Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 18,22 €
  • Gebundenes Buch

Sigmund Freud - Revolutionär des alltäglichen Bewusstseins, der Sprache, der kulturellen Verhaltenscodes und der modernen Wissenschaften vom Menschen. Auch fast 70 Jahre nach seinem Tod spaltet er die Nachwelt in das Lager der glühenden Verehrer und in jenes der scharfen Kritiker. Ohne Zweifel, Freud hat nicht nur die Psychoanalyse, sondern alle geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen maßgeblich geprägt: von der Literaturwissenschaft bis zur Ethnologie.
Nach dem bewährten Konzept der Metzler-Handbücher erschließen die Autoren Leben, Werk und Wirkung Sigmund Freuds. Erstmals stehen
…mehr

Produktbeschreibung
Sigmund Freud - Revolutionär des alltäglichen Bewusstseins, der Sprache, der kulturellen Verhaltenscodes und der modernen Wissenschaften vom Menschen. Auch fast 70 Jahre nach seinem Tod spaltet er die Nachwelt in das Lager der glühenden Verehrer und in jenes der scharfen Kritiker. Ohne Zweifel, Freud hat nicht nur die Psychoanalyse, sondern alle geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen maßgeblich geprägt: von der Literaturwissenschaft bis zur Ethnologie.

Nach dem bewährten Konzept der Metzler-Handbücher erschließen die Autoren Leben, Werk und Wirkung Sigmund Freuds. Erstmals stehen in einem Freud-Grundlagenwerk vor allem seine kulturtheoretischen Leistungen im Mittelpunkt. Eine brillante und facettenreiche Analyse.
Autorenporträt
Hans-Martin Lohmann, Publizist, ehemaliger Chefredakteur der Zeitschrift Psyche ; Joachim Pfeiffer, Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturdidaktik, Pädagogische Hochschule Freiburg, Mitherausgeber des Jahrbuchs Literatur und Psychoanalyse
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2006

Verlustmeldung in die Berggasse
Moderne psychodynamische Dramen: Sigmund Freuds Wirkung

Sigmund Freud wäre am 6. Mai einhundertfünfzig Jahre alt geworden. Aus den Geburtstagsbüchern ragen zwei heraus, die auf ganz unterschiedliche Weise daran festhalten, daß wir Freud nicht verloren geben sollen.

Zahlreiche Begriffe aus seinem Repertoire (wie "Verdrängung") sind uns heute selbstverständlich - und sind uns doch unangenehm, weil sie an einer längst dahingegangenen Zeit kleben wie tote Fliegen am Klebeband: Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 in einem mährischen Städtchen geboren, kam 1860 mit der Familie nach Wien und hat dann große und überraschende Theorien über den Menschen (man denke nur an "Das Ich und das Es" und den dort geschilderten Kampf der menschlichen Urgewalten) und, damit nicht genug für den sehr strebsamen Bewohner der k. u. k. Monarchie, große und überraschende Theorien über die Menschheit aufgestellt (man denke nur an "Totem und Tabu" und die dort geschilderte Ermordung des Urhordenvaters durch die Urhordensöhne). Wie aber kriegt man nun heute wieder Schwung in den alten Freud?

Wer lange mit Ideen zugange gewesen ist, den mag irgendwann die Lust überkommen, den Ideen schöne Beine zu machen und sie in das Rad der Welt zu setzen und sie dort mit ihren schönen Beinen laufen zu lassen. Das sieht dann so aus, als würden die Ideen das Rad der Welt antreiben - als würden sie ihren Teil dazu beitragen, daß sich das Rad der Welt dreht. Eine Idee im Laufrad der Welt gewinnt an Macht, Bedeutung und an Ansehen - sie rotiert.

Der Kultur- und Wissenssoziologe Eli Zaretsky hat den alten bleichen Freud und dessen schwergewichtige Theorien in dieses Laufrad hineingestellt. Er beschreibt die Ideen Freuds und verfolgt vor begrifflichen und psychosozialen Panoramen deren Rezeption und Kritik durch Analytiker in Europa und vor allem in den Vereinigten Staaten - darunter Wilhelm Reich, Alfred Adler, Melanie Klein, Karen Horney, Heinz Kohut, Jacques Lacan und Herbert Marcuse. Wer nichts aus eigener Lektüre kennt, der kommt also mit diesem Buch ein gutes Stück voran - und sieht zum Beispiel: Die Achtundsechziger haben aus der Freudschen Theorie vor allem ein Pülverchen für ihre Kulturkritik gemacht. Sie waren weniger am einzelnen und seiner gefalteten Seele interessiert, sondern mehr an einer Kulturpolitik, die dem Individuum unter die Arme griff und ihm größere Gestaltungsmöglichkeiten für sein Leben versprach.

Mit dem Psychojargon haben die Rebellen die Wolken vom siebten Himmel vertreiben wollen. Damals, als man die Familie verachten lernte (die Frankfurter Schule erklärte, daß die bürgerliche Familie patriarchalisch gebaut sei, daß in ihrem Kreis die Autoritätshörigkeit geübt werde und daß sie auf diese Weise dem Führerprinzip zuarbeite) - damals, als man neue Lebensformen (Kommune, variantenreiche Paarbeziehungen) probte, hatte die Psychoanalyse das letzte Mal mit den Flügeln geflattert und einen kräftigen Aufwind erhalten.

Diese letzte Generation von Freud-Lesern landete mit ihren Vorstellungen, so Zaretsky, "ohne sich dessen gewahr zu werden, bei ebenden gruppenorientierten Theorien, die die Psychoanalyse verdrängten". (Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter taucht mit seinen populären Büchern "Eltern, Kind und Neurose", 1969, und "Lernziel Solidarität", 1979, bei Zaretzky nicht auf.)

Zaretsky möchte die Psychoanalyse vor ihrem Untergang bewahren. Bewahrenswert ist ihm ein ganzes Bündel von Einsichten, die er an einer Stelle so schön locker zusammenstellt - als würde er einen Bund roter Tulpen in die Vase stellen, weshalb wir ihn zitieren möchten: "Dazu gehört, daß jeder einzelne eine innere Welt hat, die zu einem guten Teil nicht nur unbewußt, sondern auch unterdrückt ist; daß die Beziehungen zu anderen, besonders zu denjenigen, die man liebt, von Bildern und Wünschen durchdrungen sind, die aus jener unbewußten Welt stammen; daß, psychologisch gesehen, ein Mann oder eine Frau zu sein das Ergebnis eines einmaligen und heiklen Prozesses ist; daß niemand einfach das eine oder das andere Geschlecht ist oder hat; daß letztlich eine unüberbrückbare Kluft besteht zwischen dem innerpsychischen Leben des Individuums und den kulturellen Mythen und Archetypen, von denen es umgeben ist; daß, wenn vom einzigartigen Wert eines Individuums gesprochen wird, ebendas konkrete, besondere und kontingente Individuum gemeint ist und keine Abstraktion; daß Gesellschaft und Politik nicht nur von bewußten Interessen und erkannten Notwendigkeiten bewegt werden, sondern auch von unbewußten Motiven, Ängsten und unausgesprochenen Erinnerungen; und daß sogar große Nationen Traumata erleiden und abrupte Kurswechsel und Regressionen durchmachen können."

Auf den weichen Kissen solcher Weisheiten läßt sich dösen und träumen, möchte man meinen. Ob, wer hier vor der Kissenwelt scheut, Zutrauen in die Psychoanalyse faßt, wenn er sich dem opulenten Handbuch über Freud (gleichsam dem Strohsack in diesem Freud-Jahr) zuwendet, das Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer herausgegeben haben? Hier stehen sorgfältig gearbeitete Artikel über Freuds Leben, Schriften und Wirkung akkurat nebeneinander wie die Bettchen der sieben Zwerge. Wer hier anfängt zu lesen, der rennt der Frage in die Arme: Lohnt sich die Lektüre von Freuds Werken (nehmen wir nur die "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie") wirklich noch? Vielleicht ist es ja so: Wir blättern in Freuds Schriften rum - nicht etwa, weil er ein grandioser Schriftsteller ist, der einen immer fesseln kann, sondern weil wir längst D. W. Winnicott oder Gregory Bateson lesen - so wie ja kaum noch einer "Das Kapital" von Marx liest (wer redet heute vom "Proletariat"), aber viele "Empire" von Hardt und Negri mit sich tragen. Freud ist ein langer Schatten.

Zaretsky meint, daß die Psychoanalyse die Idee eines ganz persönlichen Lebens auf durchschlagende Weise in die moderne Welt gesetzt habe. Die Psychoanalyse habe die durch die industrielle Entwicklung aufgerissene Trennung zwischen Beruf und Familie, Privatem und Öffentlichem als Chance für den einzelnen gesehen, sie habe dem einzelnen deshalb aufmunternd auf die Schulter geklopft und ihn aufgefordert, ein individuelles Format zu gewinnen, endlich ein ganz persönliches Leben zu führen.

Die fette Weide, auf der die individuelle Façon rund werden konnte, war das von Freud groß herausgebrachte Unbewußte. Denn das Unbewußte war etwas ganz und gar Persönliches, es ließ sich nicht in etwas Dürres und Allgemeines, zum Beispiel in die wunschlose Vernunft der Aufklärung, zerbröseln. Das Freudsche Unbewußte garantierte jedem Ich, das einem beim Gang durch die Straßen entgegenkam oder einem im Café gegenübersaß, eine absolute, eine dunkle Subjektivität - die sich auf die absolute und dunkle Sexualität als kongenialen Partner, mit dem der Welt und ihren Konventionen Paroli zu bieten sei, verlassen konnte. Die offensiven Freudschen Träger des Unbewußten schauen grandios aus - wie beim Doderer die Menschen mit ihren Dämonen, die über die Donau ziehen. (In Doderers "Strudelhofstiege" findet sich auch ein kleines abendliches Gespräch unter jungen Männern über die Seelenlage und den persönlichen Stil.)

In der Konsumgesellschaft Jahrzehnte später war von dieser vor allem die Frauen und die Homosexuellen aus den sozialen Zwängen heraustreibenden Idee eines persönlichen Lebens nicht mehr übriggeblieben als eine alle Schichten erfassende Vorstellung vom Glück. Freud verschwand mit seinem Unbewußten, und Frank Sinatra kam - mit "My Way" auf den Lippen. Diesem allgemeinen Verlust an Individualität (heute sehen wir ja auf weiten Strecken nur noch mobile und motivierte Leistungsträger) entsprach eine begriffliche Erosion bei den Psychoanalytikern, die von der amerikanischen Ich-Psychologie bis zu den Theorien des Selbst reichte (jetzt ging es um "Anerkennung" statt um "Widerstand").

Zaretskys Geschichte der Freudschen Gedanken ist lesenswert, wenn auch streckenweise redundant - spannender als ein solides Handbuch ist sie allemal. Vergessen möchten wir über Zaretskys Geburtstagsbuch nicht Edith Kurzweils gelehrte Studie über "Freud und die Freudianer", die 1993 auf deutsch erschienen ist. Hier wird die Psychoanalyse nicht in das Laufrad der Welt gesteckt - um so vorsichtiger sind die Ausführungen zur Rezeption und der Wirkung der Freudschen Ideen auf die folgenden Generationen von Analytikern in unterschiedlichen Ländern. Edith Kurzweil widmet zum Beispiel Alexander Mitscherlich ein Kapitel - im Thesenpanorama Zaretskys taucht Mitscherlich, der in der Bundesrepublik die Stichwörter der "vaterlosen Gesellschaft" und der "Unfähigkeit zu trauern" prägte, nur einmal auf. Aber auch diese Stichwörter einer sozialpsychologisch gewendeten Psychoanalyse bleiben uns heute im Hals stecken. Freuds Jahrhundert liegt weit, weit hinter uns.

Wahrscheinlich ist es einfach so: Freud hat einen ganz anderen Menschenschlag gekannt. Man könnte sich ein Völkerkundemuseum vorstellen, in dem man neben Sälen für die Afrikaner, die Chinesen, die Japaner und die amerikanischen Indianer auch einen Saal für Menschen der vorletzten Jahrhundertwende findet, insbesondere für die Bewohner von Großstädten, für die Wiener zum Beispiel oder für die Berliner. Dann sieht man, daß diese Menschen von unserer menschlichen Gegenwart weit weggerückt sind, so wie von den Figuren aus den avancierten Romanen und Erzählungen und Dramen unserer Gegenwart ja auch die Figuren aus den avancierten Romanen und Erzählungen und Dramen jener Jahrzehnte weit weggerückt sind, auch wenn wir beim Lesen und Zuhören immer noch so tun, als seien sie bei uns.

Abgesehen von den theoretischen Zumutungen der Psychoanalyse, über die sich streiten läßt: Die Freudsche Theorie ist die Unterstellung, daß es eine Brücke in die nahe und ferne Vergangenheit gibt und immer geben wird. Das ist eine herzerwärmende Vorstellung, die mit landläufigen Erfahrungen über die kulturindustrielle Räumung der Seelen und die Zurichtung der Restinnerlichkeit kollidiert. An Freud zu erinnern, und sei es zu seinem einhundertfünfzigsten Geburtstag, bedeutet deswegen immer: eine Verlustmeldung aufzusetzen und mit hochachtungsvollen Grüßen in die Berggasse 19 in Wien zu schicken.

EBERHARD RATHGEB

Eli Zaretsky: "Freuds Jahrhundert". Die Geschichte der Psychoanalyse. Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006. 622 S, geb., 34,50 [Euro].

Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer (Hrsg.): "Freud. Handbuch". Leben - Werk - Wirkung. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, Weimar 2006. 452 S., geb., 64,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.05.2006

Er öffnete sich und deckte sich damit zu
„Die Biographen aber sollen sich plagen”: Altes und Neues in Büchern über Sigmund Freud zum 150. Geburtstag
Von Arthur Schnitzler, Freuds heimlichem Doppelgänger, stammt der Satz: „Nicht die Psychoanalyse ist neu, sondern Freud, so wie nicht Amerika neu war, sondern Kolumbus.” Geboren im Sterbejahr seines Lieblingsdichters Heinrich Heine und gestorben in den Tagen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, stand Sigmund Freud mit einem Bein - dem vermutlich gefestigteren von beiden - noch mitten in der bürgerlichen Epoche des 19. Jahrhunderts, mit dem anderen aber im katastrophalen 20. Jahrhundert, darin alle Bürgerlichkeit unterging. Seinem pünktlich zur Jahrhundertwende erschienenen Epochenwerk „Die Traumdeutung” hatte er als Motto Verse des Vergil vorangestellt, jenes Dichters, der damals noch im Rufe stand, „Vater des Abendlandes” zu sein. Heuer blickt
uns von den Umschlägen der zum
150. Freud-Geburtstag am 6. Mai angeschwemmten Bücherflut und von den Coverfotos der Wochenblätter und Magazine das Bild eines alternden, wenn nicht greisen Übervaters mit grauem Vollbart und phallokratisch gespreizter Zigarre entgegen. Als wären Sigmund Freud und sein Jahrhundert niemals jung gewesen.
Auffällig, wie die Freud-Ikonografie den Zeitstimmungen folgt. Als Perle des vorangegangenen Freud-Jahres - es war das Jahr des Aufbruchs 1989, man beging den 50. Todestag des Begründers der damals für tot erklärten Psychoanalyse - war ein schöner Band mit Jugendbriefen Freuds erschienen, den abermals neu anzubieten der S. Fischer Verlag leider unterlassen hat: Herausgegeben, kommentiert und mit einem fulminanten Nachwort des kürzlich verstorbenen Walter Boehlich versehen, war in den Briefen an den Jugendfreund Eduard Silberstein das Werden eines mit großen Gaben der Beobachtung und der Phantasie ausgestatteten Sprachzauberers zu entdecken, der auch die mährischen Orte seiner frühen Kindheit wiederaufleben ließ. Daneben deutete sich in diesen Briefen ein Motiv als Quelle seines Werks an, das daraus nicht mehr wegzudenken ist: die Entbehrung, entweder durch das Leben selbst oder durch die Kultur auferlegt.
Duftmarken, seelenruhig
Auch nach der mittlerweile kanonischen Freud-Biografie von Peter Gay gäbe es also noch genügend Stoff, an dem die Biografen sich abarbeiten könnten, auch eingedenk der gar nicht groß genug zu veranschlagenden Bedeutung, die Freud der Kindheit allgemein und in der Selbstanalyse auch seiner eigenen zugemessen hatte. Freilich mit einem von ihm selbst daran befestigten Haken: „Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen”, schrieb schon der verliebte Jüngling an seine Verlobte. Alles autobiografische Material, an dem Freuds Werke reich sind, unterliegt dort - wie auch in seinen Briefen - einer meisterhaften sprachlichen wie literarischen Strategie der Verrätselung und „sekundären Bearbeitung”. Die einhergehenden Probleme ließen frühere Biografen noch nachdenklich werden, so wie Ludwig Marcuse, der schrieb: „Und wieweit war dieses Sich-Öffnen nicht auch das Gegenteil: ein Sich-Zudecken? Das wird die Frage sein, die immer wieder gestellt werden muss.”
Erfreulicherweise hat sich die seriöse Freud-Forschung dieser Fragen heute angenommen. Hans-Martin Lohmann, Mitherausgeber eines schwergewichtigen und dicht gestrickten, als Standardwerk für die nächste Zukunft maßgeblichen „Freud-Handbuchs”, weist in seinem klugen Abriss zu Freuds intellektueller Biografie auf manches ungelöstes Rätsel um dessen Kindheitsschilderungen und erinnert an den Satz im Essay über Leonardo da Vinci, wonach „die Kindheit nicht jenes selige Idyll ist, zu dem wir es nachträglich entstellen”. Dem sprachbegabten Schriftsteller, der einen hinreißenden und unnachahmlichen Prosastil pflegte, blicken die Aufsätze eines Schwerpunkthefts der Neuen Rundschau beim Schreiben über die Schultern. Ein Essay aus dem Nachlass des Philosophen Hans Blumenberg zu Freuds „Metaphorik von Verhüllung und Enthüllung” stellt da die Schlüsselfrage, „ob nicht die Verhüllung nur die sekundäre Bekleidung von etwas sei, was sich in seiner primären Unmittelbarkeit nur schwer ertragen lasse.”
Die Feiertagsskribenten hält das nicht davon ab, sich auf ausgetretenen Pfaden und in immer neuen Kombinationen der Freudschen Selbstauskünfte, gleich welchen Kontexten sie angehören, nach Gusto zu bedienen. Die neueste biografische Mode äußert sich darin, dass der Leser kaum noch zwischen Worten des Biografhen und Worten seines Objekts unterscheiden kann, es offenbar auch nicht mehr soll. Bei Birgit Lahann, die im Duett mit der kunstgewerblichen Fotografin Ute Mahler schon bei Goethe, Schiller, Brecht und Hesse vorstellig war, ist dieses Verfahren zum Schriftbild eines Buchs geworden, in dem das gehäufte Zitiermaterial keiner Gänsefüßchen und keiner Nachweise mehr bedarf.
Als Spielmaterial wird der „O-Ton” Freuds nur noch kursiviert, und Autorin wie Fotografin können auch bei allen „selbstständigen” Kolportagen autobiografischer Quellen von sich sagen, sie seien dabei gewesen. Das liest sich dann so: „Sigmund . . . bleibt der Goldsohn der Mutter, bleibt die unbestrittene Nummer eins. Dabei ist es noch gar nicht lange her, da war er nachts in den Schlafraum der Eltern geschlichen. Aus Neugier? Wollte er die beiden beobachten? Beim Beischlaf vielleicht? Und dann pinkelt er seelenruhig mitten ins Zimmer. Wozu? Will er eine Duftmarke setzen?” Unfreiwillig gut passt dazu die Bildunterschrift zu einer Ansicht der Pariser Tuilerien: „Freud schreibt an seine Braut, dass er in der ganzen Stadt keine schönen Damentoiletten sieht.”
Dergleichen Literatur ist auch billiger zu haben: Einen für die Spaßgesellschaft kondensierten goldenen Zitaten-Freud präsentiert Ludger Lütkehaus mit dem Reclamheftchen „Freud zum Vergnügen”, das Frivoles verspricht, aber keine annähernd so gewitzte und würzige Lektüre wie Freuds vollständige Texte bietet. Wer hingegen auf populäre, gut lesbare und zuverlässige Weise über Freuds Leben und Werk aufgeklärt werden will, dem sei die wiederaufgelegte Biografie von Georg Markus empfohlen, am besten ergänzt um das in Freuds Hausverlag von Cordelia Schmidt-Hellerau sorgfältig ausgewählte und liebevoll kommentierte „Lesebuch”.
Die arme Familie!
Eine weitere biografische Unsitte ist die Methode einer schrankenlosen Einfühlung, die weder sprachlichen noch sachlichen Kontrollinstanzen folgt, so dass keiner mehr weiß, wer eigentlich spricht. Es ist kein Zufall, dass diese Mode auch anderswo grassiert, vor allem - um einen genuin Freudschen Ausdruck zu gebrauchen - in den deutschen „Familienromanen” der vergangenen Jahre. Eva Weissweiler hat für ihre Kollektivbiografie über Freuds Familie in Archiven und Nachlässen recherchiert. Ihre Sprache ist dabei aber so kurzatmig und denunziatorisch, dass sie keiner Nebensätze und keiner Zwischentöne mehr bedarf. Ihre Einfühlung in die vom Patriarchen angeblich chronisch vernachlässigten und malträtierten weiblichen Familienangehörigen geht hingegen so weit, dass sie Gerüchte, die schon zeit-
lebens über Freud verbreitet wurden, ungeprüft übernimmt: Als Schlüsselargument wärmt sie auch jene Klamotte wieder auf, wonach Freud ein sexuelles Verhältnis zu seiner Schwägerin Minna Bernays unterhalten habe. Weissweiler will sogar um die Ursachen häufig auftretender Darmerkrankungen bei Ehefrau und Schwägerin wissen: „Folgen fortgesetzten Analverkehrs”, den Freud als „sichere Form der Empfängnisverhütung” praktiziert habe. Da Freud aber häufig auch selbst über Darmbeschwerden klagte - müssen wir jetzt wohl annehmen, die beiden Damen hätten sich einen Dildo umgeschnallt und dem Kerl damit ihrerseits zugesetzt?
Was immer sich auch Ablehnendes gegenüber dem von Freud ins Zentrum des Familienromans gerückten Ödipusdrama sagen lässt, es kann nicht an Freud und seiner Lehre liegen, wenn die Nachfahren diesem intellektuellen Übervater des 20. Jahrhunderts entweder in blinder Verehrung oder mit vatermordender Demontage begegnen. Es war für die zahlreichen Kinder und Kindeskinder dieser Großfamilie gewiss nicht leicht, im alltäglichen Konkurrenzkampf um die Gunst des Patriarchen einen sicheren Platz zu erlangen, so auch für die Schwiegertochter Ernestine Drucker, deren Geschichte von Freuds Enkelin Sophie im Wechsel mit der Stimme ihrer Mutter erzählt wird.
Auch im Kreise der engeren Schülerschar wie unter der psychoanalytischen Zunft tobte und tobt der Familienkrieg. Dazu sind zwei neue Quellen erschienen: Isidor Sadgers persönliche Erinnerungen an seinen Lehrer, die wiederum ein Licht auf den großartigen Schriftsteller sowie auf das komplizierte, allerdings von persönlichen Enttäuschungen des Autors getrübte Kapitel Freud und das Judentum werfen; ferner die mit Freuds Genehmigung in den zwanziger Jahren angefertigten Sitzungsprotokolle aus der Lehranalyse seines Schülers Ernst Blum. Manfred Pohlen hat dieses interessante Dokument, das manchen stereotypen Lehrmeinungen über Freuds Praxis widerspricht, herausgegeben, doch wäre es besser gewesen, er hätte in seinen Kommentaren editorische Zurückhaltung geübt, statt mit anklägerischem Pathos eine neue Runde im apostolischen Streit um die vermeintlich wahre Freudsche Offenbarung einzuläuten. Die Protokolle zeigen Freud nicht als schweigenden Analytiker, sondern als aufmerksamen Zuhörer, der den Dialog mit seinem Analysanten suchte und sich auf die sokratische Kunst der Maieutik verstand.
Der Jude aus Mähren
Die unbestreitbare Perle unter den Neuveröffentlichungen dieses Freud-Jahres aber sind die von Christfried Tögel entdeckten Erinnerungen der Nichte Lilly Freud-Marlé (1888-1970), die als Schauspielerin und Diseuse selbst etwas von dem Sprachzauber ihres Onkels teilte. Fernab von allen gesuchten Enthüllungen, an denen die Freud-Literatur so krankt, gewinnt der selbst erklärte „Jude aus Mähren, dessen Eltern aus dem österreichischen Galizien stammten” eine menschliche Kontur, über die wir auch den Abstand ermessen können, der uns nicht erst seit heute von ihm trennt. Freud-Marlés hinreißendes Buch gehört im Bücherregal gleich neben Stefan Zweigs „Die Welt von gestern”. Eine These, für die Micha Brumlik, der Freud zum „Denker des 20. Jahrhunderts” erklärt, ein ganzes kluges und herausforderndes Buch benötigte, das allerdings sprachlich wie konzeptionell weit hinter seinem Anspruch zurückbleibt, wusste die Tochter einer Mutter, die mit zwei weiteren Schwestern Freuds in den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus ums Leben kam, mit einem einzigen Satz auszudrücken: „Freuds ernste Erkenntnis, daß jede Form von Zivilisation den Vernichtungstrieb als Erbschaft in sich trug und keine Bemühung des Eros imstande war, den Todesinstinkt auszuscheiden, steht auch als tiefe Warnung am Ausgang dieser Vernichtungsperiode.” Bliebe also das große Freudsche Thema der Entsagung.
VOLKER BREIDECKER
LUDWIG MARCUSE: Sigmund Freud. Sein Bild vom Menschen. Diogenes Verlag, Zürich 1972. 253 Seiten, 21,90 Euro.
HANS-MARTIN LOHMANN, JOACHIM PFEIFFER: Freud-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Metzler Verlag, Stuttgart 2000. 452 Seiten, 64,95 Euro.
NEUE RUNDSCHAU, 117. Jahrgang, Heft 1. Fischer Verlag, Frankfurt 2006. 206 Seiten, 10 Euro.
BIRGIT LAHANN, UTE MAHLER: Als Psyche auf die Couch kam. Die rätselvolle Geschichte des Sigmund Freud. Aufbau Verlag, Berlin 2006. 179 Seiten, 24,90 Euro.
LUDGER LÜTKEHAUS (Hrsg.): „Genug von meinen Schweinereien”. Freud zum Vergnügen. Reclam Verlag, Stuttgart 2006. 159 Seiten, 4 Euro.
GEORG MARKUS: Sigmund Freud. Die Biographie. Langen Müller Verlag, München 2006. 350 Seiten, 22,20 Euro.
SIGMUND FREUD: Das Lesebuch. Schriften aus vier Jahrzehnten. Hrsg. v. Cordelia Schmidt-Hellerau. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2006. 477 S., 12 Euro.
EVA WEISSWEILER: Die Freuds. Biographie einer Familie. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 479 S., 24,90 Euro.
SOPHIE FREUD: Im Schatten der Familie Freud. Meine Mutter erlebt das 20. Jahrhundert. Claasen Verlag, Berlin 2006. 475 Seiten, 19,95 Euro.
ISIDOR SADGER: Sigmund Freud. Persönliche Erinnerungen, hrsg. von Andrea Huppke und Michael Schröter. Edition Diskord, Tübingen 2006. 160 S., 22 Euro.
MANFRED POHLEN: Freuds Analyse. Die Sitzungsprotokolle Ernst Blums. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 399 Seiten, 22,90 Euro.
LILLY FREUD-MARLÉ: Mein Onkel Sigmund Freud. Erinnerungen an eine große Familie. Hrsg. v. Christfried Tögel. Aufbau Verlag, Berlin 2006. 341 Seiten, 22,90 Euro.
MICHA BRUMLIK: Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts. Beltz Verlag, Weinheim 2006. 304 S., 22,90 Euro.
Wir sehen ihn gern als Übervater des 20. Jahrhunderts - als wäre er niemals jung gewesen: Sigmund Freud (1856-1939) am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer in der Wiener Berggasse 19, um 1935.
Foto: ullstein bild/Imagno
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr
"Eine facettenreiche Analyse" - Die beiden Herausgeber stellen vor allem die kulturtheoretischen Leistungen Freuds in den Mittelpunkt." - DIE ZEIT Geschichte

"Um sich von der anhaltenden Bedeutung Freuds zu überzeugen, genügt ein Blick in das neu erschienene umfassende Freud-Handbuch, das mit exemplarischer Gelehrsamkeit zeigt, was es mit Freud und seinem Jahrhundert auf sich hat." - NZZ

"Wer den perfekten Überblick sucht, der lese in dem von Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer herausgegebenen Freud-Handbuch. Umfassend und kenntnisreich geht es hier um 'Epochenkontext' über 'Werke' und 'Werkgruppen' bis zu 'Themen und Motiven' sowie der Wirkungsgeschichte..." - Frankfurter Neue Presse

"Nach dem bewährten Konzept der Metzler-Handbücher richtet sich dieses Grundlagenwerk über Leben, Werk und Wirkung an Studenten, Dozenten aber auch Freud-Freunde. Interessant: Erstmals werden hier seine kulturtheoretischen Leistungen in den Vordergrund gestellt." - BuchMarkt

"Wer zum umfassenden Nachschlagewerk greift, kommt an dem 'Freud-Handbuch' nicht vorbei, das in gewohnter Form Leben, Werk und Wirkung erschließt - wobei es wohl kein Zufall ist, dass der Band ganz bewusst einen Schwerpunkt auf Freuds kulturtheoretische Leistungen jenseits des Wissenschaftsstreits um sein psychoanalytisches Erbe legt." - Börsenblatt

"Die Autoren vorliegender Biographie schlagen Freud also mit seinen eigenen Waffen: sie psychoanalysieren Freuds Psychoanalyse und beweisen damit, dass sie sich mit ihrer Materie bestens auskennen. Ein absolutes Muss also für jeden Freud-Kenner und die es noch werden wollen, weil tatsächlich auch drin ist, was drauf steht: 'Leben - Werk - Wirkung'." - buchkritik.at

"Hier stehen sorgfältig gearbeitete Artikel über Freuds Leben, Schriften und Wirkung akkurat nebeneinander..." - FAZ

"Wie immer bei den Handbüchern aus dem Metzler Verlag besticht auch dieser Band über Freud durch seine übersichtliche und verlässliche Art der Aufbereitung von Fakten und Urteilen über den Wiener Arzt und Psychologen, dessen Werk in die große Tradition der europäischen Aufklärungs- und Emanzipations-Bewegung gehört." - Zeitschrift für Tiefenpsychologie und Kulturanalyse

"Die Herausgeber und rund 40 Autoren des Handbuches konzentrieren sich auf 'Freuds enorme Bedeutung für die Entzifferung von vergangener und gegenwärtiger Kultur- und Gesellschaftsgeschichte' und machen damit vor allem die wirkungsgeschichtliche Dimension der Freud´schen Psychoanalyse sichtbar." - Universitas

"An die 50 Experten waren beteiligt an diesem Handbuch, das Freuds Leben und Werk in allen Facetten widerspiegelt. Grundlegendes, konkurrenzloses Handbuch und Nachschlagewerk für Studium und therapeutisch-beraterische Praxis." - ekz-Informationsdienst

"Wer sich auf Freud beruft, sollte zuvor wenigstens anhand dieses Handbuches prüfen, ob er sich seiner Sache sicher sein kann." - WALTHARI
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Opulent" nennt Eberhard Rathgeb das von Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer herausgegebene Handbuch zu Freud, richtig warm wird er allerdings damit nicht. Das liegt auch an der recht locker geschriebenen Geschichte der Psychoanalyse von Eli Zaretsky, die Rathgeb gleichzeitig bespricht und neben denen die "sorgfältig gearbeiteten Artikel" offenbar etwas verblassen. "Akkurat wie die Bettchen der sieben Zwerge" sind hier Beiträge über Freuds Leben, Schriften und Wirkung versammelt, was den Rezensenten zu der Metapher veranlasst, hier liege gleichsam der "Strohsack in diesem Freud-Jahr" vor.

© Perlentaucher Medien GmbH