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Diese Essays sind Stationen der Vergewisserung über die Bedeutung der Vergangenheitsschuld für die Gegenwart und über die Rolle, die gegenwärtiges Recht für die Bewältigung von Vergangenheitsschuld spielen kann.

Produktbeschreibung
Diese Essays sind Stationen der Vergewisserung über die Bedeutung der Vergangenheitsschuld für die Gegenwart und über die Rolle, die gegenwärtiges Recht für die Bewältigung von Vergangenheitsschuld spielen kann.
Autorenporträt
Bernhard Schlink, geb. 1944 in Bielefeld, aufgewachsen in Heidelberg. Jurastudium dort und in Berlin, danach wissenschaftlicher Assistent. Erste Professur für VerfR und VerwR in Bonn, dann in Frankfurt. 1988 Richter des VerfGH für das Land NRW. Nach der Wende 1989 in Berlin tätig. Heute Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität in Berlin und Richter am LVerfGH in Münster. Zunächst Fachbuch-, dann Romanveröffentlichungen; Auszeichnungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2002

Laßt euch nicht erschöpfen

Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" geriet nach Jahren uneingeschränkten Lobs und ökonomischer Erfolge unlängst doch noch ins Kreuzfeuer der literarischen Kritik. Schlink hatte 1995 die Liebesgeschichte zwischen einem anfangs fünfzehnjährigen Schüler und einer älteren Straßenbahnschaffnerin mit der Frage nach der Schuld der Deutschen vor und nach 1945 verbunden: Die Schaffnerin stellt sich im Verlauf des Romans als ehemalige KZ-Aufseherin heraus, der Schüler, der sie liebt, fühlt sich ob seiner Beziehung zu ihr in eine Schuld verstrickt, als er von ihrer Vergangenheit erfährt. Das Buch sei "schlecht geschrieben, sentimental und moralisch empörend", urteilte ein Kritiker in diesem Frühjahr in einem Leserbrief an das "Times Literary Supplement"; ein anderer Rezensent geißelte den "Vorleser" gar als "Kulturpornographie". Diese Stimmen werden durch Schlinks nun erschienene Aufsätze zu Fragen des Umgangs des Rechts mit Vergangenheit ("Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 156 S., br., 8,50 [Euro]) vermutlich nicht besänftigt, eher dürfte die Kritik von neuem angefacht werden. Die einzelnen, über fünfzehn Jahre publizierten Texte handeln von Schuld und Sühne, juristischer und moralischer Verantwortung, vom Umgang mit NS- und DDR-Unrecht. Meisterstücke sind darunter, wie jener 1998 geschriebene grundlegende Beitrag über "Die Bewältigung von Vergangenheit durch Recht" (F.A.Z. vom 19. Mai 1999). Nicht nur hier zeigt sich, daß Schlink in seinen Analysen immer präziser, in seiner Zielsetzung aber nüchterner wurde. Sein Credo ist, daß die notwendige Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte einer gezielten Willensanstrengung bedarf, da im Normalfall sonst "einfach eine Erschöpfung" eintreten würde, "die vor den Aufgaben der Zukunft zur Beschäftigung mit der Vergangenheit zunächst keine Kraft läßt". Hingegen solle man jedoch weder überzogene Erwartungen hegen noch die Rolle des Rechts überschätzen. Gegen das Pathos der schiefen Formel von der "Vergangenheitsbewältigung" setzt er Einsichten, die ihre Qualität daraus gewinnen, daß Schlink einzigartig Fragen der Rechtsgeschichte, des modernen Verfassungsrechts und der Sozialpsychologie verbindet. Natürlich verhalten sich die hier abgedruckten sechs Texte des Staatsrechtlers Schlink nicht wie die Theorie zu den Romanfiguren des Literaten Schlink. Daß dem Leser in einer Fußnote jener Heidelberger "Giftschrank" mit NS-Schriften renommierter Professoren wiederbegegnet und historisch verbürgt wird, den er schon aus dem "Vorleser" kennt, ist die Ausnahme. Eher ist es schon der Schlinksche Ton, den man auf Anhieb wiedererkennt, gleich für welches Publikum er seine kurzen, prägnanten und auch lakonischen Sätze schreibt. Der innere Monolog seines Protagonisten Michael Berg ist von vergleichbarem Skeptizismus geprägt wie die wissenschaftlichen Beiträge von Schlink. Wünsche nach "restloser Aufarbeitung" oder "Entsühnung" stoßen an Grenzen, denn sie werden von den sozialen Milieus umhegt, in denen die Menschen handeln. Hier geht es um Fragen der Solidarisierung und Entsolidarisierung von Kollektiven, die mit der ihnen eigenen Trägheit und dem Beharrungsvermögen auf sich selbst blicken. Diese soziale Logik ist etwas anderes als die Perspektive des Strafrechts, das nur individuelle Verantwortlichkeit kennt. Wie groß die Rolle außerjuristischer Normen ist, zeigt der einzige bisher unpublizierte Beitrag, "Unfähigkeit der Staatsrechtswissenschaft zu trauern?" betitelt. Das zeitgeschichtliche Szenario, an das Schlink anknüpft, war bemerkenswert: Erst im Jahr 2000 setzte die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer das Thema des NS-Rechts auf ihre Tagesordnung (F.A.Z. vom 19. November 2001). Die Beteiligten versicherten einander, es habe Mut erfordert, sich dem Thema zu stellen, und auch die Referenten hätten bei ihren Vorträgen Mut bewiesen. Schlink legt die irritierende Formel vom "Mut" aus, den es erfordert habe, das Thema so "offen und befreiend" behandelt zu haben. Die beteiligten Staatsrechtslehrer führten jene wissenschaftliche Gratwanderung fort, die sie seit 1945 pflegten: Demonstrativer Bruch mit den Inhalten bei personeller Kontinuität. Einer Anstrengung des Takts bedurfte es, um nicht jene Personen zu brüskieren, in denen Brüche und Kontinuitäten pikant zusammenfielen und -fallen. Schlink analysiert die Motive und die Raffinesse, mit der dies versucht wurde; man kann vermuten, daß ihm dieses intime Verständnis von seinen Kritikern erneut als eine Verkitschung ausgelegt würde (wenn sie denn den Staatsrechtler Schlink läsen). Obwohl in seiner Analyse doch viel mehr kritische Distanz und Differenzierungsvermögen steckt als in deren moralischen Schwarzweißpanoramen.

MILOS VEC

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.09.2002

Einen gebildeten älteren Herrn greift man nicht persönlich an
Aber ganz ohne Taktlosigkeiten läuft die Chose nicht: Bernhard Schlink bearbeitet Vergangenheitsschuld
Das Recht hat ein eher kompliziertes Verhältnis zur Zeit. Es vermag nur die Vergangenheit zu erfassen, die es zuvor als abstrakten Sachverhalt normiert hat. Für das Strafrecht ist diese Voraussetzung rechtlicher Geltung ausdrücklich in der Verfassung benannt, als Verbot rückwirkenden Strafens. Was aber geschieht mit Taten, die aus dieser zeitlichen Umklammerung des Rechts herausfallen und die dennoch vom geltenden Recht erfaßt werden sollen, weil sie als großes Unrecht empfunden werden, wie die Taten von der Wehrmacht und der SS oder das Verhalten der Mauerschützen und ihrer Befehlsgeber an der deutsch-deutschen Grenze? Bernhard Schlink hat in Aufsätzen aus den letzten fünfzehn Jahren verschiedene Konstellationen untersucht, in denen die Gegenwart des Rechts mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus und der DDR aneinanderstoßen. In allen Fällen übt er Kritik an der bestehenden Rechtspraxis: an der trägen Verfolgung von NS- Verbrechen, die auf einen engen und unreflektierten Schuldbegriff zurückzuführen sei, ebenso wie an der allzu ordnungsgemäßen Vergangenheitsbewältigung der eigenen Zunft der Staatsrechtswissenschaftler und an den Urteilsbegründungen der Mauerschützenprozesse, die den allgemeinen, auch international anerkannten Grundsatz des Rückwirkungsverbots weginterpretieren und schließlich an der von bundesdeutschen Behörden praktizierten Regelanfrage zu früherer Stasi-Tätigkeit, die von einem um seine Außenwirkung besorgten öffentlichen Dienst ersonnen wurde, statt beim konkreten Verdacht im Einzelfall anzusetzen.
Schlink orientiert seine Kritik an einem Recht, das im Grundsatz klug mit der Vergangenheit umgeht. Rückwirkungsverbote, Sperrfristen und Verjährungsbestimmungen schaffen eine vom Recht unantastbare Vergangenheit und damit Rechtssicherheit. Umgekehrt hat das Recht die Möglichkeit, vergangenes Geschehen präsent zu halten. Nur darf es diese Macht, Erinnern und Vergessen zu steuern, wie Schlink das nennt, eben nicht zu anderen als rechtsstaatlich gedeckten Zwecken gebrauchen.
Das Nachdenken über den Umgang des Rechts mit der Zeit, das die Aufsätze des Bandes eint, verläuft selbst in zeitlichen Koordinaten. Zur Beurteilung der Gegenwart versetzt Schlink sich in eine Zukunft, die er statistisch ermittelt: Im Jahr 2025 werden alle Deutschen gestorben sein, die „im juristischen Sinn Schuld an dem tragen , was vor dem 9. Mai 1945 geschehen ist”. Mit dieser Berechnung unterstellt sein Denken sich Fristen. Es bedenkt in zweifacher Hinsicht das Problem des Endens: als Zuendegehen durch Zeitablauf und als Nichtzuendegehenkönnen der Vergangenheit, als biologischer Tod und als Schuld, die nicht stirbt. Während das Recht für die Erfassung der persönlichen Schuld zuständig ist, delegiert Schlink die Aufarbeitung eines Schuldgefühls nachfolgender Generationen an Psychotherapeuten, ohne das Recht deswegen für unzuständig zu erklären. Vergangenheitsschuld nennt der Autor das Thema, das er auch dem Recht zur Bearbeitung aufgibt. Wie wirkt die Vergangenheit, gemeint ist eine jeweils von einem Recht- und Regimewechsel definierte Epoche, in der Gegenwart als Schuld weiter?
Das Recht ist in seinen Möglichkeiten zur Reflektion über vergangene Schuld allerdings begrenzt. Es kann allein in der Sprache der Juristen darüber nachdenken. Diese Einseitigkeit wird in den Aufsätzen nicht weiter problematisiert. Doch könnte der Genrewechsel zum Roman, den Schlink zum selben Thema verfaßt hat, als Anzeichen für ein Ungenügen an den sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten gelten, übernähme „Der Vorleser” nicht ebenfalls einen eher juridischen Duktus. Unter dem Aspekt der Sprache verhält der Roman sich zur Aufsatzsammlung wie eine juristische Falldarstellung zum Gesetz. Er schreibt das Thema der Aufsätze im selben präzisen, bis zur Formalisierung knappen Stil fort. Diese in ihrer konsequenten Durcharbeitung beeindruckende Einheit von Schlinks Arbeiten zur Vergangenheitsschuld ließe sich übrigens als Argument anführen gegen den jüngst an den Roman gerichteten Vorwurf, er trage zur Entschuldung der Täter bei. Schließlich zeigen die Aufsätze, wie hellhörig ihr Verfasser auf jede noch so verdeckte Entschuldungsrede und -geste seiner Gegenwart reagiert und wie wenig er bereit ist, sie durchgehen zu lassen.
Grenzen der Höflichkeit
An einer Stelle ändert sich einmal der abstrakt rechtswissenschaftliche Ton der Aufsätze. Schlink berichtet von einer eigenen, höchst persönlichen Begegnung mit der Schuld, in einem Seminar in den siebziger Jahren. Ernst Rudolf Huber, der Jurist, der nach 1933 weiter publizierte, war dort zu Gast, und ein Student konfrontierte ihn mit seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus. Er löste damit unter den Anwesenden Peinlichkeit aus. Einen alten, gebildeten Herrn, einen Gast greift man nicht ad personam an. Das gebietet schon die Höflichkeit. Die wenigen eindringlichen Sätze, in denen Schlink das „Wirken dieser Taktgrenze” beschreibt, genügen, um den Mechanismus von Schuldtabuisierung zu begreifen: Jeder persönliche Schuldvorwurf begeht eine Taktlosigkeit.
Doch entlastet dieses Dilemma niemanden davon, die Vergangenheit als Schuldfrage zu thematisieren. Das ist Schlinks ganze Überzeugung. Sie wird besonders deutlich in dem Aufsatz, der die Vergangenheitsschuld auf die Rechtswissenschaft selbst bezieht. Es ist die subtile Beschreibung der Zeremonielle der Staatsrechtslehrervereinigung. Diese Einrichtung, die es bestens versteht, ein Begehren nach Aufnahme in diese Institution zu erzeugen, hatte erstmals vor zwei Jahren das Thema Vergangenheit der Staatsrechtslehre im Nationalsozialismus auf die Agenda ihrer Jahrestagung gesetzt. Was andere wissenschaftliche Disziplinen hinter sich haben oder dort noch schwelt, fand hier in gemessenem historischen Abstand einen geradezu würdigen Rahmen und Abschluß.
Allein, auch hier wirkte die Taktgrenze noch und man drang in der Aussprache nicht zu den wirklich unbequemen Fragen vor. Welche das sein könnten, skizziert Schlink anhand von Einzelstimmen, wie die Martin Bullingers, der anfragte, ob das damalige Denken nicht unwissentlich noch fortgesetzt werde. Eine Analyse dieser Kontinuität juristischer Denk- und damit auch Sprachstrukturen hat die Rechtswissenschaft tatsächlich noch vor sich. Schlink möchte ihr vor allem Trauerarbeit verordnen und verbindet damit die schöne Hoffnung, daß dies vielfältige, spielerischere Umgangsformen mit juristischen Theorien ebenso wie mit Gerichtsentscheidungen und unter Kollegen freisetzen werde.
CORNELIA VISMANN
BERNHARD SCHLINK: Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002. 156 Seiten, 8,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Cornelia Vismann wirkt recht beeindruckt von den Aufsätzen über den Umgang des herrschenden Rechtssystems mit vergangener Schuld. In seinen Texten aus den letzten 15 Jahren macht sich Schlink Gedanken über Schuld und Zeit, über Verjährung und Vergangenheitsbewältigung, fasst die Rezensentin zusammen. Besonders interessant findet sie die "beeindruckende Einheit", die es zwischen Schlinks Roman "Der Vorleser" und diesen Texten des Autors gibt. Die Rezensentin meint, der Roman verhalte sich zur Aufsatzsammlung wie eine "juristische Falldarstellung zum Gesetz", wobei sie in beidem den "bis zur Formalisierung knappen Stil" hervorhebt. Ihr gefällt die besondere Sensibilität des Autors für jede "noch so verdeckte Entschuldungsrede und -geste", der er konsequent entgegentrete. Hervorhebenswert erscheint Vismann auch die Darstellung der Versuche der Staatsrechtslehrervereinigung, ihre eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. In der "subtilen Beschreibung" Schlinks wird für die Rezensentin überdeutlich, dass zumindest eine Analyse der Denk- und Sprachstrukturen des Rechtssystems noch aussteht.

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