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1945, bald nach Kriegsende. Eine Lokomotive donnert durch die eisige Tundra Russlands. Das Metall kreischt, Qualm verpestet die Luft. Im Führerstand steht Niel, ein düsterer Mann. Soeben hat er den Niederländer Charles aus einem Nickellager befreit. Nun sind sie auf dem Weg aus der Tiefe der Erde zurück in die zivilisierte Welt - nach Holland. Wenige Jahre später wird dort ein kleiner Junge geboren: Charles' Neffe Franklin Lowendaal. Von seiner Mutter zurückgewiesen, muss er sich einen eigenen Weg durchs Leben bahnen. Das führt ihn in die kalte, kriminelle Welt von Charles und Niel. Gemeinsam…mehr

Produktbeschreibung
1945, bald nach Kriegsende. Eine Lokomotive donnert durch die eisige Tundra Russlands. Das Metall kreischt, Qualm verpestet die Luft. Im Führerstand steht Niel, ein düsterer Mann. Soeben hat er den Niederländer Charles aus einem Nickellager befreit. Nun sind sie auf dem Weg aus der Tiefe der Erde zurück in die zivilisierte Welt - nach Holland. Wenige Jahre später wird dort ein kleiner Junge geboren: Charles' Neffe Franklin Lowendaal. Von seiner Mutter zurückgewiesen, muss er sich einen eigenen Weg durchs Leben bahnen. Das führt ihn in die kalte, kriminelle Welt von Charles und Niel. Gemeinsam mit seiner großen Liebe Michelle versucht er zu entfliehen.
Tomas Lieske erzählt die Geschichte des Außenseiters Franklin, der mit überbordender Phantasie und Daseinslust um sein Überleben kämpft. Ein in kraftvollen Bildern und Rhythmen erzählter Roman, kühn und zart zugleich, der fesselt und ergreift.
Autorenporträt
Christiane Kuby hat Kader Abdolah, Marie Kessels, Tomas Lieske, Erwin Mortier, Vincent Overeen u.a. ins Deutsche gebracht.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.01.2006

Dieser Neffe verbreitet Furcht und Schrecken
Mit der appetitzügelnden Liebe zum Detail: Tomas Lieskes Roman „Franklin” kennt nur die höchste Drehzahl
Im „pleistozänen Dämmerlicht” einer sibirischen Nickelmine, in einer Welt, wo GULag und Nibelheim sich berühren, geschieht Befremdliches. Dröhnend läuft eine führerlose Lokomotive in der Fabrikhalle ein, an Bord eine seltsame Fracht. In einer Art Binsenkorb, der auf ihren Bug geschnallt ist, befördert sie, gut verpackt und verschnürt, ein Ferkel, an das sich ein Säugling schmiegt. Was soll aus dem Findling werden in dieser Tundra-Hölle aus Kälte, Schmutz und Finsternis? Und was aus dem Schwein? Das Kind wird Niel, der Lokomotivführer, und das Schwein wird sein Freund. Unter den Menschen gibt es keinen, der Niel, dem schweigsamen Barbaren, ähnelt, der fortan die Be- und Entladung der Nickelwaggons dirigiert.
So geht die Zeit dahin, bis Charles auftaucht, ein junger Holländer, der sich einst freiwillig zur SS gemeldet hatte und an der Ostfront desertiert ist. Die Russen haben ihn aufgegriffen und in die Nickelmine deportiert, wo Charles sogleich dem wilden Mann auf der Lokomotive begegnet: „Er trug einen Ledermantel und eine Pelzmütze. Sein Gesicht war blauschwarz. Über dem Kopf schlug er mit einer Stahlschaufel den Takt einer unbegreiflichen Symphonie. In einer Rauchwolke flogen die Lokomotive und ihr irrer Fahrer vorbei.” Eines Tages kündigt der schweigsame Niel die gemeinsame Flucht an. Auf Europas Schienenwegen schlagen sie sich mit der Lokomotive durch und erreichen tatsächlich irgendwann, fremd und kalt wie zwei „Tundra-Brocken”, das gepflegte Heim der Familie Kinzenberg in Den Haag. Womit der Roman nicht etwa zu Ende ist, sondern eigentlich erst anfängt. Charles und Niel bleiben als zwielichtige Nebenfiguren dem Romangeschehen zwar erhalten, in der Hauptsache aber wird es nun um die Titelfigur, um Franklin gehen, Charles’ schwer erziehbaren Neffen.
Der wuchtige sibirische Prolog, mit dem „Franklin”, der jüngste Roman des Holländers Tomas Lieske (und der erste in deutscher Übersetzung), beginnt, deutet auf überschüssige Erzähl- und Imaginations-Reserven. Hier hat einer Stoff für mehr als einen Roman zur Verfügung, aber es macht ihm offenbar Freude, das Füllhorn seiner Einfälle mit einem Mal auszuschütten. Satz für Satz und Wort für Wort ist der Roman auf die Überwältigung seiner Leser angelegt, durch Ekel und Bizarrerien einerseits, durch eine lässige außermoralische Heiterkeit andererseits. Was will man mehr? Tatsächlich lässt „Franklin” keine Wünsche offen, wenn man willens ist, sich auf den schwach motivierten, aber stark erzählten Trip zu begeben, den Lieskes Roman offeriert. Viel suggestiver, farbiger, bilderreicher kann man nicht erzählen. Das Anämische und Blasse, das einem in der Gegenwartsliteratur sonst oft genug begegnet, ist Lieskes Problem gewiss nicht. Eher schon das Gegenteil. Wie kommt es sonst, dass man sich angesichts der Dauerdrastik, der forcierten Schauwerte seines Romans geradezu nach ein bisschen Langeweile sehnt?
Um Franklin also geht es in diesem Buch vor allem. Provokation heißt die Strategie, mit der die gleichgültige und hartherzige Bürgerwelt aus den Angeln gehoben werden kann. Der charakterlich fragwürdige Onkel und sein finsterer sibirischer Kumpan Niel geben für den Bildungsweg des jungen Franklin ein denkbar schlechtes Beispiel ab. Und als ob das noch nicht reichte, erweisen sich seine Eltern als eigensüchtige Monster, die nichts lieber tun, als dem frechen Knaben den Rücken zu kehren und ihn der Obhut von bezahlten Erziehern zu überlassen. „Papi und Mami”, wird Franklin später seiner Freundin das eigene Leben in Kurzform rekapitulieren, „haben für mich gesorgt. Bis ich sie ratlos machte. Mit meinen Schikanen, sodass sie mich. In ein Heim. Abschoben.”
Nichts als Höhepunkte
Von Schikanen und Gegen-Schikanen berichtet der Roman, von Streichen und Hieben, von einer Schule juveniler Gewalt, durch die der junge Franklin hindurch gehen muss, ohne am ungewissen Ende dafür etwa mit Reife oder Erfahrung belohnt zu werden. „Scheiße fressen”, die Redensart nimmt in seinem Leben eine erschreckend wörtliche und bedrohliche Bedeutung an. Aber das ist nur eine unter vielen appetitzügelnd ausgemalten Episoden des Romans.
Man wird nicht ganz schlau aus dem halbstarken Franklin, der für die Musik von Charles Ives und John Cage schwärmt, der mal als Küchengehilfe, mal als Tierpfleger seinen Unterhalt fristet, der keiner Schlägerei aus dem Wege geht und überhaupt überall nur Furcht und Schrecken verbreitet. Wer ist dieser Kerl, der eine tote Krähe kocht, bis er ihr das Gehirn aus dem Kopf schaben und den getrockneten Schädel auf den Kaminsims stellen kann? Was immer Franklin anstellt, es hat etwas ausgesucht Abstoßendes - und Lieske, mit seiner Gabe für das Bunte und Suggestive, erreicht in solchen Passagen die höchste Drehzahl seines auch ansonsten nicht an Langsamkeit leidenden Romans.
Was hat „Franklin” nicht alles zu bieten: Todesfälle, Verstümmelungen, Verwüstungen und Verwundungen aller Art - und all dies in einer gut gelaunten Sprache, die den dicken Auftrag nirgends scheut und sich hier und da in Kitsch verwandelt („der schimmernde Honig ihrer Schenkel”). Am Ende des Romans angekommen, hat man vor lauter Höhepunkten den sibirischen Auftakt fast schon wieder vergessen. Was war da? Hatte das Nickelminen-Vorspiel womöglich eine tiefere politische Bedeutung, die uns entgangen wäre? Oder war es nur ein Ausstattungs-Gag unter anderen? Viel fehlt Tomas Lieskes Roman ja sonst nicht, vielleicht aber dieses eine: ein bisschen guter Geschmack.
CHRISTOPH BARTMANN
TOMAS LIESKE: Franklin. Roman. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 380 Seiten, 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2004

Seelenhaustiere
Tomas Lieskes niederländischer Familienroman "Franklin"

Für ein Brehms Literatur-Tierleben Daten zu sammeln wäre gewiß ein lohnenswertes Unternehmen. Als "Behältnisse des Vergessenen" hat Walter Benjamin nicht nur in bezug auf Kafka Tiere in der Literatur apostrophiert, und auf den Pfaden von Kriech- und Streicheltieren ließe sich vielleicht viel über das kulturelle Vergessen in Erfahrung bringen. Genau diesen Spuren folgt der Niederländer Tomas Lieske, wenn er in seinem Roman am Beispiel des heranwachsenden Helden Franklin die Nachkriegszeit erkundet: Die weißen Flecken in der Überlieferung von National- und Familiengeschichte entsprechen hier den Rätseln, die Haustiere den Menschen aufgeben: Jedes Tier eine Wissenslücke, die unsere Imagination anregt.

Lieskes Roman unternimmt eine unbarmherzige Vivisektion am Körper der kleinbürgerlichen Nachkriegsfamilie. Den Kinzensbergers, Franklins Großeltern, kommt es nicht ungelegen, daß Sohn Charles, der sich nach dem Einmarsch der Deutschen freiwillig zur SS gemeldet hatte, auch nach dem Krieg verschollen bleibt. Sechs Jahre später taucht er aber zusammen mit Niel, mit dem er aus Rußland geflohen ist, wieder in Den Haag auf. Eltern und Schwester Christine versuchen diese Störung in ihrem geordneten Alltag möglichst zu ignorieren. Dies ist schon wegen des seltsamen Niel schwierig, der als Kind im Arbeitslager ausschließlich mit einem Pullover tragenden Schwein Kontakt hatte und in dessen Gestalt durch das ganze Buch hindurch die Grenzen zwischen Tier und Mensch, Traum und Wirklichkeit, Verständnis und Brutalität verschwimmen. Völlig unmöglich wird es für die Kinzensbergers, das gewohnte Leben weiterzuführen, als eines Morgens aus einem Loch in der Wohnungsdecke Ameisen fallen. Kaum sind die Kammerjäger weg, greift die Mutter selbst nach dem Putzzeug und stochert in dem Loch herum. Zu spät erinnert sich der Vater an die Anweisung, das Gift erst einwirken zu lassen, und die Mutter stirbt nach grotesker körperlicher Verwandlung selbst als überdimensioniertes Insekt.

Mit diesem Unglück kommt der Familie die Möglichkeit zur gegenseitigen Verständigung vollends abhanden. Christine zieht aus und heiratet. Von ihrem Mann vergewaltigt, wird sie mit Franklin schwanger und mißhandelt das ihr aufgezwungene Kind später schwer. Der Vater guckt weg, und Franklin muß allein Wege finden, sich zu widersetzen. Einmal fischt er das blutige Fell seines vom Vater grausam zu Tode gebrachten Streichelkaninchens aus dem Müll, stopft es im Schlafzimmer der Mutter mit deren Lippenstiften, Maskara und Spitzenslips aus und plaziert das so wiedererstandene Tier mit gegrätschten Hinterläufen auf dem Frisiertisch.

Aber auch die lebenden Tiere sind beunruhigend, erwecken sie doch stets den Eindruck, als wüßten sie alles über ihre Besitzer. Verstanden werden können sie dabei ebensowenig wie die geheimen Botschaften über das eigene Leben, die sie zu verkörpern scheinen. Eine Ausnahme ist nur die hinkende Maus, die der von seinen Eltern in ein Internat abgeschobene Franklin eines Nachts sieht. Aus dieser Begegnung zieht er den Schluß, daß auch er selbst unter keinen Umständen jemals aufgeben dürfe. Im Moment dieser Erkenntnis steckt er das bereits auf die Maus gerichtete Messer wieder ein; das Tier ist eins der wenigen, die bei Lieske mit dem Leben davonkommen.

In den grausig präzisen Szenen dieses Buchs, die die unlösbaren Verknotungen des familiären Verschweigens und der Gewalt erfassen, spielen immer wieder Haustiere die Hauptrolle. Alles andere als unbeteiligt, werden sie in ihrer rätselhaft engen Bindung an die Menschen und deren jeweilige Stimmungen zu Seelentieren. Von dieser Gattung etwa ist unzweifelhaft das weiße Angorakaninchen, das Franklin seiner ersten Freundin schenkt. Für die Beziehung der beiden Jugendlichen findet Lieske eine anrührende Sprache und läßt in dieser Liebe eine Insel der Unschuld und des Spiels in dem von düsteren Familiengeheimnissen strukturierten Roman entstehen. Es ist der Traum eines gewaltfreien paradiesischen Zustands, in dem auch die Tiere nichts zu fürchten haben. In diesem Rahmen wird es für Franklin auch möglich, an einen Gott zu denken: "Die Majestät, die Franklin sich vorstellte, würde ihn im Flüsterton bitten, während der Audienz irgendeine Arbeit zu erledigen. Etwas, was mit dem Lieblingstier Seiner Majestät zu tun hätte."

Aber in diesem Buch voller Eisenbahnnetze und Wurmstraßen gibt es auf Dauer keinen Ausweg aus der Geschichte, und ebensowenig verschwindet etwas, das einmal da war. Es verwandelt sich nur und wird unverständlich. Die Toten kehren in der Sprache wieder, wie der alte Kinzensberger, der nach dem Krieg eine schrullige Anglophilie entwickelt, bis sein zunehmend mit englischen Wörtern durchsetztes Niederländisch zu einem Kauderwelsch wird und schließlich in ein vollends unverständliches Brabbeln übergeht. Kinzensberger verschwindet in einer Klinik, und wir hören nichts mehr von ihm, bis sich das Englische wieder unmerklich in die Sprache seines Enkels Franklin einschleicht, als hätte der Großvater, den er nie gekannt hat, "von seinem Kehlkopf Besitz ergriffen".

Jeder Akt der Befreiung ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, dies gilt auch für Franklins Versuch, sich endlich seiner Familiengeschichte zu bemächtigen. Ein zugelaufener Hund hilft ihm bei diesem Unternehmen, kommt aber durch Franklins Schuld um. Das Bild seines Sterbens gräbt sich tief ins Innere dessen, was die positive Erinnerung an die Lösung der familiären Schuldzusammenhänge hätte werden sollen, und die Befreiung hat so ein neues Trauma produziert. Den Verstrickungen der Schuld ist in konventionell-linearer Weise nicht beizukommen. Dem trägt Lieske in jedem Moment seines Erzählens Rechnung, indem er es wie die unendliche Sezierbewegung anlegt, von der Franklin in einer seiner Geschichten erzählt: Darin wird ein gefangener Wal aufgeschnitten, in ihm findet sich ein Eisbär und in diesem schließlich ein Mensch, der sagt, sie sollen ihn aufschneiden. Jede Eindeutigkeit ist dabei immer eine Täuschung.

Nach dem Versuch, mit seinen Erinnerungen abzuschließen und zur Ruhe zu kommen, verwandelt sich Franklins Körper in ein Straßennetz für Fadenwürmer: "Er fühlte, wie die Würmer sich in seine Lunge bohrten, sie fraßen sich durch seine Darmwand, sie verursachten innere Lecks. Er spürte Reisende, Knotenpunkte und Parkplätze." Und wenn das Buch am Ende in einem Brief Franklins mitten im Satz einfach abbricht, weil die Schrift in einer "Art Wurm aus Kugelschreibertinte" ausläuft, dann versucht hier Lieske selbst noch das materielle Ende des Erzählens, das Aufhören der Schrift auf der letzten Seite, zu unterlaufen. In "Franklin" geht alles weiter; die Schrift verwandelt sich in einen Wurm, und zu denen hat Brehm eine beunruhigende Lektüreanweisung erstellt: "Eine neue Welt des Lebens thut sich vor uns auf, aber nur vor den Augen derjenigen, welche eifrig suchen."

ESTHER KILCHMANN

Tomas Lieske: "Franklin". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Christiane Kuby. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004. 380 S., geb., 22,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Was Christoph Bartmann an dem Roman des Niederländers Tomas Lieske vermisst, ist "ein bisschen guter Geschmack". Ansonsten hat sich der Rezensent in Anbetracht der überbordenden Erzählfreude des Autors, die auf die "Überwältigung seiner Leser" angelegt ist, nicht gelangweilt. Die "Dauerdrastik" wiederum hat den Rezensenten bisweilen ein wenig mehr Gemächlichkeit herbeisehnen lassen, da der Stoff für mehr als einen Roman gereicht habe. Episodenhaft werde aus dem Leben des schwer erziehbaren jugendlichen Helden Franklin berichtet, dessen ganze Herzensbildung, die natürlich fehlschlage, auf die Provokation einer kaltherzigen bürgerlichen Umwelt ausgerichtet sei. Hierin erweise sich der Held als nicht gerade zimperlich, er vergreife sich auch schon mal am Kadaver einer toten Krähe wie an fäkalischen Hinterlassenschaften. "Etwas ausgesucht Abstoßendes" kennzeichneten Franklins Handlungen, wie der Rezensent etwas angeekelt und ratlos vermerkt.

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