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Kann mich mal jemand hier rauslassen?
Nach einem Selbstmordversuch mit Steakmesser findet sich Jim Knipfel in der Psychiatrie wieder. Plötzlich hat seine Welt Türen ohne Klinken; die Ärzte scheinen ihn vergessen zu haben. Aber eigentlich gefällt es Jim bei den Irren gar nicht so übel - bis er erkennt, dass sie ihn für den Verrücktesten von allen halten...
"Jim Knipfel ist ein geborener Geschichtenerzähler" (Thomas Pynchon)

Produktbeschreibung
Kann mich mal jemand hier rauslassen?

Nach einem Selbstmordversuch mit Steakmesser findet sich Jim Knipfel in der Psychiatrie wieder. Plötzlich hat seine Welt Türen ohne Klinken; die Ärzte scheinen ihn vergessen zu haben. Aber eigentlich gefällt es Jim bei den Irren gar nicht so übel - bis er erkennt, dass sie ihn für den Verrücktesten von allen halten...

"Jim Knipfel ist ein geborener Geschichtenerzähler" (Thomas Pynchon)
Autorenporträt
Jim Knipfel wurde 1965 in Green Bay, Wisconsin, geboren. Er studierte an der University of Minnesota und hielt sich nach dem Studienabbruch mit verschiedenen Jobs über Wasser. Heute lebt er in Brooklyn und schreibt für die New York Press. Er leidet an einer unheilbaren Augenkrankheit (Retinitis pigmentosa), die ihn langsam erblinden lässt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2006

Wir nennen es Wahnsinn

Dieses Buch erzählt von der Störanfälligkeit unserer Gegenwart. Es setzt ihre größtmögliche Störung grell in Szene: den Verlust der Erfahrung, daß etwas nicht stimmt. "Klapsmühle" heißt Jim Knipfels Protokoll aus der geschlossenen Anstalt.

Das Ende vom Lied der Normalität: Hier, von Jim Knipfel, wird es gesungen. Sein Psychiatriebericht (Knipfel war Ende der Achtziger nach einem Suizidversuch ein halbes Jahr in der Geschlossenen) sticht heraus aus der Fülle der Bekenntnisliteratur zum Thema. Knipfels Wahnsinnsprotokoll registriert genauer und ist besser erzählt, intelligenter, aufreibender, witziger. Auf die eine oder andere Art wird sich jeder Leser darin wiederfinden. Man begreift sich besser, wenn man "Klapsmühle" gelesen hat, gerade wenn man der Überzeugung ist, daß man noch alle Tassen im Schrank hat.

Im wesentlichen ist das Bild, das Knipfel von der Psychiatrie in Minneapolis zeichnet, ein höchst undramatisches Bild des Von-Tag-zu-Tag-Lebens, ein Bildschirmbild im Wortsinn: "Ich öffnete schwungvoll die Türe zum Fernsehzimmer und betrachtete die Szene. Sechs oder sieben Leute saßen in der Dunkelheit. Stumme, schwitzende, ausdruckslose Gesichter leuchteten im graublauen Flackern des Bildschirmes." Nur gelegentlich fand man sich festgeschnallt im sogenannten Auszeit-Raum wieder. Die Welt, die sich nach dem Summton an der Pforte auftut, ist eine Welt der überschaubaren Gewohnheiten, in der man vor jeder Überraschung sicher ist. Selbst vor der Überraschung, daß das Essen nach etwas schmecken, nach etwas riechen könnte. "Ich liebte Krankenhausessen. Alles hatte eine Konsistenz und einen Geschmack, die beruhigend auf mich wirkten. Alles war kissenweich. Da gab es keine harten Kanten, Knochen oder Gräten, die einem ins Zahnfleisch schnitten. Jeder Bestandteil, sogar das Fleisch und das Gemüse, schienen in einer Zauberküche zusammengestellt worden zu sein, und zwar von einem gutherzigen Koch, der eine ganze Reihe unterschiedlicher Konserven verwendetet, um alles - Karotten und Hühnchen und Kartoffeln - aus derselben köstlichen Substanz zuzubereiten." Die eine Substanz für die eine Welt - es gibt nur zwei Orte, an denen diese Sehnsucht nach dem All-Einen eine Aussicht hat, erfüllt zu werden: die Klapsmühle und der Himmel.

Wenn man irgendwo entspannen kann, dann hier, in diesem Paradies der Reduktion, in dem man wie von selbst auf weniges zurückgenommen wird. Und in dem man auch auf dieses wenige noch zu warten lernt: "Jeden Tag verbrachte ich - wie alle auf der Station - eine Menge Zeit mit Warten. Auf Medikamente warten. Auf eine Zigarette warten. Auf das Frühstück warten oder das Mittagessen oder das Abendessen. Auf den Arzttermin warten. Auf das Schlafengehen warten. Auf das Ende des Geschreis warten." Draußen, als Insasse "der zeitgenössischen Moderne" (Knipfel), fällt es einem gar nicht so auf: daß dort auch nur gewartet wird.

Das Buch erzählt von der Störanfälligkeit unserer Gegenwart und setzt ihre größtmögliche Störung grell in Szene: den Verlust der Erfahrung, daß etwas nicht stimmt. In demselben Maße, wie diese Erfahrung verlorengeht, wird die offene Gesellschaft zur geschlossenen Anstalt. Knipfels Grundfrage ist: Wie sollen wir richtig leben, wenn es immer schwieriger wird, uns ein Gefühl für das falsche Leben zu bewahren? Nichts stimmt mehr und doch stimmt alles, wenn es im Winter mal eben so warm wird wie im Frühjahr. Wenn die großen kantigen Erzählungen von den kissenweichen Kommentaren der Blogger verschluckt werden. Nihilismus hat aufgehört, ein Krisensymptom zu sein, weil keiner mehr an den Nihilismus "glauben" muß, an diesen großen Aufenthaltsraum der eingeschlafenen Bedürfnisse, in dem man sich rauchend und fernsehschauend ohnehin schon die ganze Zeit bewegt.

"Ich für meinen Teil muß sagen, daß ich meine Zeit in der geschlossenen Abteilung von Minneapolis sehr genossen habe", erklärt Knipfel im Blick auf Bett und Essen, den zwei Variablen, auf die sich unterm Neonlicht hinter tausend Stäben am Ende das Augenmerk richtet. "Zwar habe ich nicht jede Minute und jeden Tag, den ich dort verbracht habe, Freudentänze aufgeführt. Das wäre auch verrückt, und ich säße heute wahrscheinlich immer noch dort, wenn es sich so abgespielt hätte. Außerdem gab es dort auch Horror und Gewalt - wenn auch auf ganz andere Art als das, was man, so wie ich, tagtäglich in New York erlebt. Und dann mußte man sich noch mit tödlicher Langeweile herumschlagen - was, für mich jedenfalls, viel schlimmer war als der Horror und die Gewalt. Aber das Essen war in Ordnung, und mein Bett war bequem."

Der Punkt, den man bei Knipfel verstehen muß, um nicht alles mißzuverstehen, ist folgender: Er will gar nicht der Psychiatrie an den Kragen (zur Psychiatriekritik ist ja alles schon gesagt), nein, er will der sogenannten normalen Welt an den Kragen. Er will uns allen an den Kragen, uns, die wir hier draußen leben, nicht in der geschlossenen Anstalt, sondern in der offenen Gesellschaft. Wir hier draußen sind nämlich im Grunde keinen Deut besser dran als die da drinnen. "Ich will hier keine Gesellschaftskritik anbringen", sagt Knipfel. "Ich will nur zeigen, daß da draußen verdammt viele von uns rumlaufen."

Damit will er die These, daß auch der Wahnsinn nur eine Variante der Normalität ist, natürlich nicht überstrapazieren. Das Ganze ist bei ihm eine Arbeitshypothese in existentialistischer Absicht. Als solche ist sie ungemein fruchtbar und brauchbar. Um es aber ganz klar und deutlich zu sagen: Knipfel war nicht aus Versehen in der Klapsmühle. Er sah Ratten, wo keine Ratten waren, und manches mehr sah und hörte er, das diejenigen, die in der Psychiatrie neben ihm saßen oder standen, naturgemäß nicht sahen und hörten.

Der Autor verschweigt davon nichts, er ist im Gegenteil bemüht, die Leser über seinen damaligen Wahn detailliert in Kenntnis zu setzen. "Fürs Protokoll: Ich habe Auszüge aus Voruntersuchungen und der Berichte aufgenommen, die bei meiner Einlieferung angefertigt wurden. Einer stammt von einem Famulanten und einer von dem Arzt in der Notaufnahme. Die Untersuchungen wurden durchgeführt, als ich gerade tobte wie ein Wilder. Die Berichte decken gewisse Widersprüche in meiner eigenen Darstellung auf, ebenso wie einiges, dessen ich mir nicht bewußt war, bis ich diese Berichte fast fünfzehn Jahre nach den dargelegten Ereignissen erhielt. Eines von den Dingen, die darin stehen und die ich nie wußte, ist, daß bei mir eine ,multiple Persönlichkeitsstörung' diagnostiziert wurde. Kein Mediziner hatte mir das je direkt gesagt."

Gleichwohl, wir alle sind Insassen, ob wir drinnen leben oder draußen. So Knipfel, nachdem er Gelegenheit hatte, seine Mitinsassen auf der Geschlossenen näher kennenzulernen - diese immerzu fernsehenden, immerzu rauchenden, immerzu schlurfenden und dann (endlich, endlich) Essen fassenden "Stammgäste eines kleinen Provinzcafes", wie Knipfel seine Mitbewohner im Hausmantel nennt. "Ich begann langsam zu glauben, daß die meisten von uns kein bißchen verrückter waren als irgendwer sonst, mit dem einzigen Unterschied, daß wir naiv genug waren, einem Mediziner mit Entscheidungskompetenzen von unseren Marotten zu erzählen. Abgesehen von ein paar klaren Ausnahmen - Paranoia-Eddie wirkte auf mich wie jemand, der gefährlich werden könnte -, ging es dem Rest von uns eigentlich bestens. Unser einziges Problem war, das wir den Fehler begangen hatten, nicht alles für uns zu behalten."

Hier haben wir eine dieser Knipfel-Stellen vor uns, die man nie wieder vergißt. Von Stund an hält man im normalen Leben nach den unentdeckten Paranoia-Eddies Ausschau (eine Art Generalverdacht macht sich breit). Auch das von Knipfel benutzte Wörtchen "bestens" hat nun seine Harmlosigkeit verloren. Kann man besser über die eigenen weit aufgerissenen Abgründe hinwegreden als mit einem dahingeschmetterten "bestens"? Wer auf die "Wie geht's?"-Frage jetzt noch "danke, bestens" sagt, steht mit einem Bein schon in der Klapsmühle.

Daß wir hier draußen einigermaßen zurechtkommen, ist - da ist Knipfel unerbittlich - nun mal kein Ausweis unserer geistigen Gesundheit. Geistige Gesundheit gibt es gar nicht, sie ist nur eine Fiktion, um geistige Krankheit bestimmen zu können. Daß wir zurechtkommen, hat mehr damit zu tun, daß wir in Umständen leben, die Schlimmeres verhüten. Die uns daran hindern durchzudrehen. Weil sie uns das minimal nötige Uterus-Gefühl geben, ohne das auch wir von heute auf morgen aus der Rolle fallen würden. So ein Uterus-Gefühl, mit dem es uns im Knipfelschen Sinne "bestens" geht, kann von einer festen Arbeitsstelle ausgehen. Oder von Kindern, die uns jeden Tag brauchen. Oder von den vielen anderen endlosen Wiederholungen, mit denen jeder Mensch jeden Tag lebt. Denn das Gute am Menschen ist, daß er sich im Grunde an jede Liturgie gewöhnt, an eigentlich so ziemlich alles, was Halt verschafft. Daß er in diesem Sinne ein durch und durch anspruchsloses Wesen ist: Irgendwann paßt jeder perfekt in die Kiste, in die er eingesperrt ist, sei es ins Büro, in die Familie oder in die Klapse. Das also ist das Rettende am Menschen: daß er ein Gewohnheitstier ist.

Beunruhigend wird's laut Knipsel erst dann, wenn jemand in überhaupt keiner Kiste steckt. Dann dreht er durch, wird ausfällig gegen sich selbst und auffällig für andere. Dann behält er die Dinge nicht länger, wie es doch empfehlenswert wäre, für sich - "denk dran, schön die Klappe halten" (Knipfel) -, sondern gibt ein himmelschreiendes Zeugnis von seinen Marotten, er fängt also an zu spinnen und zu kratzen und fürchterlich disfunktional zu ticken, bis eines schönen Tages irgendeiner mit Entscheidungskompetenzen daherkommt und Paranoia-Eddie wegsperrt. Ach, hätte er nur geschwiegen, der Eddie, er wäre ein Gesunder geblieben!

Soweit erst mal der Knipfel-Befund, der natürlich ein übertriebener, ein zugespitzter Befund ist wie alle Befunde, die etwas aussagen. Man kann diesen Befund auch so zusammenfassen: Der Gesunde ist nicht unbedingt gesünder als der Kranke. Er hat nur einfach Besseres zu tun. Er schafft es, in Bewegung zu bleiben, statt auf sich selbst zurückzufallen. "Es ist schwer, mit alten Gewohnheiten zu brechen, falls man sich die Mühe macht, mit ihnen brechen zu wollen", schreibt Knipfel. "In meinem Fall haben sich die Gewohnheiten und impulsiven Reaktionen, die mich erst in die Klinik brachten, in den folgenden Jahren stark abgeschwächt. Ich hatte Besseres zu tun. Manche würden das ,erwachsen werden' nennen. Ich nenne es lieber ,in Bewegung bleiben'."

Wahrscheinlich ist das wirklich schon alles, was man für seine geistige Gesundheit tun kann: in Bewegung bleiben. Egal, wie. Hauptsache, daß an der Bewegung eine Verantwortung dranhängt, die in den eigenen Augen von niemand anderem übernommen werden kann. Denn nur eine solche, eine nichtdelegierbare Verantwortung gibt Besseres zu tun. Deswegen gefällt es der Seele so gut, Katzen zu versorgen, Kunst zu machen und Kinder zu erziehen. Wer etwas anderes als Katzen, Kunst und Kinder propagiert - Werte zum Beispiel -, ist ein Lügner, und der ganz normale Wahnsinn ist nicht in ihm.

Jim Knipfel: "Klapsmühle". Ein halbes Jahr in der Geschlossenen. Aus dem Amerikanischen von Karolina Fell. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006. 286 S., br., 8,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dies Buch scheint dem Rezensenten Christian Geyer die beste Gelegenheit, über gesellschaftliche, ja anthropologische Grundsatzfragen nachzudenken. Auf den ersten Blick liegt hier nicht mehr vor als Jim Knipfels Bericht von seinem halben Jahr in der geschlossenen Psychiatrie in Minneapolis. Es stellt sich freilich heraus, dass sich das Leben in der Psychiatrie von dem in der nicht weggesperrten Wirklichkeit so wesentlich nicht unterscheidet. Daraus folgt nun nicht so sehr, dass die Weggeschlossenen fehl am Platz sind, sondern eher: Auch wir hier draußen sind irre genug. Oder jedenfalls wären wir es und würden es, hätten wir - so Geyer - nicht "Büro" und "Familie", Gewohnheit und "Liturgie". Kurz gesagt: Der Mensch dreht durch, wenn er sich nicht selbst einsperrt oder eben einsperren lässt von Institutionen aller Art. Der Gesunde "hat nur einfach Besseres zu tun" als der Kranke, so das anthropologisch hoch konservative Fazit. Ob es auch das Fazit des Autors ist oder nur das des Rezensenten, das lässt sich angesichts der Begeisterung des letzteren schwer beurteilen.

© Perlentaucher Medien GmbH
Jim Knipfel ist ein geborener Geschichtenerzähler Thomas Pynchon