an der Tradition messen -, andererseits wird sich auch das künstlerische Selbstbewußtsein steigern. Diese widersprüchliche Bewegung, die im Titel "Erklärte Nacht" angelegt ist, entfaltet sich in den Gedichten.

Zum dichterischen Selbstbewußtsein gehört die Geschichte der poetischen Sozialisation in mehreren Schritten. Einmal ist es die Erkenntnis der Laute und ihrer Bedeutungen, die, wer weiß, vielleicht der Lautfolge des eigenen Namens abgewonnen ist. Das Gurgeln und das unterweltlich-katakombenhafte des Kehlkopfes beschäftigen Grünbein mehr als einmal. Die erste Prüfung der Welt findet im Mund statt: "Nichts, was die Lippen verwarfen, wurde geglaubt. / Flinker als Lidschlag sortierte die Zunge. / Die ersten Worte, erbeutet als Talisman, / Klebten lange am Gaumen, Nougat und Kieselstein."

Zum Mund tritt das Auge. Wenn man von einem Thema dieser Gedichte vereinfachend sprechen will, dann ist es der Ort des Unheimlichen in der Zivilisation - die Bildungswelt Rudolf Borchardts, gesehen von der Kamera Alfred Hitchcocks. Grünbein wurde 1962 in der DDR geboren, "mitten im Kältesten Krieg", als man sich durch Zielfernrohre ansah. Als Kind, "sehr früh schon, zu früh" bildet er den anderen Blick aus: "Mit Augen, die hätten jede Mutter erschreckt." Der Blick durch Gitter und Türspione, der hier geschildert wird, könnte aus Hitchcocks Ost-West-Spionenfilm "Der zerrissene Vorhang" stammen. Und schließlich ist es die Schrift, die er in der denkbar schönsten, geschütztesten Weise von seiner Mutter lernt: "Still rührte sie den Teig, und schnitt vom Rand / Schriftzeichen aus, ein eßbares I Ging."

Aber die Zeichen werden nicht nur vom Auge gelesen, der Körper erfährt sie, und so ist die Geschichte dieser dichterischen Berufung auch eine Geschichte der Schrecken und der Schweißausbrüche, die aus der Welt des Märchens stammen, wo es am dunkelsten ist. Drei unheimliche Zeichen begegnen dem Knaben, dreimal wird er angesprochen. Ein Katzenkadaver sagt ihm: "Schuld bist auch du. Der das hier tat, war deinesgleichen." Der Verkrüppelte, der in Stalingrad den Verstand verlor, ist der zweite: "Was wißt ihr schon. So bald verdorrt ist euer freches Grün." Eine gichtige Alte schließlich erscheint ihm als Märchenhexe: "Ich bin die Leich vor eurer Tür. Ihr werdet an mich denken." Im Leben des Erwachsenen enträtseln sich die üblen Orakel im Herzklopfen, im Lärm der Panzerketten, im Gestank von Kantinen.

Durs Grünbein steht im vierzigsten Jahr, einem Alter, das erste Bilanzen und Vergänglichkeitsreflexionen nahelegt. Man findet sie vielfach in diesem Band, auch im antikisierenden dritten Teil, der "Neue Historien" überschrieben ist. Das erste Gedicht - "Schwacher Trost" - gilt der Unsterblichkeitslehre des Stoikers Chrysippus, die, wenig attraktiv, auf ein den Philosophen vorbehaltenes Seelenarchiv hinausläuft: "Niemals vergessen zu werden lautet ihr Fluch." Besser ist ein Seestern, den die Kinder gefunden haben: "Welcher Trost meinem Auge, dies kleine obszöne Tier." Episoden aus dem Leben Senecas schließen sich an, sie dienen Grünbein dazu, Fragen an die stoische Philosophie zu formulieren. Um die vernünftige Einstellung zum Tod war es dieser Schule vor allem gegangen. Hält sie stand? "In Ägypten" heißt das Gedicht, in dem Seneca gesteht: "Unheimlich ist sie, die Eile der Zeit, blickt man zurück." Auch das folgende Gedicht - "Julia Livilla" - behandelt einen Stoff aus der Lebengeschichte des Philosophen. Julia, die Verbannte, schreibt ihm, dem einstigen Geliebten, und erinnert an die Versäumnisse der Vernunft: "Denn so ist Liebe - / Sie übersteigt, was immer du an Argumenten hast. / Nicht daß ich einsam wär, allein mit meinen Diatriben. / Mir scheint nur, Freund, wir hätten zuviel Zeit verpaßt, / Indem wir das Intime mieden." Verfremdet-schön ist diese Antike im Blankvers, die direkt aus Wielands Horaz-Übertragungen zu stammen scheint.

Die Gedichte um Seneca und die Lage der Philosophie angesichts des Zynismus des kaiserlichen Rom sind in die Komposition des Ganzen verflochten. Man hört ihr Echo in den "September-Elegien", die nach den New Yorker Anschlägen verfaßt wurden: "Keiner ist Stoiker hier. Palavernd vor Schwellen und Türen, / Von Terminen und Schulden gejagt, durcheilt man die Stadt. / Wer hat schon Zeit gehabt, etwas wie Seelenruhe zu destillieren / Aus der Gewißheit des Todes und daß alles ein Ende hat?"

Manchmal scheint Grünbein sich selbst, angesichts der staunenswerten Geschichte seines Ruhms, stoische Lebensweisheit anzuempfehlen: "Vergiß das Lob, das dir schmeichelt", heißt es in "Das pessimistische Alter". Einem der schönsten Gedichte dieses Bandes - "Herrscherin der todgeweihten Stadt" - gelingt es, die Bildungswelt ganz in Erkenntnis zu verwandeln. "Tyche" ist Zufall, Geschick, Glück und Unglück, und zugleich die personifizierte, unberechenbare Göttin dieses Bereichs. "Eutychides" war der Künstler - man kennt ihn nur unter diesem Beinamen -, der die schönste Figur der Göttin schuf. Warum? Dort, wo er lebte, herrschte sie ja buchstäblich, und nur dort, wo einzig Trümmer geblieben sind, konnte sie ihre verbindliche Gestalt gewinnen: "Inmitten der Erdbebenzone lebte ihr Schöpfer."

Durs Grünbein: "Erklärte Nacht". Gedichte. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2002. 149 S., geb., 18,- .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.06.2002

Bald bin ich vierzig, Sir
Fast eine Ars moriendi: Durs Grünbeins neuer Gedichtband „Erklärte Nacht”
Ob es Grünbein-Leser gibt, die nicht beim ersten Blick auf seine neue Gedichtsammlung den Köder geschluckt und eine Anspielung auf Schönbergs Opus 4, das Sextett „Verklärte Nacht”, vermutet haben? Das Titelgedicht „Erklärte Nacht”ist das letzte der Sammlung, ein poetologisches Bekenntnis: „Oder Dichtung, was war das noch?” Es gibt in zweiundzwanzig Versen eine Fülle von Antworten. Schöne Metaphern heben wieder und wieder den Vorhang zu immer neuen poetischen Welten: Entführung in alte Gefühle, magisches Gängelband, Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding.
Auf keine seiner eigenen Definitionen wird sich der Dichter hier festlegen, und auch das uralte Misstrauen gegen die Poesie schwingt immer mit: „Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel.” Die letzten beiden Verse wagen ein Fazit: „Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt. / Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.” Das ist eher ein Bekenntnis als eine Behauptung. Das letzte Wort greift den Titel wieder auf, und man darf sicher sein, dass „die menschliche Nacht” alles umfassen möchte, was hier an Bedrohung und Beunruhigung zu Wort gekommen ist, und dass es nach der Überzeugung des Dichters die Gedichte sind, die diese Nacht erklären können – nicht erleuchten und schon gar nicht verklären.
Aber was hat dann dieses Gedicht und was hat der ganze Band noch mit Schönberg zu tun? Der hatte den Titel jenem schwülstigen Gedicht Richard Dehmels entlehnt, das damals moralisch gewagt und bald danach peinlich klang. Prosaisch ausgedrückt, verspricht darin ein Mann, dessen Geliebte von einem anderen Mann schwanger ist, seine Vaterschaft anzuerkennen. Die pathetische Existenz dieser „zwei Menschen” in ihrem Gang „durch hohe helle Nacht” hat auch eine irdische Seite: „Er fasst sie um die starken Hüften.” Die Anspielung auf Schönberg (oder auf Dehmel) stößt also ins Leere. Grünbeins Text genügt sich selbst. Aber damit nicht genug. Gibt es einen Grünbein-Leser, der „Was bleibt ...” nicht als Anspielung auf Christa Wolf lesen kann? „Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt.” Grünbeins Gedicht ist natürlich nicht liedhaft, und dieses „Singen” erhebt nur den alten poetischen Autoritätsanspruch des von den Musen inspirierten Sängers der Antike. Seine Muse ist die Sterblichkeit, sagt dieses Gedicht.
Eine Überdetermination, ein irritierender Überschuss an Sinn prägt nicht nur dieses Gedicht, sondern den ganzen Band und ist vielleicht symptomatisch für Durs Grünbeins gegenwärtige poetische Situation. Denn diese Überdetermination prägt auch die Form. Durs Grünbein pflegt eine Versform, die unüberhörbar auf die klassische deutsche Bildungstradition anspielt. Die meisten seiner Verse machen beim ersten Lesen oder Hören den Eindruck von Hexametern. Wer mit der klassischen Hexameterdichtung nicht mehr vertraut ist, der wird sich nach der Funktion dieser Anspielung auf Altes fragen. Wer dagegen von der Tradition noch erfasst worden ist, wird überdies eine Begründung für die zahlreichen Abweichungen zu finden versuchen, die dem geschulten Ohr oft genug als unschöne Fehler auffallen.
Grünbeins Hexameter kann nämlich mit Auftakt beginnen, er kann sieben und acht oder auch nur fünf Füße, er kann einen zweisilbigen Fuß als vorletzten haben. Der stärkste Eingriff in die zitierte Verstradition ist allerdings der Reim, denn diese Verse reimen fast durchgehend! Auch hierin ist der Dichter aber nicht ganz streng und duldet oder sucht kleine Unreinheiten, z.B. in der zweiten Reimsilbe (Gefühle/ Stühlen) oder in den Konsonanten (Ding/ singt). An der Ernsthaftigkeit der Reime wie der Verse ist aber bei Grünbein durchaus nicht zu zweifeln. Ihre Form provoziert, wie die Anspielung auf Schönberg, einen Überschuss. Sie ruft die deutsche Klassik und mit ihr die antike Tradition auf den Plan – zu welchem Zweck?
War ich nicht eben erst jung?
Eine vorläufige Antwort drängt sich auf, aber nur für das dritte Kapitel der Sammlung. Es ist mit „Neue Historien” überschrieben und behandelt antike Stoffe, vor allem eine Reihe von Rollengedichten aus der fiktiven Feder Senecas. Die antikisierende Verssprache kann hier noch am leichtesten als Kulisse verstanden werden. Goethe hat den Zusammenstoß von Antike und Moderne dramatisch am Vers und am Reim in Szene gesetzt. Die Vereinigung von Faust und Helena findet poetisch statt: indem sie reimen lernt. Kann Durs Grünbein im Jahre 2002 seinen Seneca das Reimen lehren, ohne diese übermächtige Tradition heraufzurufen?
Solche Formen der Tradition, die nie ganz akzeptiert und auch nie ganz erfüllt werden, gestatten dem Dichter zwar, sich auszudrücken, doch gleichzeitig verbirgt er sich auch dahinter. Wenn bei Durs Grünbein das Wort „ich” vorkommt, dann ist es in den allermeisten Fällen ein Rollen-Ich: „War ich nicht eben erst jung?” fragt Seneca in seinem Brief an Lucilius, „viel ist es nicht, was mir bleibt”, klagt Diodorus Siculus in „Das pessimistische Alter”. Der Dichter hat diese Figuren gewählt, weil sie in ihrer Verkleidung seine eigene Sorge spiegeln, er scheut die traditionelle Rolle des am Autor klebenden lyrischen Ich.
Obwohl unverkennbar eine biographische Erfahrung im Mittelpunkt des Reisebildes „Hinter Assisi” steht, ist das Subjekt dieser Erfahrung getilgt und durch das unpersönliche „man” ersetzt: „Was man hier vorfand, hatte man sonst in Museen gesucht”. Berlin, Umbrien, Venedig, das Kosovo, Manhattan nach dem 11. September, Arkadien: alle diese poetischen Orte erblicken wir durch die Augen von jemandem, der sein Ich löscht und nur gelten lassen will, was sich auch von einem „Man” aussagen lässt.
Das gilt erstaunlicherweise auch für die „Drei unzeitgemäßen Gedichte” mit ganz persönlichen Erinnerungen des Autors an die DDR. Gleich im ersten Vers des „Abschieds vom Fünften Zeitalter” tritt das Ich in die dritte Person zurück: „Der hier spricht, stand früh auf seinerzeit.” Aber die Wirklichkeit von damals geht auch in der Erinnerung jener verloren, die sie wirklich erlebt haben. Um sie festzuhalten, greift der Dichter fast verzweifelt jene Motive auf, die längst Klischee geworden sind: „Braunkohle hieß, was man morgens schon roch.”
Das vierte Kapitel ist ein „Traktat vom Zeitverbleib”. Vielleicht darf man es zentral nennen. Kein anderes Motiv bringt die biographische Realität des Autors deutlicher ins Spiel: „Ein Mann sitzt da und wird vierzig”, heißt es gleich im ersten der zweiundzwanzig Gedichte dieses Zyklus. Der Satz kehrt leitmotivisch wieder, aber nie sagt dieser Mann „ich”. Wenn er sich anspricht, meint er auch nur wieder jedermann: „Zeigt sich, dass alles da draußen / Auch ohne dich läuft, irgendwie.”
Der Zyklus ist kunstvoll komponiert. Siebenmal folgen einem Gedicht aus drei Strophen mit fünf reimenden Langversen jeweils zwei Gedichte mit fünf Strophen in kurzen gereimten Vierzeilern. Sehr oft ist der Schluss eines Gedichts wie in der provenzalischen Tradition mit dem Beginn des nächsten semantisch verknüpft. Das letzte ist wieder ein Langzeilengedicht und schließt ganz barock: „So eilt sie dahin und entgleitet dir, deine einzige kostbare Zeit.” Ein solcher Vers findet beinahe zwangsläufig den Ton und die Motive des Memento mori: „Der Mensch? – Ein Kadaver in spe.”
Aber ist das die „menschliche Nacht”? Und können die Gedichte sie erklären? „Das Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn!” hört man Gryphius aus dem Off. Vielleicht hat der Dichter hier eine andere jener Traditionen gefunden, die etwas anderes, noch nicht Erkanntes andeuten und zugleich verhüllen? Sein leitmotivischer Satz kehrt in einem der Rollengedichte wieder, einem Brief an den englischen Arzt des 17. Jahrhunderts Sir Thomas Browne, „an Euch, als Arzt im Totenreich”. In der Rolle des Briefschreibers wagt sich das biographische Ich noch einmal hervor: „Bald bin ich vierzig, Sir. Woher, wohin?” Das sind rhetorische Fragen, die sich nur in Ironie auflösen lassen: „Von all dem Sir, ich weiß, erreicht Euch keine Zeile.”
Was erreicht uns, die Leser, von all dem? Je besser man es versteht, desto dicker scheint die Mauer aus Glasbausteinen zu werden, die uns davon trennt. Nur an einer Stelle gibt es in dieser Glasmauer ein Loch, das vierte und letzte Gedicht des kleinen Zyklus „Mehrere Schweißausbrüche”: „Und immer geht die Katze mit mir mit, der blutige Kadaver, / Den ich als Kind sah, an den Eichenstamm genagelt.” Auch hier war die Versuchung stark, das eigene Getroffensein einem „man” aufzubürden, aber sie wird überwunden. „Die Fratze Kindheit” wird anschaubar, und ihr gelingt es, ein Stück menschliche Nacht zu erklären.
HANS-HERBERT RÄKEL
DURS GRÜNBEIN: Erklärte Nacht. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 148 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der Titel schon ist typisch: alle gebildete Welt werde unweigerlich an Schönbergs "Verklärte Nacht" denken, meint Hans-Herbert Räkel, aber der Verweis führt nirgends wirklich hin. Der ganze neue Gedichtband ist ähnlich strukturiert, es finde sich ein "irritierender Überschuss an Sinn". Vergleichbares ereignet sich auf der formalen Ebene, gleichfalls nicht so leicht aufzulösende "Überdetermination". Grünbein lehnt sich ans Klassischste an, den Hexameter, und handelt der Konvention doch immer wieder zuwider: die Zahl der Versfüße variiert, vor allem aber: die Gedichte sind fast durchgehend gereimt. Klassik wie Antike werden so angespielt, fragt sich nur: "Zu welchem Zweck?" Als "Kulisse" vielleicht, meint Räkel, als Goethe nacheiferndes Spiel der Annäherung womöglich auch. Ein weiterer Effekt aber ist das Verschwinden des Ich in der Rolle, die Verweigerung des "lyrischen Ich" der direkten Autor-Aussprache. Das findet der Rezensent umso erstaunlicher, als oft ganz unzweifelhaft Biografisches den Hintergrund abgibt - diese Gedichte umgibt, bedauert er, eine "Mauer aus Glasbausteinen".

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