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Der Tod Hatun Sürücüs und das Geständnis ihres Bruders Ayhan haben bundesweit eine Debatte über Parallelgesellschaften ausgelöst. Das Gewaltverbrechen wurde zum Sinnbild für misslungene Integration. Wie aber konnte es zu der Tat kommen? Und wie beurteilt der Mörder sie heute, sechs Jahre danach? Erstmals und exklusiv mit den ARD-Autoren spricht er ausführlich über die Hintergründe und Umstände des Mordes. Andere, die zu Zeugen des Geschehens wurden, schildern ihre Sicht der Dinge: die beste Freundin des Opfers, Hatuns großer Bruder, der polizeilich gesucht wird, die Kronzeugin im Prozess, die…mehr

Produktbeschreibung
Der Tod Hatun Sürücüs und das Geständnis ihres Bruders Ayhan haben bundesweit eine Debatte über Parallelgesellschaften ausgelöst. Das Gewaltverbrechen wurde zum Sinnbild für misslungene Integration. Wie aber konnte es zu der Tat kommen? Und wie beurteilt der Mörder sie heute, sechs Jahre danach? Erstmals und exklusiv mit den ARD-Autoren spricht er ausführlich über die Hintergründe und Umstände des Mordes. Andere, die zu Zeugen des Geschehens wurden, schildern ihre Sicht der Dinge: die beste Freundin des Opfers, Hatuns großer Bruder, der polizeilich gesucht wird, die Kronzeugin im Prozess, die seitdem mit neuer Identität im Zeugenschutz lebt... Ein Buch, das zu verstehen sucht.
Autorenporträt
Deiß, MatthiasMatthias Deiß, geboren 1978, berichtet als ARD-Korrespondent aus Berlin. Nach Studium und Volontariat an der Deutschen Journalistenschule in München arbeitete er zunächst als Parlamentskorrespondent für die Deutsche Welle, bevor er 2007 zum Rundfunk Berlin Brandenburg und zur ARD wechselte.

Goll, JoJo Goll, geboren 1966, ist Redakteur und Reporter für die ARD-Tagesschau, Autor für Kontraste und den rbb-Reporterpool. In den letzten Jahren hat er zahlreiche TV-Reportagen und -Dokumentationen verfasst, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Deiß und Goll haben für die ARD eine 45-minütige Fernsehdokumentation über den Fall Hatun Sürücü verfasst.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.08.2011

Die Ordnung der Familie
Aus der Parallelgesellschaft: Die Autoren Matthias Deiß und Jo Goll haben die Hintergründe des „Ehrenmords“ an Hatun Sürücü aufgearbeitet
Diese zwei Fotos haben die Integrationsdebatte in Deutschland geprägt. Das eine zeigt eine dunkelhaarige Frau im Blaumann, in der Hand eine Bohrmaschine. Die angehende Elektroinstallateurin Hatun Sürücü. Auf dem zweiten sieht man eine Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof. Auf dem Boden, bedeckt mit einem Tuch, die Leiche von Hatun Sürücü.
Zwischen diesen beiden Bildern liegt der Versuch einer jungen Türkin, zu arbeiten und ein Kind zu erziehen. Zu lieben, wen sie will, und zu glauben, was sie will. Es ist Hatun Sürücü nicht gelungen. Am 7. Februar 2005 schoss ihr Bruder Ayhan ihr dreimal in den Kopf. Sie wurde 23 Jahre alt. Das Verbrechen löste eine beispiellose Diskussion über die sogenannte Parallelgesellschaft aus. Es brachte Politiker dazu, die seltsamsten Sachen zu sagen. So forderte der Berliner Innensenator die gesamte Familie Sürücü auf, das Land zu verlassen, auch die minderjährigen Töchter und diejenigen, die einen deutschen Pass hatten. Als gebe es eine Sippenhaftung.
Und der Fall Sürücü brachte die deutsche Justiz an ihre Grenzen. Beim Prozess in Berlin waren drei Brüder angeklagt, gemeinsam sollen sie den Mord geplant haben. Es gab eindeutige SMS, und da war Ayhans Freundin, die nach der Tat mit den Brüdern in der U-Bahn saß. Die waren wie im Rausch, und einer sagte zu Ayhan: „Ich hab dir doch gesagt, schieß nur einmal auf den Kopf.“ Verurteilt wurde aber nur Ayhan, damals 18. Die anderen wurden im Zweifel freigesprochen und setzten sich in die Türkei ab. Inzwischen hat der Bundesgerichtshof die Freisprüche aufgehoben, der Prozess muss neu aufgerollt werden. Ob und wann, ist unklar. Die Türkei liefert ihre Staatsbürger nicht aus, und aus Deutschland ist der Druck nicht besonders groß, es dennoch zu tun. Der Mord an Hatun Sürücü ist noch immer nicht gesühnt.
Nun haben die Autoren Matthias Deiß und Jo Goll vom RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg) den Faden wieder aufgenommen. Sie lassen die politische Diskussion links liegen und recherchieren dort, wo es am ehesten Erklärungen gibt: am Ort der Tragödie, in der Familie. Sie haben den Weg der Sürücüs verfolgt, von den Dörfern Anatoliens, wo die Sürücüs Hirten waren, bis zum Kottbusser Tor, wo die Familie zu elft in einer Vier-Zimmer-Wohnung lebte. Sie haben mit Verwandten gesprochen, mit Behörden und Freundinnen von Hatun.
Und sie haben Ayhan Sürücü getroffen, der derzeit in Berlin seine Jugendstrafe absitzt. Ayhan kochte Tee für die Journalisten und redete. Von der Therapie und der Tischlerlehre im Gefängnis. Davon, dass er in Berlin nie einen deutschen Freund hatte. „Den ersten hab ich hier im Knast kennengelernt.“
Herausgekommen sind eine ARD-Dokumentation über einen jungen Mörder und das Buch „Ehrenmord – Ein deutsches Schicksal“. Anders als in dem knappen Film ist in dem Buch Platz für die Zwischentöne. Für die vielen kleinen Details und unglücklichen Verkettungen, die zu dem Verbrechen geführt haben. „Ehrenmord“ ist das so erschütternde wie erhellende Porträt einer Familie.
Da ist der strenggläubige und depressive Vater, der selten anwesend ist. Die Mutter, die neun Kinder großzieht und kaum Deutsch spricht. Die älteren Brüder Alpaslan und Mutlu. Der eine versucht sein Glück in der Gastronomie, der andere in der Religion. Tochter Hatun wird mit 16 aus dem Gymnasium genommen und in der Türkei mit einem Cousin verheiratet. Sie wird schwanger. Nach einem Jahr scheitert die Ehe, Hatun kehrt zu ihrer Familie zurück. Ayhan schließlich, der jüngste Bruder, ist mit seinen 16 Jahren für die Familie verantwortlich. Er wacht über die Schwestern, vertritt Vater und Mutter bei Elternabenden.
Behutsam zeichnen die Autoren die Dynamik dieser Familie nach. Wie alle versuchen, ihren Weg zu finden und dabei scheitern. Der Vater rackert sich in einer Großbäckerei ab, fasst in Deutschland aber nie Fuß. Mutlu will die Werte seines Vaters übernehmen, wird zum Islamisten, der auch in der Türkei im Abseits steht. Die Autoren haben ihn in Istanbul getroffen, mit langem Vollbart, über die Scharia schwadronierend. Hatun wiederum will es in Deutschland schaffen, in einem Männerberuf und als Alleinerziehende, und sie bricht mit allem, was der Familie heilig ist.
Bis heute ist unklar, warum Hatun erschossen wurde. Ob die Familie dahinter steckte oder gar ein radikaler Imam eingeweiht war. Fest steht, dass die junge Frau ständig Thema war. Ob am Familientisch oder auf dem Hof des Sozialbaus – immer ging es um Hatun. Die unverheiratet und unverschleiert war, Beziehungen zu deutschen Männern hatte. Irgendwann hat Ayhan in seiner Überforderung und Selbstüberschätzung wohl geglaubt, auch dieses Problem lösen zu müssen. Er besorgte eine Pistole und Munition. Am 7. Februar 2005 besuchte er Hatun, überredete sie, ihn zur Bushaltestelle zu begleiten. Sie ging mit, ihr Sohn blieb allein in der Wohnung. Er lebt heute in einer Pflegefamilie.
Goll und Deiß enthalten sich in ihrem Buch jeder Wertung. Auch den heiklen Begriff „Ehrenmord“ diskutieren sie nur kurz. Sie beschreiben lieber die einzelnen Personen in ihrer Ambivalenz: Die Verwandten aus Ostanatolien, die um einiges fortschrittlicher denken als die Sürücüs in Kreuzberg. Hatuns Schwestern, die zwischen ihrer Liebe zu Hatun und der Loyalität der Familie gegenüber aufgerieben werden. Die kleine Tochter, die auf Mutlus Schoß sitzt, während er über die Steinigung ehrloser Frauen spricht. Familientragödien, so zeigt sich einmal mehr, sind vielschichtig.
Grundsätzlich muss sich das Projekt die Frage gefallen lassen, ob man einem Mörder eine solche Plattform bieten darf. Ob es zur Resozialisierung beiträgt, wenn sich ein junger Mann, der aus Selbstüberschätzung getötet hat, nun zur Knastprominenz zählen darf. Nicht umsonst untersagen die meisten Gefängnisse solche Interviews, wie sie diesem Buch zugrundeliegen. Andererseits verdanken sich der Täterperspektive wesentliche Erkenntnisse. Über das diffuse Ehrverständnis etwa, das durch die Familie Sürücü geisterte. „Hinter dem Begriff Ehre stand immer in Klammern gesetzt ‚meine Mutter‘, ‚meine Schwester‘ oder ‚meine Frau‘, was auch immer.“
Goll und Deiß haben so interessante Gesprächspartner aufgetan wie Melek A., Ayhans frühere Freundin. Das Mädchen aus einer liberalen türkischen Familie gerät unter den Einfluss einer Sürücü-Schwester, die aus ihr eine strenge Muslima machen will. Melek A. beginnt, das Kopftuch zu tragen, will einem Islamverein beitreten. Noch am Tag nach der Tat wollen die Sürücüs sie mit Ayhan verheiraten, damit sie nicht gegen ihn aussagt. Sie tut es trotzdem. Seither muss sie um ihr Leben fürchten, sie ist mit ihrer Mutter untergetaucht.
Zu Wort kommt auch ein kurdischstämmiger Abgeordneter der Linkspartei, der eine gespenstische Vermittlerrolle spielt. Er wird in Familien gerufen, wenn ein Ehrenmord bevorsteht. Dann sitzt er mit Männern zusammen, die im deutschen Exil die mittelalterlichen Werte konserviert haben, über die man in den Herkunftsländern längst hinweg ist. Der Politiker sagt, dass sich oft eine friedliche Lösung finden lasse. Die Männer und Brüder lassen ihre Töchter oder Schwestern in Ruhe, die sich wiederum im Gegenzug von der Familie fernhalten. Der Abgeordnete glaubt, ein Teil der Tragödie sei Hatuns Wunsch gewesen, von den Sürücüs so angenommen zu werden, wie sie war.
Unterstützt wurde Hatun Sürücü bis zuletzt von den deutschen Behörden. Aus hunderten Aktenseiten lässt sich rekonstruieren, wie sehr dem Staat daran gelegen war, Hatun das Leben zu ermöglichen, das sie führen wollte. Es gab eine Sozialarbeiterin, Hausbesuche, Hilfekonferenzen. Ein Mutter-Kind-Heim und ein Ausbildungsplatz wurden vermittelt, Therapien bezahlt, Mietschulden gestundet. Doch gegen die Liebe, die Hatun Sürücü immer wieder zu ihrer Familie zurückzog und damit in den Dunstkreis ihres Bruders, konnte der Staat nichts ausrichten. VERENA MAYER
MATTHIAS DEISS, JO GOLL: Ehrenmord. Ein deutsches Schicksal. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 256 Seiten, 18,99 Euro.
Den ersten deutschen Freund
lernte Ayhan Sürücü, der Bruder
und Täter, im Knast kennen
Der Staat unternahm viel, um
der jungen Türkin das Leben zu
ermöglichen, das sie führen wollte
Trauerschreiben an der Bushaltestelle Oberlandgarten in Berlin-Tempelhof. An dieser Stelle war Hatun Sürücü mit drei Schüssen in den Kopf getötet worden. Foto: Andreas Altwein/dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Man merkt, dass Verena Mayer dies Buch von Matthias Deiss und Jo Goll über den Ehrenmord an Hatun Sürücü von 2005 nicht unberührt gelassen hat. Die Journalisten des RBB gehen dem damals Politik, Justiz und Öffentlichkeit aufrüttelnden Fall in einem Film und, noch genauer und differenzierter, in diesem Buch nach und haben dafür mit Freunden, Verwandten, dem als Täter verurteilten Bruder und anderen involvierten Personen gesprochen, teilt die Rezensentin mit. Für sie entfaltet sich hier die Tragödie einer Familie in ihrer ganzen Komplexität, was sie den Autoren hoch anrechnet. Ob man dem Bruder, den Deiss und Goll im Gefängnis interviewt haben, eine derartige "Plattform" bieten darf, findet Mayer zumindest zweifelhaft. Trotzdem muss sie zugeben, dass durch die Täterperspektive Wesentliches zur Erhellung der schrecklichen Tat beigesteuert wird. Sie findet hier das Schicksal der Familie und das ihres Opfers Hatun auf jeden Fall sehr einfühlsam und differenziert nachgezeichnet.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Buch und Film sind mehr als ein Familienporträt. Sie zeigen den Lebensweg von Täter und Opfer, die Tat, den Prozess, die anschließende Debatte und wie die Familie heute lebt. Zusätzlich liefern sie gründlich recherchiertes Hintergrundwissen zur Integrationsdebatte, gut lesbar verpackt zwischen Szenen und Zitaten.« Badische Zeitung, 29.07.2011