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Ein Gespenst geht um in den Wissenschaften - das Gespenst des Gedankenexperiments. Gedankenexperimente verheißen Erkenntnisgewinn ohne empirische Arbeit - was vor dem Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaften jedoch einer Unmöglichkeit gleichkommt. Und doch zieht sich das Forschen mit Gedankenexperimenten wie ein roter Faden durch die lange Tradition in den empirischen Wissenschaften von ihren Anfängen bei Stevin, Galilei und Newton bis heute. Ulrich Kühne erzählt die Geschichte des alten Menschheitstraums, Naturgesetze durch reine Vernunftgründe erschließen zu können - vom Optimismus…mehr

Produktbeschreibung
Ein Gespenst geht um in den Wissenschaften - das Gespenst des Gedankenexperiments. Gedankenexperimente verheißen Erkenntnisgewinn ohne empirische Arbeit - was vor dem Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaften jedoch einer Unmöglichkeit gleichkommt. Und doch zieht sich das Forschen mit Gedankenexperimenten wie ein roter Faden durch die lange Tradition in den empirischen Wissenschaften von ihren Anfängen bei Stevin, Galilei und Newton bis heute.
Ulrich Kühne erzählt die Geschichte des alten Menschheitstraums, Naturgesetze durch reine Vernunftgründe erschließen zu können - vom Optimismus der Naturphilosophen wie Kant und Ørsted bis hin zu den Gefechten der »Common-sense-Theoretiker« mit den Vertretern der abstrakten Naturtheorien über Relativität und Quanten. Im Mittelpunkt des Buches steht dabei die Frage, ob sich in der reichhaltigen Begriffs- und Methodengeschichte des »Gedankenexperiments« nicht bloß zahlreiche illusorische Hoffnungen finden lassen, sondern auch eine sinnvolle Bedeutung für dessen Gebrauch in den Naturwissenschaften.
Autorenporträt
Kühne, UlrichUlrich Kühne, Jg. 1966, ist Wissenschaftsphilosoph und -historiker in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2005

Dann denkst du nur, du denkst
Vom Entstehen der Wahrheit in kräftigen und lebendigen Geistern: Ulrich Kühnes Ideengeschichte mentaler Versuchsanordnungen begeistert und ernüchtert zugleich
Von Thomas Macho
Was ist ein „Gedankenexperiment”? Der Ausdruck kann umgangssprachlich so verschieden gebraucht werden, dass die Antwort schwer fällt. Meint er das Experiment vor dem Experiment? Oder ein Experiment, das in der Realität gar nicht durchgeführt werden kann? Eine Science-Fiction- Erzählung über Zeitreisen, Marsmenschen oder Unsterblichkeit? Oder bloß eine Art von Tagtraum, der mit den Worten „Was wäre, wenn” beginnt? Jedes Experiment basiert ja auf strategischen Vorüberlegungen, mentalen Versuchsanordnungen, die eine begrenzte Reihe möglicher Ergebnisse vorwegnehmen. Wenn ich ein wiederholbares und aussagekräftiges Experiment durchführen will, muss ich zuvor wissen, was ich wissen will.
In der zweiten Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft” (von 1787) betonte Kant - unter Bezug auf die Experimente Galileis und Torricellis -, die Vernunft befrage die Natur mit Hilfe von Prinzipien und Experimenten, aber nicht wie ein Schüler, der belehrt werden will, sondern wie ein Richter, „der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt”. Naturwissenschaft und Rechtsprechung, so lautete sein Argument, orientieren sich gleichermaßen an einem System von Gesetzen, das nicht aus dem konkreten Fall - sei es im Gravitationsexperiment oder bei der Gerichtsverhandlung - abgeleitet werden kann. Nach Kant ist eigentlich jedes Experiment (auch) ein Gedankenexperiment.
Angesichts der extensiven Möglichkeiten, von Gedankenexperimenten zu sprechen, wirkt Ulrich Kühnes Versuch, die Ideen- und Wissenschaftsgeschichte der Gedankenexperimente nachzuzeichnen, wie eine Ernüchterung und begeisternde Anregung zugleich. Ernüchtert wird der Leser, der nach Beispielen aus der Phantastik fahndet (und vor allem den Unterhaltungswert von Gedankenexperimenten schätzt); begeistert wird dagegen ein Leser, der Gedankenexperimente als methodische Strategie ernstnehmen will - und vielleicht abgeschreckt wurde von jenem Vorurteil, das ausgerechnet Wittgenstein, ein Meister des philosophischen Gedankenexperiments, zum Ausdruck brachte, als er in den „Philosophischen Untersuchungen” schrieb: „In der Vorstellung eine Tabelle nachschlagen, ist so wenig ein Nachschlagen einer Tabelle, wie die Vorstellung des Ergebnisses eines vorgestellten Experiments das Ergebnis eines Experiments ist”.
Wittgenstein hatte zweifellos Recht. Wollte das Gedankenexperiment tatsächlich die Empirie der wissenschaftlichen Forschung ersetzen, so müßte es scheitern; kein Experiment wird durch Gedankenexperimente widerlegt oder überflüssig gemacht. Ist das Gedankenexperiment folglich nur ein didaktisches Instrument, ein mehr oder weniger beliebiges Exempel? Nein, behauptet Ulrich Kühne, Gedankenexperimente sind vielmehr Methoden, „um argumentative Brücken zwischen weit auseinander liegenden, logisch zuvor unverbundenen Wissensinhalten herzustellen”.
Diese These steht - als ein Resultat - auf der letzten Seite des Buchs. Sie ergibt sich aus einer präzisen und detaillierten historischen Rekonstruktion, die - soweit ich sehen kann - eine relevante Forschungslücke schließt. Kühnes Darstellung einer Geschichte der Methode des Gedankenexperiments gliedert sich in drei Teile: eine Geschichte des Gedankenexperiments in der Naturphilosophie - am Beispiel von Hans Christian Ørsted: eine Geschichte des Gedankenexperiments in der Psychologie und Logik - am Beispiel Ernst Machs (und seiner Rezeption), sowie eine Geschichte des Gedankenexperiments in der modernen Physik und Wissenschaftsphilosophie, etwa am Beispiel Albert Einsteins.
Während die Gedankenexperimente Machs, Einsteins, Heisenbergs, Schrödingers oder Bohrs bereits häufiger kommentiert (und sogar literarisiert wurden, wie etwa in Robert Anton Wilsons Romantrilogie „Schrödingers Katze” oder in Houellebecqs „Elementarteilchen”), verdient die Auseinandersetzung mit dem dänischen Physiker und Chemiker Hans Christian Ørsted besondere Aufmerksamkeit. Ørsted (1777 - 1851), ein Grenzgänger zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie (der bei Schelling studierte), ist wissenschaftsgeschichtlich bekannt wegen seiner Entdeckung der Zusammenhänge zwischen Elektrizität und Magnetismus; auch die Erfindung des Piezometers und die erste Herstellung von (unreinem) Aluminium werden mit seinem Namen assoziiert.
Viel weniger bekannt ist jedoch, dass Ørsted nicht nur den Ausdruck „Gedankenexperiment” gleichsam erfunden hat; er hat auch das Gedankenexperiment als einen methodisch privilegierten Weg ausgezeichnet, auf dem eine Annäherung zwischen Empirismus und Rationalismus, Naturwissenschaft und Naturphilosophie, ja sogar zwischen Physik und Mathematik erreicht werden könnte. Im § 17 seines Aufsatzes „Über Geist und Studium der allgemeinen Naturlehre” (von 1811) schrieb Ørsted: „Wenn wir in unsrer Vorstellung einen Punkt sich bewegen lassen, um eine Linie zu beschreiben, oder eine Linie sich um ihren eignen Endpunkt bewegen lassen, um mit dem andern einen Kreis zu beschreiben, was ist das anders als ein Gedankenexperiment? Die Differential- und Integral-Rechnung besteht durchaus nur in solchen Gedankenversuchen und Betrachtungen darüber. Wo diese Art des Verfahrens Statt finden kann, und das kann sie weit häufiger als man glauben sollte, ist sie vorzüglich geeignet, das Streben eines lebendigen und kräftigen Geistes nach Einsicht zu befriedigen, denn durch andre Arten der Darstellung erfährt man im Allgemeinen mehr, warum man überzeugt seyn muß, daß dieses oder jenes so ist, als warum es wirklich so ist. Hier sehen wir jede Wahrheit in ihrer Entstehung.”
Gewiss ist Ørsteds ehrgeiziges Vorhaben gescheitert, wie Kühne nicht verschweigt; und doch hat der dänische Gelehrte mit den zitierten Sätzen bereits jenes methodische Programm ansatzweise vorweggenommen, das Kühne selbst als Imperativ der Evolution von Wissensordnungen charakterisiert.
Nicht weniger aufschlussreich als das Kapitel über Hans Christian Ørsteds Erfindung des Gedankenexperiments präsentieren sich die folgenden Teile über Mach oder über die moderne Physik. Hier stößt der Leser auch auf bekanntere Gedankenexperimente wie Machs „Eimer-Experiment” oder Einsteins Beispiele von Zügen, Bahndämmen oder Blitzschlägen. Mit welchem Ernst die Diskussion um solche Gedankenexperimente geführt wurde, demonstriert Kühne an den kritischen Reaktionen auf Mach oder Einstein, aber auch an einer Rede, die Max Planck 1935 in Berlin vortrug. Darin behauptete er: „Gewiß ist ein Gedankenexperiment eine Abstraktion. Aber diese Abstraktion ist dem Physiker, und zwar sowohl dem Experimentator wie dem Theoretiker, bei seiner Forschungsarbeit ebenso unentbehrlich wie diejenige, daß es eine reale Außenwelt gibt.”
So weit mag Ulrich Kühne nicht gehen; und dennoch merkt man stets, dass die Faszination für die Strategie der Gedankenexperimente dem Autor - der Physik und Philosophie in Oxford studiert hat - nicht fremd ist, auch und obwohl er ihren methodischen Anspruch begrenzen will. Gedankenexperimente dürfen nicht überschätzt werden; aber sie werden auch unterschätzt, wenn sie bloß als didaktische Popularisierungen eingesetzt und wahrgenommen werden.
Ulrich Kühne
Die Methode des Gedankenexperiments
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 410 Seiten, 14 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Aufschlussreich" findet Thomas Macho diese Abhandlung über "Die Methode des Gedankenexperiments". Zwar werden jene Leser, die sich fantastische Reisen in fremde Welten unter einem Gedankenexperiment vorstellen, enttäuscht sein; begeistern jedoch wird Ulrich Kühnes jene Leser, die "Gedankenexperimente als methodische Strategie" begreifen, verspricht der Rezensent. In drei Teile gliedere sich Kühnes Arbeit, jeweils die Geschichte des Gedankenexperiments in einem bestimmten Wissenschaftszweig beschreibend: in der Naturphilosophie - am Beispiel von Hans Christian Orsted -, in der Psychologie und Logik - Beispiel: Ernst Mach - und in der Physik und Wissenschaftsphilosophie - Beispiel u. a.: Albert Einstein. Fazit von Kühnes "präziser und detaillierter historischer Rekonstruktion": Gedankenexperimente schlagen "Brücken zwischen weit auseinander liegenden, logisch zuvor unverbundenen Wissensinhalten". Erleichtert vermerkt Macho: mit diesem Buch ist wieder eine Forschungslücke geschlossen.

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