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Ein literarisches Phänomen des 20. Jahrhunderts unter der Lupe seines besten Kenners.

Produktbeschreibung
Ein literarisches Phänomen des 20. Jahrhunderts unter der Lupe seines besten Kenners.
Autorenporträt
Zimmer, Dieter E. Dieter E. Zimmer, geb. 1934, war freier Autor und Übersetzer. Von 1959-1999 war er Redakteur bei DIE ZEIT, davon 1973-1977 Leiter des Feuilletons, danach als Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Psychologie, Biologie, Medizin und Linguistik. Neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen erhielt er den Preis für Wissenschaftspublizistik der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Bei Rowohlt war er u. a. als Herausgeber und Übersetzer für die Nabokov-Gesamtausgabe verantwortlich. Dieter E. Zimmer starb 2020 in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2008

Vom Kabeljau zum Hosenlatz
Dieter E. Zimmer verfasst eine große Hommage auf Nabokovs „Lolita”
Geht es beim künstlerischen Ruhm langfristig doch mit rechten Dingen zu? Das würden wir alle gern glauben; und wenn Joyce am Anfang keinen Verlag fand und „Carmen” bei der Premiere ausgepfiffen wurde, so buchen wir das als Teil der Legende, die auf eine verkannte Kindheit die umso leuchtendere Offenbarung folgen lässt. Aber von welchen Zufällen hing es ab, dass „Lolita” berühmt wurde! „Es ist noch einmal alles gut gegangen, aber um ein Haar”, schreibt Dieter E. Zimmer im ersten Kapitel von „Wirbelsturm Lolita. Auskünfte zu einem epochalen Roman”.
Und er berichtet genau, wie fein dieses Haar war. Alles, was dieses Buch betrifft, scheint von einer außerordentlichen Komplexität verhext. Zuerst war da bloß eine obskure pornographische Reihe in englischer Sprache, die in Paris herauskam. Dennoch fiel das Buch irgendwie Graham Greene in die Hände, der es, ohne Kommentar, in der Sunday Times zu Weihnachten empfahl. Das wiederum führte dazu, dass sich der Chefredakteur des Sunday Express moralisch erregte; und dieser Vorgang fand nun seinen Weg in die literarische Klatschkolumne „In and out of books” in der New York Book Review; und dann. . .
Doch vor allem war es ein unglaubliches Glück, dass dieses zeitlose Werk genau in die Zeit hineingeriet, in jenes Jahrfünft, in dem allein es wirken konnte. Wenn es früher erschienen wäre, wäre es aufgrund seiner erotischen Freizügigkeit der Zensur zum Opfer gefallen, Autor und Verleger womöglich ins Gefängnis gekommen. Und später hätte es keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorgelockt, denn ab den Sechzigern gewöhnte man sich rasch noch an ganz andere Dinge. Nur am Ende der Fünfzigerjahre konnte es jenen Skandal hervorrufen, der bis heute (Zimmer verzeichnet es mit gemischten Gefühlen) das Rückgrat seines Ruhms bildet. „Das Schicksal von ,Lolita‘ und ihres Autors hing wirklich an einem dünnen papiernen Faden.”
Die Tiefe von Zimmers Schreck gibt das Maß seiner Liebe zu erkennen. Denn als dies vor allem, als ein Werk der Liebe, muss man sein Buch bezeichnen, das sich in literaturwissenschaftlichen Kategorien kaum fassen lässt. Es ist Editions- und Rezeptionsgeschichte, es liefert eine Sozial- und Sittengeschichte seiner Epoche, es fragt nach Einflüssen, die auf den Roman eingewirkt, und solchen, die er selber ausgeübt hat, bis hin zu den „Gothic Lolitas” in Japan; es deutet und sucht Fehldeutungen von allen Seiten (an denen es „Lolita” nie gemangelt hat) abzuwehren, es würdigt die hohe Kunst und wendet akribischen Spürsinn auf, um einen genauen Kalender und Reiseplan von den Irrfahrten Humbert Humberts und seiner Kindbraut zu erstellen. Nicht zuletzt begreift es sich selbst als ein Zeugnis: Zimmer, langjähriger Übersetzer Nabokovs, ist der Letzte, der noch die Geschichte erzählen kann, wie es zuging, als die deutsche Lolita geboren wurde; „und wenn ich sie nicht erzähle, wird es keiner mehr tun.”
So erzählt er: Wie die erste deutsche Übersetzerin, die Witwe Franz Hessels, völlig überfordert war; wie daraufhin Maria Carlsson die Aufgabe übertragen bekam und sich mit dem Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt sowie dem Schriftsteller Gregor von Rezzori vierzehn Tage lang in eine Pension bei Meran zurückzog, um die deutsche Version Satz für Satz durchzugehen – man bedenke, ein Großverleger, der sich vierzehn Tage lang exklusiv für so etwas frei nimmt! Das Ergebnis scheint dem Einsatz nicht völlig entsprochen zu haben. „Zeitig erschien die erste Flasche bester Rotwein auf dem Tisch, und als gegen Mittag die Vorschläge immer unkonzentrierter wurden, war Carlsson die einzig Nüchterne in der Runde.” Sie protokolliert getreulich allen Quatsch, in der Hoffnung, dass die Herren ihn bis zur nächsten Sitzung vergessen hätten. Als Zimmer selbst viele Jahre später die inzwischen gedruckte Fassung überarbeitet, muss er feststellen, dass sie von den unglaublichsten „Klöpsen”, wie die Branche sagt, wimmelt. Da war aus einem „tick” in der Leistengegend ein „Zucken” geworden, wiewohl es sich um eine Zecke handelte, und die Schnauze eines Autos lugte wie ein „Stück Kabeljau” aus der Garage hervor, obwohl „codpiece” den kugelförmigen Hosenlatz der elisabethanischen Zeit meint. Zimmer bessert in aller Stille, um die Freundschaft zwischen Ledig-Rowohlt und Nabokov nicht zu gefährden, und wagt es erst heute, wo niemand, den es noch berühren könnte, mehr lebt, von diesen haarsträubend lustigen Dingen zu reden. Er sorgt auch dafür, dass aus dem bisherigen „Nymphchen” eine „Nymphette” wird.
Das Herzstück des Buchs (auch in dem Sinn, dass es dem Autor erkennbar am meisten am Herzen liegt) bildet das, was Zimmer die „Moralfrage” nennt. Er bügelt sie nicht so leichthin ab, wie es sonst geschieht, wenn es hochnäsig heißt, große Literatur habe sich nicht moralisch zu rechtfertigen. Es zeugt vom Ernst Zimmers, dass er auch die inhaltliche Seite des Romans nicht verschmäht und untersucht, was es darin (und überhaupt) mit der Liebe auf sich hat.
Ein Irrtum ist es – auch ich habe ihn geteilt, bis ich Zimmers Buch las –, dass die Minderjährigkeit Lolitas sozusagen bloß ein Trick wäre, um die Liebe in einer Zeit, wo alles erlaubt scheint, noch einmal als Tabu zu gestalten, als etwas, dessen Unbedingtheit mit der herrschenden Sitte, auch und gerade im Sinn des Lesers, in Konflikt geraten muss; also der unmöglichen Liebe Recht zu geben, wie Shakespeare es für Romeo und Julia getan hat. Von Liebe, das macht Zimmer klar, kann keine Rede sein, denn die obsessive Qual des Humbert Humbert zielt nicht auf eine Person, sondern einen Zustand; erst spät, als er die inzwischen siebzehnjährige, schwangere, postnymphale Lolita noch einmal aufsucht, und auf sie Verzicht tut, erweist er sich der eigentlichen Liebe als fähig. „Es ist die Karikatur eines Liebesromans, eine amüsante Karikatur auf bitterernstem Hintergrund, ein Schlag ins Gesicht unserer modernen Sexualmoral. Diese geht von der optimistischen Annahme aus, dass Liebe und Sex letztlich vereinbar seien, da sie doch das gleiche wollen. ,Lolita‘ stellt uns dagegen einen Fall vor Augen, da Sex die Liebe vereitelt und die Liebe jeden Sex vereiteln müsste. Ein Etwas, das Liebe sein könnte und möchte, zerstört das Geliebte und sich selbst.” Der Wert des Kunstwerks „Lolita” hält sich also keineswegs getrennt von den ethischen Implikationen des Romans, sondern gewinnt an ihnen eine Tiefe, die die seichten Verteidiger seiner artistischen Meriten übersehen oder übergangen haben: Dies herauszuarbeiten, ist Zimmers großes Verdienst. Im übrigen lässt er sich von dem hysterischen Ton, der sich heute oft einstellt, sobald ein Kind angefasst wird, nicht anstecken und sagt es unmissverständlich, dass das Schurkische an Humberts Verhalten nicht primär im Geschlechtsverkehr besteht, den Humbert mit Lolita hat, sondern darin, dass er, um diesen zu ermöglichen, ihr alles rauben muss, was ein Kind braucht, besonders den Umgang mit Gleichaltrigen.
Das Buch schließt in seiner Mitte ein Geschenk ein, und das sind die Bilder. Sie haben vermutlich in ihrer Menge und ihrer hohen Wiedergabequalität das Buch teurer gemacht als die 19,90 Euro, die es kostet, und auf diese Weise ehrt und sühnt der Rowohlt-Verlag, was sein Übervater Heinrich Maria an der „Lolita” geleistet und gesündigt hat. Zimmer ist nicht nur dem ungleichen Paar quer durch Amerika nachgefahren und hat Fotos geschossen, sondern dank der neuen Möglichkeiten, die sich durchs Internet ergeben, hat er viele zeitgenössische Postkarten aufgetrieben, die mit einiger Wahrscheinlichkeit die Orte wiedergeben, wo Stiefvater und Stieftochter sich aufhielten; es sind oft dieselben Orte, an denen Nabokov in den Ferien Schmetterlinge fing. Die technischen Mängel ihrer Zeit verleihen diesen Karten geradezu paradiesischen Glanz, dass man ausrufen möchte: „Warum durfte ich nicht damals reisen!” Damals, als man den Crater Lake in Oregon noch eigens künstlich kolorieren musste, um jenes von aller gegenwärtigen Natur unerreichte Indigo zu erzielen, und die Magnolia Gardens bei Charleston in einem solchen seither verschollenen Altrosa strahlten.
„Ich gebe es ja zu: Es war auch ein Sport, und er hat Spaß gemacht.” Das ist mehr, als sich von vielen philologischen Arbeiten sagen lässt. „Die Hauptbeschäftigung der Nabokovologie besteht darin, nach seinen ,Quellen‘ zu suchen. In der Regel sind die literarischen Quellen gemeint, an denen wahrhaftig kein Mangel besteht. Aber hin und wieder lohnt es sich eben auch, im Leben nach den Quellen zu suchen.” Das wiederum ist bescheiden bis an den Rand der Heuchelei, die man ihm nur deswegen vergibt, weil man die Stärke des antreibenden Motivs dabei spürt. Es bestimmt den Rang von Zimmers Buch, welches man ungern der „Sekundärliteratur” zugezählt sähe. So bezaubert ist Zimmer vom Roman, dass der Zauber überspringt und sein eigener wird. BURKHARD MÜLLER
DIETER E. ZIMMER: Wirbelsturm Lolita. Auskünfte zu einem epochalen Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. 224 Seiten, 19,90 Euro.
Ein Glück, dass dieses zeitlose Werk genau in der Zeit erschien, in der allein es wirken konnte.
„Ich gebe es ja zu: Es war auch ein Sport, und er hat Spaß gemacht.”
In Adrian Lynes „Lolita”-Verfilmung spielte die 15-jährige Dominique Swain Nabokovs berühmte Nymphette Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ulrich M. Schmid schätzt dieses Buch über Vladimir Nabokovs berühmten Roman "Lolita" von 1955, das Dieter E. Zimmer vorgelegt hat. Er bescheinigt dem Nabokov-Experten, eine Fülle von Diskussionspunkten zu diesem skandalumwitterten Werk der Weltliteratur zu präsentieren. Dabei hebt er hervor, dass es Zimmer weniger um eine endgültige Interpretation des Romans als um eine Dokumentation der Suche nach instruktiven Indizien geht. So findet Schmid in dem Buch eine Menge verblüffender Entdeckungen zu "Lolita". Zimmer sei es zum Beispiel gelungen, einzelne Stationen der in "Lolita" beschriebenen Odyssee durch die USA zu identifizieren. Allerdings scheint Schmid der Erkenntniswert solcher Detailinformationen für die Lektüre des Romans begrenzt. Zimmers Buch wird seines Erachtens vor allem Nabokov-Cracks erfreuen.

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