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An der Wende zum 21. Jahrhundert ist der Gedächtnisbegriff zu einem zentralen Paradigma der Kulturwissenschaften geworden. Trotz des gegenwärtigen »Booms« der Gedächtnisforschung findet jedoch das Verhältnis von Medialität und Gedächtnis immer noch vergleichsweise wenig Beachtung. Ausgehend von der These, dass kollektive Gedächtnisse prinzipiell medial konstruiert werden, versammelt der vorliegende Band Beiträge, die aus dem an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angesiedelten interdisziplinären Forschungsforum »Europäisches Gedächtnis. Alterität und nationale Geschichtsschreibung. Alte…mehr

Produktbeschreibung
An der Wende zum 21. Jahrhundert ist der Gedächtnisbegriff zu einem zentralen Paradigma der Kulturwissenschaften geworden. Trotz des gegenwärtigen »Booms« der Gedächtnisforschung findet jedoch das Verhältnis von Medialität und Gedächtnis immer noch vergleichsweise wenig Beachtung. Ausgehend von der These, dass kollektive Gedächtnisse prinzipiell medial konstruiert werden, versammelt der vorliegende Band Beiträge, die aus dem an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angesiedelten interdisziplinären Forschungsforum »Europäisches Gedächtnis. Alterität und nationale Geschichtsschreibung. Alte und neue kulturelle Speicher« hervorgegangen sind. Die Autorinnen und Autoren nähern sich aus literatur- und medienwissenschaftlicher sowie aus historischer Perspektive dem Problem der kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen.
Autorenporträt
Die Herausgeber: Vittoria Borsò, Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Gerd Krumeich, Professor für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Bernd Witte, Professor für Neuere Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2002

Das kulturelle Gedächtnis hat seine Lücken
Der Bann ist gebrochen: Es regt sich Widerstand gegen den herrschenden kulturwissenschaftlichen Erinnerungsdiskurs
Ein Gespenst geht um in deutschen Landen. Entwichen aus einer Heidelberger Gelehrtenstube, regiert es über die wildwuchernden kulturwissenschaftlichen Erinnerungsdiskurse. An allen Orten, in allen Disziplinen ist vom kulturellen Gedächtnis die Rede. Die ganze Gelehrtenrepublik verfiel den Assmanns. Die ganze Republik? Ein kleines Widerstandsnest hat sich dem Bann entzogen. In Düsseldorf formieren sich die Kräfte zum Gegenangriff. „Europäisches Gedächtnis – Alterität und nationale Geschichtsschreibung” ist auf ihre institutionellen Fahnen geschrieben. Ihr Prophet ist Walter Benjamin.
Höchste Zeit war es für die Kritik und Historisierung des Assmannschen Konzeptes. Höchste Zeit war es auch, Walter Benjamin aus den esoterischen Verliesen der Benjaminforschung zu befreien. Der Benjamin, dem wir hier begegnen, hat nichts mehr von einer scholastischen Ikone. Hier lässt man sich von ihm anregen, hier wird mit ihm gearbeitet. Der legendenumsponnene Schriftbegriff Benjamins – wieweit die „Materialität” der Schrift als heuristisches Konzept trägt – wird erprobt. Um es vorab zu sagen: Das trägt weiter als die Rede vom kulturellen Gedächtnis, weil es in Regionen vorstößt, die in der Assmannschen Kartographie nicht verzeichnet waren. Und trotzdem werden wir weiterhin beide, als einander ergänzende Theorien brauchen.
Die Programmschrift des Bandes, das Manifest der Bewegung, stammt von Vittoria Borsò. Der Drang nach Distinktion, die Lust am Jargon Luhmannscher und dekonstruktivistischer Provenienz haben allerdings zur Folge, dass das Unternehmen mitunter im Vagen und Abstrakten steckenbleibt. Was ist es denn nun, das bei den Assmanns so Vermisste? Wie Borsò schreibt, wissen wir seit Proust, dass nicht das Subjekt, der sich erinnernde Mensch, über ein sein Gedächtnis verfügt – umgekehrt verhält es sich. Das kulturelle Gedächtnis der Assmanns weiß davon nichts. Es gehorcht denjenigen, die es prägen, um die politische oder ethnische Identität eines Kollektivs zu formen. Dazu bedienen sie sich der Medien wie Geschichtsschreibung, Literatur oder Massenkultur, um das einheitsstiftende Bild der Vergangenheit zu erzeugen und zu vermitteln.
Medien haben ein Eigenleben
Natürlich liest sich das im Original komplexer, doch etwas Entscheidendes fehlt dem kulturellen Gedächtnis – ein genaues Verständnis dieser Medien. Medien werden rein funktional behandelt, als könnte man dort einen Gedächtnisinhalt lagern und nach Belieben aktualisieren. Die Medien der Erinnerung führen jedoch ein Eigenleben, vergleichbar der mémoire involontaire Marcel Prousts. Wird erst einmal Erinnerung in diesen Medien abgelegt, kann sie nie wieder so abgerufen werden, wie sie einmal war. Jede Aktivierung geschieht in einer immer anderen Gegenwart.
Mehr noch, die Medien der Erinnerung fügen sich nicht einfach einem Zwang zur Identität. Hier kommt Walter Benjamins materialistisches – oder auch kabbalistisches – Verständnis von Schrift ins Spiel, genauso wie Roland Barthes’ Begriff der écriture. Beide bedenken die technischen und medialen Bedingungen eines jeden Textes. In jeden Text sind nicht nur die herrschenden Ideologien und Diskurse eingeschrieben, sondern auch Spuren anderer Texte, die Spuren von Differenzen und Alteritäten, von Konfrontationen mit dem Fremden und von nicht verarbeitbaren Traumata. Grund dafür ist die Heterogenität alles Kulturellen.
Statt also die Unterdrückungsmechanismen des kulturellen Gedächtnisses zu reproduzieren und die Identität zu betonen, suchen die Autoren des Bandes nach Alterität. Denn erst wenn„auch der Widerspruch des ‚Anderen’ in den medialen Substraten der Schrift gelesen wird, kommt man der Produktivität von Erinnerungskulturen näher.”
Wie sieht das konkret aus? Bernd Witte zeigt es anhand Sigmund Freuds 1938 im Londoner Exil veröffentlichter Schrift „Der Mann Moses und die monotheistische Religion”. Der erschlagene ägyptische Urvater Moses steht für das Trauma der Konfrontation mit dem Anderen. Das Wüstenvolk wollte sich von dem ethischen Rigoristen befreien. Das Verdrängte kehrt aber wieder, und erst im Versuch, das Trauma zu verarbeiten, entsteht jüdische Kultur. Kultur wird hier zum „Phänomen des Übergangs”, zu einem komplexen Vorgang des Vergessens, Verdrängens und Wiederaufarbeitens fremder und eigener Elemente.
Medien von Geschichtsschreibung bis zu Kriegsfilmen werden in dem Band untersucht. In der Literatur wird besonders sichtbar, wie die Erfahrung des Anderen Spuren hinterlässt. Theodor Fontane kommt in seinem im Auftrag der Preußischen Regierung verfassten „Der Krieg gegen Frankreich 1870-1871” den Konzepten Benjamins nahe. Wie Ruth Heynen vorführt, erzeugt sein vielschichtiges Gewebe von Zitatmontagen, Kommentaren, eigenen Auftritten, Wechseln der Erzählperspektiven und Dramatisierungen viele Texte in einem. Der große Heldenroman wird gebrochen durch Fußnoten, die von der Sinnlosigkeit des Sterbens berichten, von einer getöteten Schafherde, von Angst und Wut der Soldaten. Fontanes Text enthält beides: das offizielle kulturelle Gedächtnis und die Erfahrungen des Anderen, die Trümmer der Geschichte. Der Unterschied zum Benjamin des „Passagen-Werks” besteht darin, dass Fontanes Kommentare den Leser nicht völlig aus der Hand lassen.
Hugo von Hofmannsthal wird oft gemeinsam mit Benjamin genannt. Vera Viehöver zeigt allerdings, dass sich Hofmannsthals Verständnis von Medialität und Erinnerung bei genauem Hinsehen erheblich von dem Benjamins unterscheidet. Hofmannsthal erkennt zwar, dass die Sprache, auf die er das kollektive Gedächtnis gründet, immer schon das Andere und Fremde enthält. Das europäische Gedächtnis des späten Hofmannsthal ist aber rein ästhetisch konzipiert. Anders als Benjamin will er nicht das Kontinuum der Zeit aufbrechen, um die Potentiale der Geschichte lesbar zu machen. Hofmannsthals Gedächtnis ist ein „empathisches”, kein „dialektisches”: Er sucht die Zeiten zu überspringen, um die Widersprüche der Geschichte auszublenden, um das „Ewige”zu finden. Der vorliegende Band dagegen versucht, den Verlockungen der Identität zu entgehen.
TIM B. MÜLLER
VITTORIA BORSÒ, GERD KRUMEICH, BERND WITTE (Hrsg.): Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen. J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2001. 292 Seiten, 30 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Gegen den herrschenden kulturwissenschaftlichen Erinnerungsdiskurs der Assmannschen Schule wendet sich vorliegender Band, der das Eigenleben von Medien in den Blick nimmt, berichtet Tim B. Müller. Gegenüber Assmann betont Vittoria Borsò, dass nicht das Subjekt, der sich erinnernde Mensch, über ein sein Gedächtnis verfügt, sonders dass es sich umgekehrt verhält, schreibt Müller. Wie der Rezensent weiter erläutert, gehorcht das kulturelle Gedächtnis bei Assmann denjenigen, die es prägen, "um die politische oder ethnische Identität eines Kollektivs zu formen". Medien wie Geschichtsschreibung, Literatur oder Massenkultur dienen dabei dazu, ein einheitsstiftende Bild der Vergangenheit zu erzeugen und zu vermitteln. An dieser Auffassung kritisiert Borsò nach Ansicht des Rezensenten zu Recht, dass hier ein genaues Verständnis dieser Medien fehlt. Mit Benjamin und Barthes gelte es aber nach Borsò, die Bedingungen eines jeden Textes zu bedenken, hebt der Rezensent hervor. Denn auf Grund der Heterogenität alles Kulturellen, seien in jeden Text nicht nur die herrschenden Ideologien und Diskurse eingeschrieben, sondern auch Spuren anderer Texte, die Spuren von Differenzen und Alteritäten, von Konfrontationen mit dem Fremden und von nicht verarbeitbaren Traumata. Bei aller Zustimmung in der Sache kritisiert Müller, dass die bei Borsò sehr beliebte Luhmannsche und dekonstruktivistische Terminologie zur Folge hat, "dass das Unternehmen mitunter im Vagen und Abstrakten stecken bleibt". Von der konkreten Umsetzung von Borsòs Ansatz in weiteren Beiträgen von Bernd Witte, Ruth Heynens und Vera Viehöver zeigt sich der Rezensent trotzdem recht angetan.

© Perlentaucher Medien GmbH
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