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Produktdetails
  • edition suhrkamp 2128
  • Verlag: Suhrkamp
  • Originaltitel: Mintha mar tul sokaig allna
  • 1999.
  • Seitenzahl: 171
  • Deutsch
  • Abmessung: 10mm x 108mm x 176mm
  • Gewicht: 116g
  • ISBN-13: 9783518121283
  • ISBN-10: 3518121286
  • Artikelnr.: 07901282
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2000

Guten Tag, ich bin es, der Tod
Unaufdringlich welthaltig: Erzählungen von Endre Kukorelly

Das Lob, das dem ungarischen Lyriker und Prosaisten Endre Kukorelly reichlich gespendet wird, ist zumeist auf Verbotstafeln geschrieben. Ob es ungarische Kollegen oder deutschsprachige Kritiker sind, die das Werk des 1951 geborenen Autors rühmen, fast immer klingt es, als möchten sie zugleich vor der Lektüre warnen. Daß Kukorelly die hohe Kunst beherrsche, über gar nichts zu schreiben, und man am Ende beglückt nicht recht wisse, was man gerade gelesen habe, so und ähnlich tönt es aus fast allen Rezensionen. Überhaupt schleiche sich gewissermaßen nur gegen den Willen des Autors eine Aussage in seine Texte ein, die in einem poetischen Schwebezustand verharren. Den herzustellen gilt nachgerade als Kukorellys eigentliche Begabung. Gegenüber solchem Feinsinn, der an einer Erzählung etwa rühmt, daß sie in lauter einzelne Sätze zerfalle, von denen keiner weiter tragen möchte als bis zum nächsten Punkt, sei hier auf der plumpen Einsicht beharrt, daß Kukorelly nicht nur schreibt, sondern auch über etwas schreibt, und daß die Erzählungen aus zehn Jahren, die er in dem deutschen Auswahlband "Die Rede und die Regel" zusammengefaßt hat, auch von etwas anderem als der Syntax handeln.

Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, die alle ein Personalpronomen im Titel führen und jeweils sechs Texte unter den Überschriften "Es", "Sie", "Er" und "Ich" versammeln. Das "Es", das über den ersten Teil des Buches gebietet, lautet beispielsweise: "Es lebe der 1. Mai", und das kann nur eine Erinnerung des Autors an seine Jugend sein, als in Budapest amtlich noch der Tag der Arbeit und nicht der Tag der Börse gefeiert wurde. "Aber ich fange ja an zu vergessen, was gewesen ist, was mich umgab, ich muß es aufschreiben, damit es mir einfällt", fährt der Erzähler fort, und es macht die Schwierigkeit und den Witz seiner Texte aus, daß im Aufschreiben weder die Dinge kausal auf einen Anlaß zurück noch die Erinnerungen linear auf ein Ergebnis hin geordnet werden. Große Worte und kleine Gesten, politische Phrasen und persönliche Epiphanien, gestochen scharfe Bilder und sich verflüchtigende Geräusche, das alles folgt hier übergangslos aufeinander. Aber so rasant das tatsächlich von Satz zu Satz auf eine andere Ebene springt, ist doch unschwer zu erkennen, daß es um eine Welt von gestern geht, die der Erzähler als das versunkene Reich seiner Kindheit heraufbeschwört: im Reichtum merkwürdiger Details, die ihm im Gedächtnis blieben, im Gefühl existentieller Leere, das beklemmend wieder auflebt, im Stimmengewirr eines fernen Tages.

In der Erzählung "Geld" sind es längst aus dem Umlauf gezogene Münzen, ungarische Forintstücke, polnische Zwanzig-Zloty-Scheine, eine "ernste DDR-Mark mit Walter Ulbricht drauf", die die Assoziationen in Gang setzen, so daß Kukorelly von den heißen Sommernachmittagen im vorstädtischen Schwimmbad und von der Bedeutung des Geldes in seiner Familie erzählen kann, in der es zwar viel "Familienporzellan", aber wenig Forint gab.

Das "Sie", das den zweiten Abschnitt dominiert, ist hingegen beispielsweise eine Frau, deren starker physischer Präsenz sich ein Mann nur erwehren kann, indem er fortwährend aufschreibt, was sie tut und unterläßt: "Sie kommt und geht, und immer macht sie die Tür ein bißchen lauter als nötig hinter sich zu, das ist, glaube ich, eine Art Tanz." Überhaupt spielt das fortwährende Verschriftlichen dessen, was gerade vorfällt, in den meisten Erzählungen eine Schlüsselrolle; es scheint, das Schreiben ist nicht nur die einzige Möglichkeit, dem Vergessen und Vergehen zu trotzen, sondern auch die beste Art, das Leben zu ertragen.

Gewiß, schwer ist es zu ertragen, doch steht zuverlässig an seinem Ende immerhin der Tod. Von ihm ist denn in jenem Abschnitt die Rede, dem das "Er" präsidiert; und der Tod kann etwa ein "Briefträger" sein, der das Treppenhaus vernehmlich herauftappt, "stehenbleibt, den Kopf vorneigt, die Namensschilder liest, dann klingelt" und "guten Tag sagt, ich bin es, der Tod". Im Schlußteil tritt schließlich das "Ich" in sein Recht, und die Prosa, die so weltlos anmuten möchte, Satz und sonst nichts zu sein behauptet, als wäre die Sprache einzig mit sich selbst beschäftigt, wird gänzlich autobiographisch. "Ich habe die Ferien genutzt, aber wofür", heißt es in der schönen Erzählung "FeenTal". Sie beschwört die frühen sechziger Jahre, die Ära der Wochenendhäuschen, des prekären Glücks im Winkel und der großen Aufgaben, die erst noch auf einen zukommen.

Vieles tupft Kukorelly nur an, er ruft es einmal auf, dann wendet er sich ab, einem anderen Gegenstand zu, einem anderen Gespräch, das er belauscht hat, einem anderen Gefühl, das in ihm niedergebrannt ist. Das gemahnt mitunter an das Wortrauschen bei Nathalie Sarraute, in deren Prosa ein unablässiges Gemurmel dahinzieht und aus der Tiefe des Vorbewußten Blasen nach oben steigen, durch die Oberfläche des Geredes stoßen. Und ist das von Kukorelly auch stets so fein gearbeitet, daß einem im raschen Lesen das Beste zu entgehen droht, so ist es doch längst nicht so verstiegen, daß es ins Grab der Literatenliteratur gelobt zu werden braucht.

KARL-MARKUS GAUSS

Endre Kukorelly: "Die Rede und die Regel". Erzählungen. Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans Sirecki. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 173 S., br., 16,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Karl-Markus Gauss distanziert sich in seiner Rezension von Kritikerkollegen, die an Kukorelly gern die hohe Kunst lobten, "über nichts zu schreiben". Mit "solchem Feinsinn" will Gauss nichts zu tun haben. Er besteht darauf, dass Kukorelly sehr wohl "über etwas" schreibt. Über seine Erinnerungen etwa an die Kindheit, Frauen oder einen Briefträger, der klingelt und `Guten Tag sagt, ich bin es, der Tod`. Auch wenn Kukorellys Erinnerungen assoziativ sind, übergangslos "von Satz zu Satz auf eine andere Ebene" springen, in einem "Wortrauschen" versteckt sind - wogegen Gauss gar nichts hat - so ist seine Prosa nach Meinung des Rezensenten viel mehr als nur ein Spielchen mit der Syntax für Germanisten. Ganz unnötig also, "sie ins Grab der Literatenliteratur" zu loben, mahnt Gauss am Ende die Kollegen.

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