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Eine neue Dimension der Gewalt hat Deutschland erschüttert - unbegreifliche Ereignisse, die bislang vorwiegend aus Amerika bekannt waren: Amokläufe. Deren schreckliche Häufung in der jüngsten Vergangenheit ist leider kein Zufall. Ungerichteter Haß und ungebundene Wut, die sich in scheinbar motivlosen Taten entäußern, haben benennbare Ursachen. Der Autor legt die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wurzeln dieser Gewalt frei.

Produktbeschreibung
Eine neue Dimension der Gewalt hat Deutschland erschüttert - unbegreifliche Ereignisse, die bislang vorwiegend aus Amerika bekannt waren: Amokläufe. Deren schreckliche Häufung in der jüngsten Vergangenheit ist leider kein Zufall. Ungerichteter Haß und ungebundene Wut, die sich in scheinbar motivlosen Taten entäußern, haben benennbare Ursachen. Der Autor legt die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wurzeln dieser Gewalt frei.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2000

Ein Leben ohne Ich
Wenn Jugendliche Amok laufen
GÖTZ EISENBERG: Amok – Kinder der Kälte. Über die Wurzeln von Wut und Hass, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2000. 238 Seiten, 16,90 Mark.
Starker Tobak wird in diesem finsteren und prägnanten Werk präsentiert: keine Lektüre für zarte Seelen, fürwahr. Die tiefe Ratlosigkeit der Öffentlichkeit über die Motive jugendlicher Mörder und Totschläger bildet den Hintergrund für dieses Buch – Ratlosigkeit über die Brutalität junger Menschen und darüber, dass ihre Angriffe auf wehrlose Menschen scheinbar so grundlos sind. Dabei vermutet Götz Eisenberg, dass es durchaus Gründe gibt: Die Flexibilisierung des Alltagslebens, so der Autor, verhindert den Aufbau stabiler Beziehungen. Dadurch wird bei vielen Jugendlichen ein Borderline-Syndrom hervorgerufen. Sie entwickeln eine ausgeprägte Ich-Schwäche und auffällige Persönlichkeitsstörungen: Identitätsunsicherheit, stark erhöhte Verletzlichkeit, einen passiven und zugleich aggressiven Charakter und die Neigung zu „unkontrollierbaren Impulsdurchbrüchen”.
Consumo, ergo sum
Der Verfasser des Textes ist Gefängnispsychologe im Erwachsenenvollzug. In seinen Augen bringt eine solche Kindheit die Auslöschung des Ichs mit sich – mit bedrückenden Konsequenzen: Durch den Mangel an Schutz und Mitgefühl, die Erosion der Familie und die Verrohung an den Schulen werden, so Eisenberg, Kriminalisierung und Gewaltbereitschaft geschürt. Ganz am Ende stehen dann junge Menschen, die im schlimmsten Fall wahllos auf Passanten schießen, um später Schwester, Katze und sich selbst hinzurichten (Bad Reichenhall) oder gezielt verhasste, weil erfolgreichere Mitschüler zu massakrieren (Littleton).
Eisenberg sieht die Gründe für Hass und Wut im „Amoklauf des Geldes”. Er spricht recht markig von der „Hölle” des Neoliberalismus im dritten Jahrtausend: Consumo, ergo sum. „Je uneingeschränkter kapitalistisch die Welt wird, desto weniger wird vom Kapitalismus und seinen gewalttätigen und Gewalt freisetzenden Folgen geredet. ”
Sinister seine Prophezeiung: Der Amoklauf werde die kriminelle Physiognomie des neuen Zeitalters prägen. In einer „elternlosen Gesellschaft” und mit heillos überforderten Lehrkräften würden sich die Kinder und Jugendlichen ihre Ich-Identität durch Gewalt und pure Destruktivität zurück erobern – eine Gewalt, die sich schlussendlich auch gegen sie selbst richtet.
Der Psychologe geizt nicht mit Metaphern. Der Amoklauf resultiere aus einem „Kältestrom”, der fehlenden „Erwärmung des familiären Klimas”, mangelnden Objektbeziehungen und wachsender Indifferenz. Amok stellt sich bei Eisenberg dar als Raserei, Wut und Rache, die aus Demütigung und „Gesichtsverlust aufsteigen” und in psychosozialer Entwurzelung, Kränkungen, im Partnerverlust oder in beruflicher Desintegration gründen und auch münden können. Der Hass, so die Botschaft, lasse das Blut in den Adern gefrieren.
Einen viel zitierten Spruch aus den 70er Jahren überträgt Eisenberg – leicht abgewandelt – auf die Seelenlage junger Menschen: „Ich mache kaputt, was mich kaputt macht”, heißt es gemäß seiner Analyse heute. Daher sein radikaler Pessimismus. Konzepte will er nicht anbieten. Das „System”, so der Autor, werde irgendwann „verglühen oder erfrieren”, da alles nur noch Warencharakter habe. Die „Linke” benötige einen Sozialismus, der die von Heiner Müller postulierte „Verlangsamung” wieder ermögliche. Einen Sozialismus, der den Umgang zwischen den Menschen sowie zwischen Mensch und Natur wieder friedlicher gestalte. Der an die Stelle einer rundum „wild gewordenen betriebswirtschaftlichen Ökonomie” eine Ökonomie des „Glücks” setzen müsse. In der, wie Walter Benjamin einst formulierte, „Eiswüste der Abstraktion” seien wieder kleine Stücke „Heimat” herzustellen, müsse an seltene Glücksmomente der Kindheit (Bloch) angedockt werden.
Hehre, utopische Wünsche. Aber Eisenberg will der Utopie nicht abschwören, wenngleich er nur noch wenig Hoffnung in die Fähigkeit zur Antizipation freierer Lebens- und Arbeitsverhältnisse und in Fantasien von einem geglückten Dasein setzt. Wie der Geschichte eine andere Richtung geben, wie sich aus dem Umstand, ein „Volk von Fellachen” in einer Zeit globaler Flexibilisierung zu werden, befreien? Eisenberg ist ratlos.
Die Berliner Autorin Gabriele Goettle schrieb 1988 in der Zeit, der Amokläufer kenne keinerlei Hoffnungen mehr, er sei ein erschreckendes Indiz fortgeschrittener Entfremdung. Ein Amokläufer wolle nur noch, dass die anderen „Ruhe geben und dass das ungenießbare Leben vorbei ist”. Dem scheint Eisenberg zuzustimmen. Sein Buch macht Angst.
THOMAS ECKARDT
Der Rezensent ist Sozialwissen- schaftler in München.
Bad Reichenhall vor einem Jahr: Ein 16-Jähriger schießt aus dem Wohnzimmerfenster. Zwei Passanten, der Täter und seine Schwester sterben.
Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Wenig Positives hat der Autor zum Thema gewalttätiger Kinder zu sagen, schreibt Thomas Eckardt. Vielmehr hat der Gefängnispsychologe in einem "finsteren und prägnanten Werk" seine Thesen vorgestellt, warum die Gewalttätigkeit von Kindern kein vorübergehendes, sondern eher ein zunehmend sich ausbreitendes Phänomen ist: es liegt an der "Flexibilisierung des Alltags", die es den Kindern nicht erlaubt, stabile Beziehungen aufzubauen. Eine schwache Identität bei gleichzeitiger "erhöhter Verletzlichkeit" führe zu `unkontrollierbaren Gefühlsdurchbrüchen`, zitiert Eckardt den Autor. Dem Amoklauf der Kinder aber geht der `Amoklauf des Geldes` voraus, der nach Eisenberg die zunehmend elternlose Gesellschaft verschuldet. Eisenberg, so Eckardt, äußert Vorstellungen zu Alternativen: es müsse eine "Ökonomie des Glücks" an die Stelle des "Consumo, ergo sum" gesetzt werden. Aber der Autor hat wenig Hoffnung, dass dies auch wirklich passieren wird. "Sein Buch macht Angst", urteilt Thomas Eckardt.

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