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Maria Tschechowa erzählt, fast fünfzig Jahre nach seinem Tod, aus der Perspektive der Eingeweihten vom ereignisreichen Leben ihres Bruders, des großen russischen Dichters Anton Tschechow. Schon zu Lebzeiten ist Anton Pawlowitsch ein berühmter Mann und verkehrt mit den Größen der russischen Künstlerwelt. Schriftsteller, Maler und Schauspieler, russischer Adel, sie alle zählen zu seinem Bekanntenkreis, gehen in seinem Moskauer Haus ein und aus und bevölkern die Tschechow-Datschas. Von den Jahren in der südrussischen Provinzstadt Taganrog über Moskau und St. Petersburg bis hin zu seinem frühen…mehr

Produktbeschreibung
Maria Tschechowa erzählt, fast fünfzig Jahre nach seinem Tod, aus der Perspektive der Eingeweihten vom ereignisreichen Leben ihres Bruders, des großen russischen Dichters Anton Tschechow. Schon zu Lebzeiten ist Anton Pawlowitsch ein berühmter Mann und verkehrt mit den Größen der russischen Künstlerwelt. Schriftsteller, Maler und Schauspieler, russischer Adel, sie alle zählen zu seinem Bekanntenkreis, gehen in seinem Moskauer Haus ein und aus und bevölkern die Tschechow-Datschas. Von den Jahren in der südrussischen Provinzstadt Taganrog über Moskau und St. Petersburg bis hin zu seinem frühen Tod in Badenweiler zeichnet Maria den Weg des Dichters, der nicht frei ist von Misserfolgen und Enttäuschungen. Offen schildert sie auch die schwierigen Seiten der zärtlichen Beziehung zu ihrem Bruder. Den Heiratsantrag ihres Freundes Alexander Smagin lehnt sie Antoscha zuliebe ab. Dieser hatte verstimmt auf die Nachricht von der geplanten Hochzeit reagiert. Umso eifersüchtiger ist sie, als Anton wenige Jahre vor seinem Tod die Schauspielerin Olga Knipper heiratet. So entsteht das nostalgische Bild einer russischen Großfamilie der Jahrhundertwende, die nicht absteigt wie die Buddenbrooks, sondern aus Armut und Spießbürgerlichkeit zu relativem Wohlstand gelangt. Von der unvergleichlichen Atmosphäre dieser untergegangenen Welt legen die privaten Fotografien des Bandes beredtes Zeugnis ab.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2004

Prügel für den Flügelknaben
Die Erinnerungen von Anton Tschechows Schwester Maria

Seine Muse war sie nicht, auch nicht seine literarische Agentin, Tschechows Schwester Maria Pawlowna, wohl aber seine Gehilfin, Assistentin und Sprechstundenhilfe, wenn Doktor Tschechow in Babkino, später in Melichowo die Bauern der umliegenden Dörfer kurierte. Tschechow sprach von ihr als der "Hauptperson - ohne sie kriegen wir bei uns den Kuchen nicht gebacken", sie selbst nennt sich bescheiden seine "Freundin", seine "Vertraute", die vor ihm, wie er vor ihr, keine Geheimnisse hatte. Um so härter muß sie 1901 Tschechows heimliche Heirat getroffen haben - auch davon erzählt Maria Pawlowna in ihren Erinnerungen, die 1956, kurz vor ihrem Tode, abgeschlossen, nun, zu Tschechows hundertstem Todestag, auf deutsch erschienen sind.

Das russische Original trägt den nicht vereinnahmenden Titel "Aus der fernen Vergangenheit" und entspricht damit der schlichten Diktion des Textes. Es ist ein einzigartiges literarisches Dokument, ein Lebensbild Tschechows aus nächster Nähe, verständnisvoll und kompetent geschildert von einer aufmerksamen, umsichtigen und keineswegs unauffälligen Frau, die, wie sie selbst sagt, ihr Leben dem Genie ihres Bruders gewidmet und deshalb selbst alle Heiratsanträge abgewiesen hat.

Die Liste ihrer Verdienste ist lang, bereits zu Lebzeiten Tschechows, vor allem aber danach. Maria Pawlowna hat die Korrespondenz ihres Bruders gesammelt, sie erschien 1912 bis 1916 in sechs Bänden, sie hat das Haus in Jalta gehütet, Besuchern gezeigt und noch vor der Revolution zu einem Museum gemacht, hat dieses Haus vor den Verwüstungen des Bürgerkriegs bewahrt, ebenso vor solchen durch deutsches Militär im Zweiten Weltkrieg, sie hat vom sowjetischen Staat, in dem Tschechow als "Pessimist" nur wenig Sympathisanten hatte, Mittel beschafft, die "weiße Villa" von Autka zu erhalten, und das Andenken ihres Bruders bis ins hohe Alter gepflegt. Ein Teil dieser Bemühungen sind ihre Erinnerungen, in denen ihre eigenen Verdienste eine marginale Rolle spielen; "Fragen Sie mehr über Anton Pawlowitsch" könnte das Buch auch heißen.

Manches von dem, was sie ausbreitet, mag demjenigen, der Tschechows Briefe gelesen hat, bekannt vorkommen, auch sie greift immer wieder auf sie zurück. Aber sie zitiert auch unbekannte, an sie gerichtete Briefe anderer, etwa die der armen Lydia Mizinowna mit ihrer "trivialen und zugleich tragischen Geschichte", die das Unglück hatte, sich in Tschechow zu verlieben. Sie zitiert Briefe der unglücklich verheirateten Lydia Awilowa, von der Bunin überzeugt war, Tschechow hätte sie als einzige wirklich geliebt, sie zitiert - was 1960 in der Sowjetunion keineswegs selbstverständlich war - Briefe des Emigranten Bunin, in denen dieser ihr gegenüber mehr verriet als nur freundschaftliche Sympathie.

Wer indes nur Tschechows Briefe kennt, kann den Wert der Erinnerungen der Schwester kaum ermessen, denn sie setzt in ihrer Erzählung, entgegen vielen Biographien, behutsam, aber bestimmt andere Akzente und gewichtet bestimmte Ereignisse im Leben ihres Bruders anders. Zum Beispiel bewerten die meisten Biographen Tschechows Kindheit in Taganrog als "schrecklich" und folgen hierin den larmoyanten Erinnerungen des ältesten Bruders Aleksander (nicht ins Deutsche übersetzt), dem Tschechow einmal den vielzitierten Satz vorhält: "Despotismus und Lüge haben uns die Kindheit dermaßen vergällt, daß man nur mit Schrecken daran denken kann"; Maria Pawlowna schildert eine fröhliche Kindheit ihrer älteren Brüder und gibt zu bedenken, "in welcher Epoche unsere Kindheit verlief", da nämlich nicht nur in Schulen und Gymnasien geprügelt wurde, sondern eine Tracht Prügel auch in Privathäusern gang und gäbe war, zumal in denen ehemals leibeigener Bauern wie ihr Vater. Etwas anderes sei, wie Anton Pawlowitsch derlei Züchtigungen empfunden habe; schließlich habe er mit siebzehn Jahren, als die Erinnerung an sie noch frisch waren, auch diese Sätze geschrieben, an die sich ihr Bruder zeitlebens gehalten hat: "Vater und Mutter sind für mich die einzigen Menschen auf dem ganzen Erdball, für die mir nie etwas zu schade ist. Wenn ich einmal hoch stehen werde, so ist dies das Werk ihrer Hände, sie sind prachtvolle Menschen, allein ihre grenzenlose Kinderliebe stellt sie über jedes Lob" und so weiter. Es sind diese leichten Akzentverschiebungen und anderen Gewichtungen, die Maria Pawlownas Erinnerungen zu einem lesenswerten Buch machen.

Ach ach, ach, ach! Tschechow hat auch einmal geschrieben, man solle "nur für Böses öffentliche Prügel erteilen, und auch das nicht wahllos" - dieser Fall ist hier gegeben. Das Buch ist ein neuerlicher Tiefpunkt deutscher Editionspraxis, der auf nichts anderes hinausläuft als auf die mutwillige Entwertung eines wichtigen Dokuments. Kein Vorwort, kein Nachwort, dabei gäbe es durchaus etwas mitzuteilen, etwa die Entstehungsgeschichte, denn diese Erinnerungen hat die hochbetagte Autorin nicht mehr selbst geschrieben, sondern ein langjähriger Mitarbeiter hat sie nach ihren Erzählungen notiert in einer schlichten, an Tschechows Stil orientierten Sprache. Maria Pawlowna hat diese Niederschrift wenige Monate vor ihrem Tod 1957 autorisiert.

Vor allem aber der Text selbst ist willkürlich um ganze Absätze, ganze und halbe Sätze gekürzt - nirgends wird erklärt, warum und nach welchen Kriterien gekürzt wurde, und zwar oft geradezu sinnentstellend: Maria Pawlowna spricht von "allen ihren älteren Brüdern" als "talentierten Menschen", was sie in der Tat waren, doch dieser Satz ist gestrichen zugunsten Anton Pawlowitschs, der als einziger "die Anlagen seines ihm von der Natur verliehenen Talents genutzt" beziehungsweise entwickelt habe. Namen werden verstümmelt: Die Schwester spricht in ihrer wohlbedachten Diskretion nie von "Anton", sondern immer in der Respektsform: Anton Pawlowitsch. Konkrete Details, etwa die genauen Adressen, werden einfach weggelassen, Absätze verschliffen, Sätze willkürlich kontrahiert und Briefzitate entgegen dem Original in der Kursiven freigestellt.

Der Übersetzung darf man mit feineren Unterscheidungen gar nicht erst kommen: "Das ist der Grund" ist etwas anderes als (im Original) "Damit könnte man erklären", "erdulden" etwas anderes als "erfahren". Aus den Kreisstädten Woskresensk und Zwenigorod "Vororte Moskaus" machen kann nur jemand, der nie einen Blick auf die Landkarte geworfen hat, und grobe Fehler wie die Behauptung, "sämtliche Briefe Lewitans an Tschechow" seien verloren, unterlaufen nur jemandem, der weder über Kenntnisse der russischen Grammatik verfügt noch über solche der Sachlage: Tschechows Briefe an seinen Freund sind auf dessen Wunsch nach seinem Tode verbrannt worden; Lewitans Briefe an ihn liegen sogar in deutscher Übersetzung vor. Und auf "Sonnenblumenschalen" muß man erst mal kommen.

Natürlich möchte man, allein aus Sympathie für einen der größten russischen Autoren, wissen, was dessen Schwester von ihm zu berichten hat, und wird das Buch lesen, nur muß der potentielle Leser auch wissen, daß er aus dieser Edition keinen einzigen Satz ungeprüft zitieren darf, buchstäblich keinen.

PETER URBAN

Maria Tschechowa: "Mein Bruder Anton Tschechow". Aus dem Russischen übersetzt von Antje Leetz. Kindler Verlag, Berlin 2004. 286 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Zunächst nähert sich Peter Urban diesen Erinnerungen, die Maria Tschechowa über ihren Bruder erzählt und die nun anlässlich des hundertsten Todestages Anton Tschechows auf Deutsch erscheinen, voller Lob und Sympathie. Er preist das Buch als "einzigartiges literarisches Dokument", in dem Maria Tschechowa "verständnisvoll und kompetent" über ihren Bruder berichtet, dem sie den Großteil ihres Lebens gewidmet hat. Insbesondere denjenigen, die lediglich die Briefe Tschechows kennen, wird der Band interessante Aufschlüsse und "leichte Akzentverschiebungen" bieten, die es zu einer lohnenswerten Lektüre machen, so Urban überzeugt. Doch kaum hat der Rezensent solcherart sein Wohlwollen geäußert, als er auch schon zu klagen und anzuklagen anhebt. Denn bei allem Wert dieser Erinnerungen beweint Urban dieses Buch als "Tiefpunkt deutscher Editionspraxis" und begibt sich auch sogleich an die Aufzählung der Vergehen: Er vermisst ein erklärendes Vor- und Nachwort, da besonders die "Entstehungsgeschichte" dieses Buches einige Worte wert wäre, wie er findet. Dann ärgert sich der Rezensent gewaltig über die Willkür, mit dem man den Text "oft geradezu sinnentstellend" gekürzt hat und dies zudem auch nicht gekennzeichnet hat. Des weiteren weist Urban verbittert auf grammatikalische, inhaltliche und geographische Fehler hin und betont, dass "buchstäblich kein einziger Satz" dieser Ausgabe "ungeprüft zitiert" werden sollte.

© Perlentaucher Medien GmbH
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