Produktdetails
  • Verlag: Katholisches Bibelwerk
  • Seitenzahl: 102
  • Deutsch
  • Abmessung: 14mm x 155mm x 215mm
  • Gewicht: 274g
  • ISBN-13: 9783460320505
  • ISBN-10: 3460320508
  • Artikelnr.: 09513857
Autorenporträt
Fridolin Stier, geboren 1902 in Karsee Allgäu, gestorben 1981 in Tübingen. Studium der Theologie und orientalischen Sprachen in Tübingen und Rom. Nach 1945 Professur für Altes Testament an der katholisch-theologischen Fakultät in Tübingen. Begründer und Herausgeber der "Internationalen Zeitschriftenschau für Bibelwissenschaft und Grenzgebiete".
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.01.2002

Der Flug des Raben dauerte ein Leben lang
Fridolin Stier übersetzte die Psalmen und wurde ein Dichter
Sie hieß Sybille, sie war sein Glück und brachte ihn zum Verzweifeln. Ihren Geburtstag notierte er Jahr für Jahr jubilierend im Tagebuch. Seit sie bei ihm wohnte, hielt er es sogar mit sich selber aus. Plötzlich aber, von der einen auf die nächste Sekunde, war das Haus am Waldesrand ein „Fremdenheim” geworden. Fridolin Stier fühlte sich seit jenem Septembermorgen 1971, als Sybilles Auto gegen einen Baum fuhr, abgeschnitten von den Wurzeln seines Daseins. Er klagte Gott an: „Ist das eure Sprache, ihr himmlischen Mächte, ihr Herren?” Die verstorbene Sybille war seine Tochter gewesen, die Tochter des katholischen Theologen, Bibelübersetzers und eben auch Pfarrers Fridolin Stier.
Trotz aller Trauer und allem Zorn hielt Stier an seinem Gottesbild fest: „In der Bibel ist Gott nicht der Seiende, sondern der Sprechende, der selber spricht.” Was aber kann dieser gewaltige Verlust ihm, dem verzweifelten Vater, zu sagen haben? In welcher Sprache soll er auf diesen Schmerz antworten? Soll er wüten oder verstummen, sich abwenden oder weiterhin zu glauben versuchen? Er ist doch fest überzeugt davon, dass Glaube bedeutet, „wie ein Ertrinkender um ihn zu kämpfen.” Hiob weist dem ehemaligen Professor für Altes Testament den Weg. Hiobs Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Leidens war ein demütiges Schweigen. Fridolin Stier fügt hinzu: „Aber es bleiben die Dinge, und es kommen die Stunden, die das Schweigen unerträglich machen, und dann schrei ich wie der Hiob, der Gott noch nicht geschaut hatte.”
Ebendieses Schreien sollte ein Nachsprechen, sollte das Resultat einer anverwandelnden und schöpferischen Lektüre der Bibel sein. Neben dem Buch Hiob wandte Fridolin Stier sich den Psalmen zu und übersetzte sie nach seinem Verständnis: Er wollte die Klagelieder und Hymnen in den sprachlichen und spirituellen Zustand seiner Gegenwart versetzen. Da in den Psalmen, so Stier, Gott selbst lebe, könnte ihr Nachvollzug dabei helfen, den Abstand zu Gott neu zu bestimmen. Bald erkannte er die gewaltige semantische Kluft zwischen dem originalen Hebräisch und dem Deutsch des zwanzigsten Jahrhunderts, die ein Ausdruck zunehmender religiöser Taubheit sei. Die dialektische Lösung, auf die auch Adorno hätte verfallen können, lautete: Man muss dem Text die Treue halten, indem man diese bricht. Der lang zurückliegende Tod der Psalmisten darf nicht verleugnet werden, doch genauso wenig darf das „Gesindel hässlicher Neuwörter” Einlass finden in die Welt der Glaubensväter. Der fremde Text ist bei uns nur zu Gast, und er würde vergewaltigt, wenn man „dem in orientalischer Tracht Erschienenen einen Rollkragenpullover über den Kopf stülpte.”
1999 legte Arnold Stadler ein Drittel der insgesamt einhundertfünfzig Psalmen in neuer Übertragung vor. Er gab sie als Gedichte wieder, als Gedichte in seiner eigenen, höchst individuellen Sprache, weshalb er den Begriff der Übersetzung vermied. Das Buch des Büchner-Preisträgers und studierten katholischen Theologen wurde ein Verkaufsschlager. Sieben Auflagen sind bereits erschienen. Wenngleich der nun erstmals gesammelt vorliegende Psalter Fridolin Stiers sich einer anderen Zielsetzung verdankt, so wäre ihm ein ähnlicher Erfolg zu wünschen. An Sprachfantasie und Musikalität steht der 1981 verstorbene Alttestamentler dem Schriftsteller in nichts nach, an Wortgenauigkeit und existentieller Unbedingtheit übertrifft er ihn.
Zu Gast bei sich selbst
Man sieht und hört es ihnen an, fast meint man es zu schmecken: Die Worte hier sind das Werk eines Sprachbesessenen. Das posthum veröffentlichte Tagebuch gewährte schon einen Einblick ins Innere dieser durch und durch dichterischen Daseinsform, die vom Wort sich erhoffte, hinter die Dinge zu gelangen und die doch stets an der widerspenstigen, misslingenden, allzu vieldeutigen Sprache, an den Wörtern als bloßen „Ordnungsmerkzeichen” hängenblieb. Der Psalter ist nun das nach außen und in die größtmögliche Eindeutigkeit gewendete Innere. So wie gemäß mystischer Lehre, an die Stier anknüpft, von Gott nicht gesprochen werden kann außer in Negationen und Paradoxien, kann auch vom Ich nicht gesprochen werden - es sei denn, es drückt sich in fremder Rede aus.
Während Stadler die Psalmen zuweilen der heutigen Umgangssprache annähert, betont Stier ihre Fremdheit. Statt „Brot und Wein” schreibt er „Korn und Most”, statt Kehle Schlund, statt Mensch Adamskind, und Gott heißt bei Stier nicht „der Herr”, sondern Jahwe. Stark ausgeprägt ist - vielleicht eine Folge der langjährigen Freundschaft mit Martin Buber - das Denken in Beziehungen. Direkt mit einem Du wird Gott angeredet, wo Stadler auf die dritte Person ausweicht. Am schönsten aber sind die Sprachschöpfungen. Bei Gott, lesen wir im fünften Psalm, „gastet kein Böser”, kein Mensch mit einem Mund, dessen „Inleib von Verheerendem voll” ist. Diese Menschen rühmen sich zu Unrecht ihrer rhetorischen Gewitztheit, wenn sie sagen: „Durch unsere Zungen übermächtigen wir.”
1934 wurde Fridolin Stier als ordentlicher Professor in Tübingen vorgeschlagen, ehe er jedoch eingeführt werden konnte, lösten die Nationalsozialisten den Lehrstuhl für Altes Testament auf und ersetzten es durch ein Ordinariat für Rassenkunde. 1946 konnte Stier endlich ernannt werden. Keine sechs Jahre später wurde er von seinen Aufgaben entbunden. Mittlerweile hatte er seine Tochter zu sich genommen, da deren Mutter schwer erkrankt war. Er wechselte zur philosophischen Fakultät und feilte weiter an seinen Übersetzungen. Nach Sibylles Tod dann „überfällt mich die Frage nach dem Sinn aus all den Sachen und dem Machen heraus, schlägt ihre Krallen in mich.” Er vergleicht sich mit dem Raben, den Noah nach der Sintflut fliegen ließ, bis das Wasser wieder vertrocknet war. Er selbst sei wie dieser Rabe „vom Flug über den bodenlosen Abgrund immer wieder zurückgekehrt in die Arche der Sprache. Der Rabe brauchte die Arche, um zu leben, aber die Gewalt und das Grausen der Flut hat er gesehen.” So schrieb der sprachmächtige Sprachskeptiker Fridolin Stier, der übermorgen hundert Jahre alt geworden wäre.
ALEXANDER KISSLER
ELEONORE BECK (Hrsg.): Mit Psalmen beten. Psalmenübersetzungen von Fridolin Stier. Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2001. 102 Seiten, 16,80 Euro.
Niemand konnte ihn trösten, der Blick ins Freie blieb verstellt: Auf dem 1860 entstandenen Holzschnitt des Malers Julius Schnorr von Carolsfeld trauern die Freunde mit Hiob.
Bild: SZ-Archiv
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nahezu euphorisch äußert sich Rezensent Alexander Kissler über diese Psalmenübertragungen. Er wünscht ihnen jeden Erfolg, lobt die "Sprachfantasie und Musikalität" des katholischen Priesters Fridolin Stier, der sich nach dem Tod seiner Tochter zunächst dem Buch Hiob und dann den Psalmen zugewandt hatte, und preist insbesondere die Wortschöpfungen von Stier. Beispielsweise "gastet kein Böser" bei Gott, zitiert der Rezensent begeistert den 1981 verstorbenen Übersetzer. Kissler findet es sehr angemessen, dass Stier, der versucht habe, die Psalmen heute nachvollziehbar zu machen, dabei nicht in Alltagssprache verfallen sei, sondern die Fremdheit des Textes betont habe.

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