Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 66,00 €
  • Broschiertes Buch

Zu allen Zeiten war die Bevölkerung Objekt politischer Interventionen. Ein zentrales Instrument bei der Regulierung staatlicher Bevölkerungspolitik bildete das Ehe- und Familienrecht. Die vorliegende Untersuchung analysiert Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungstheorie, Bevölkerungspolitik, Familien- und Ehetheorie sowie staatlicher Ehepolitik im Zeitraum von ca. 1760 bis 1870 in Deutschland.

Produktbeschreibung
Zu allen Zeiten war die Bevölkerung Objekt politischer Interventionen. Ein zentrales Instrument bei der Regulierung staatlicher Bevölkerungspolitik bildete das Ehe- und Familienrecht. Die vorliegende Untersuchung analysiert Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungstheorie, Bevölkerungspolitik, Familien- und Ehetheorie sowie staatlicher Ehepolitik im Zeitraum von ca. 1760 bis 1870 in Deutschland.
Autorenporträt
Martin Fuhrmann, Dr. iur., geb. 1969, promovierte sich aufgrund vorliegender Arbeit 2000 an der Universität Bayreuth. Er ist z.Z. Rechtsreferendar im OLG-Bezirk Bamberg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.12.2002

Vermehret euch!
Martin Fuhrmann untersucht
die deutsche Bevölkerungspolitik
„Die Bevölkerungspolitik ist offenbar die schwächste Seite des liberalen Systems, und wenn die Mehrzahl der Ökonomen jeder gründlichen Erörterung derselben ausweicht, so scheint dies davon herzurühren, daß sie die Umgehung schwieriger Probleme bequemer findet, als deren Lösung.” Die Kritik, die der „Kathedersozialist” Karl Georg Winkblech Anfang der 1850er Jahre an der Nationalökonomie seiner Zeit äußerte, hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Auch heute interessieren sich zu wenige Wirtschaftsexperten für die drängenden demographischen Probleme. In der Vergangenheit war die Bevölkerungspolitik dagegen ein Thema, das sowohl in der Rechts- als auch in der Staatswissenschaft intensiv und kontrovers diskutiert wurde, wie die recht lesenswerte rechtshistorische Dissertation von Martin Fuhrmann belegt.
Im Mittelpunkt stehen der Zusammenhang und die Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungstheorie, Bevölkerungspolitik, Familien- und Ehetheorie sowie deren Umsetzungsversuche in die Praxis in Deutschland im Zeitraum zwischen 1780 und 1870. Der methodische Ansatz orientiert sich an der neueren Ideengeschichte amerikanischer Prägung, die sich nicht nur auf die Analyse von Klassikern der Staatstheorie beschränkt, sondern auch weniger bekannte Texte, also die „mittlere” Ebene der Quellenüberlieferung, heranzieht. Auf eine quantifizierende Interpretation des beachtlichen Quellenfundus hat der Verfasser jedoch verzichtet.
Die absolutistische Bevölkerungspolitik, die sich auf die Lehren des Merkantilismus stützte, sah bekanntlich in der Größe einer Bevölkerung ein Synonym für Macht und Reichtum. Auch im Deutschland des 18. Jahrhunderts fanden solche Überlegungen zahlreiche Anhänger unter den Kameralisten, deren vorrangigstes Ziel es war, das Einkommen der Staatskasse, der „camera”, zu erhalten und zu mehren.
Die Bevölkerungspolitik jener Zeit ist nach Fuhrmann durch folgende Merkmale gekennzeichnet: zum einen die lückenlose Erfassung der Bevölkerung durch Volkszählungen und Sterbe- und Geburtenstatistiken. Zum anderen ein alle Lebensbereiche umfassender Staatsinterventionismus. Des weiteren eine absolute Fixierung auf das Gemeinwohl (Eudämonie); und schließlich erste zaghafte Versuche, nicht nur das Bevölkerungswachstum zu forcieren, sondern auch in qualitativer Hinsicht zu steuern, also darauf hinzuzielen, dass nur die als produktiv angesehenen Bevölkerungsgruppen sich vermehrten.
Ein Mittel, um diese Ziele zu erreichen und in die Praxis umzusetzen, war das Familienrecht. Die damaligen Staatswissenschaftler entwickelten ein beachtliches Arsenal von Gesetzesvorschlägen, um die „Ehelust” zu steigern. So glaubte man beispielsweise, durch Prämien und Steuererleichterungen das Fortpflanzungsverhalten steuern zu können. Bereits 1784 forderte Georg Wilhelm Lamprecht, dass „ein Vater von vier Kindern von allen Abgaben befreiet sein sollte” und „wer über acht und mehr hätte, sollte noch überdem vom Staat einen Beytrag zur Erziehung auf ein jedes” bekommen. Angesichts des dramatischen Bevölkerungsrückgangs feiern heute solche interventionistischen Ideen in der deutschen Politik wieder fröhlich Urständ.
Bleidraht durchs Glied
Auf Kritik stieß diese aktive Bevölkerungspolitik, die vor Zwangsmaßnahmen nicht Halt machte, bei liberalen Denkern wie Adam Smith. Auch in Deutschland lehnten die meisten liberalen Staatstheoretiker das Programm zur Förderung von Eheschließungen und Geburten aus prinzipiellen Gründen ab. Doch blieb der Einfluss dieser Autoren auf die praktische Politik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts relativ gering.
Dass die interventionistische Ehe- und Bevölkerungspolitik in Deutschland weiterhin bestimmend blieb, hängt mit der demographischen und sozioökonomischen Entwicklung zusammen. In Hinblick auf die stark anwachsende Unterschicht mit Beginn der industriellen Revolution findet im staatswissenschaftlichen Schrifttum jener Zeit eine Diskussion unter umgekehrten Vorzeichen statt: Die Notwendigkeit staatlicher Interventionen im Bevölkerungssektor wird nun mit Hinweis auf das von Thomas Robert Malthus aufgestellte Gesetz und das von ihm beschworene Problem der Überbevölkerung gerechtfertigt. Einen Ausweg erblickten viele Staatswissenschaftler, so Fuhrmann, „in der Relativierung, Beschränkung bzw. gänzlichen Rücknahme liberaler Prinzipien, letztlich also in der Wiederbelebung überwunden geglaubter bevölkerungspolitischer Instrumentarien”.
Unter den zahlreichen Vorschlägen, die damals diskutiert wurden, ist der des preußischen Medizinalrats Carl August Weinhold aus den 1820er Jahren sicherlich der kurioseste: Er schlug vor, bei allen unvermögenden männlichen Jugendlichen vom 14. Lebensjahr an bis zur Verheiratung eine „Infibulation” vorzunehmen, indem ein Bleidraht durch die Vorhaut getrieben und die Öffnung des männlichen Glieds verlötet wurde. Die Kontrolle über dieses ungewöhnliche „Präventivmittel” sollte in den Händen einer „gerichtlich-ärztlichen Behörde” liegen.
ROBERT JÜTTE
MARTIN FUHRMANN: Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts. Schöningh Verlag, Paderborn 2002. 458 Seiten, 50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Was darf oder muss der Staat tun, um dem Fortpflanzungsverhalten seiner Untertanen auf die Sprünge zu helfen? Diese "hässliche" Frage beschäftigt das alternde Deutschland heute ebenso wie vor zweihundert Jahren, und Elisabeth Thadden nutzt Manfred Fuhrmanns Doktorarbeit zum Thema, um sich einige grundsätzliche Gedanken zu machen. Klug, anregend und reichhaltig findet die Rezensentin die Arbeit, außerdem gerade zur rechten Zeit erschienen. Fuhrmann untersuche, wie sich in den Jahren 1760 bis 1870 die bevölkerungspolitische Debatte auf Ehepolitik, auf die Schaffung und Beseitigung von Ehehindernissen ausgewirkt hat. Und siehe da, es stellt sich heraus, das bereits in der Spätaufklärung sozialer Aufstieg und die Sicherung des Status die mächtigste Triebfeder der Empfängnisverhütung waren. Fuhrmann, lobt die Rezensentin schließlich, gibt der hässlichen Frage nach staatlicher Bevölkerungspolitik "ihre aufgeklärte Geschichte und ihre Reiz zurück, ohne die Abgründe zu verschleiern".

© Perlentaucher Medien GmbH