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Eine junge Frau beschuldigt Vater und Onkel, sie vergewaltigt zu haben. Ein Landgericht schickt die Männer für viele Jahre ins Gefängnis - zu Unrecht, wie sich jetzt herausgestellt hat. Ein haarsträubendes Lehrstück über Richter, die im blinden Glauben an die Behauptungen eines "Opfers" die Fakten verkennen. Sabine Rückert erzählt eine unglaubliche und doch wahre Geschichte: die des ersten Justizirrtums in Deutschland, der aufgrund journalistischer Nachforschungen aufgedeckt wurde. In den Jahren 2001/2002 recherchiert die Gerichtsreporterin der Zeit die Fälle nach und erkennt: Die Frau lügt.…mehr

Produktbeschreibung
Eine junge Frau beschuldigt Vater und Onkel, sie vergewaltigt zu haben. Ein Landgericht schickt die Männer für viele Jahre ins Gefängnis - zu Unrecht, wie sich jetzt herausgestellt hat. Ein haarsträubendes Lehrstück über Richter, die im blinden Glauben an die Behauptungen eines "Opfers" die Fakten verkennen. Sabine Rückert erzählt eine unglaubliche und doch wahre Geschichte: die des ersten Justizirrtums in Deutschland, der aufgrund journalistischer Nachforschungen aufgedeckt wurde. In den Jahren 2001/2002 recherchiert die Gerichtsreporterin der Zeit die Fälle nach und erkennt: Die Frau lügt. Ein Rechtsanwalt nimmt sich der unschuldig Verurteilten an und erwirkt nach langem Kampf gegen die Strafjustiz den Freispruch - da haben die beiden Männer ihre Haftstrafen schon abgesessen und stehen vor dem Ruin. Nun will der Anwalt die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Ein Einzelfall? Wohl eher ein ganz normaler Justizirrtum.
Autorenporträt
Sabine Rückert studierte Zeitungswissenschaften, Theologie und Werbepsychologie. Nach ihrer Ausbildung zur Journalistin - u. a. bei der BILD-Zeitung - wurde sie 1991 Nachrichtenredakteurin bei der tageszeitung. Seit 1992 arbeitet sie als Reporterin und Redakteurin im Dossier der ZEIT.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2007

Das Böse des guten Willens
Sabine Rückert analysiert einen extremen Justizirrtum
Jeder Justizirrtum wirft die Rechtsprechung auf peinliche Weise auf ihre Ausgangsfrage zurück: Wie sicher kann sie sich sein, ihre Urteile von Vorurteilen abzugrenzen? Allein diese Abgrenzung begründet ihre Legitimität. Trotzdem weiß sie, dass eine saubere Grenzziehung selbst im Idealfall nicht möglich ist. Die Zeiten des naiven Wahns, ein Richter könne Urteile ohne subjektive Zugaben fällen, indem er das Gesetz durch eine rein logisch-begriffliche Operation auf einen Lebenssachverhalt „anwendet”, sind lange vorbei. Nicht, weil man inzwischen weiß, dass Juristen auch Menschen sind und ihnen menschliche Fehler und Irrtümer so wenig fremd sind wie allen anderen auch. Vielmehr, weil es eine Kongruenz von Gesetz und Realität im strengen Sinn nicht geben und weil keine Rechtsfindung ohne hermeneutisches Vorwissen und Vorbildung gelingen kann. Doch wo hört Vorwissen auf und fängt Vorurteil an?
Wie viel juristische Urteilskraft, aber auch wie viel menschliches Vorwissen braucht man etwa, um den Vorwurf gegen einen Mann, er habe eine Minderjährige vergewaltigt, zweifelsfrei zu klären? Wenn feststeht, dass das Opfer die einzige Zeugin ist? Natürlich führt dieses Beispiel weit über die Normalität der Strafjustiz hinaus auf eines ihrer heikelsten Felder, in dem Begriffe wie „Vorwissen” und „Vorurteil” fast schon Euphemismen sind angesichts der Unzahl von psychischen, mentalen und ideologischen Tretminen, die vor allem der Geschlechterkonflikt auf diesem Terrain hinterlässt. Wo, wenn nicht hier, bei der Ausnutzung kindlich-weiblicher Wehrlosigkeit durch maskuline Gewalt, fände er seinen brisantesten Streitstoff?
Sabine Rückert hat einen Fall aufgegriffen, der die typische Dramatik dieses Zündstoffs enthält, und schildert ihn in all seinen traurigen, aufklärenden, empörenden und unglaublichen Dimensionen. Der Fall ist in der Tat so unglaublich, dass es schon wieder tröstlich ist – so übel versagt die Justiz dann doch selten. Das Gefährlichste, worauf Richter hereinfallen können, sind sie selbst: Das zeigt dieser Fall, in dem das Gericht nicht aus purer Indifferenz oder gar mit gezielter Bösartigkeit zwei Unschuldige ins Gefängnis geworfen und deren Familie, Ehre und Gesundheit zerstört haben, sondern weil es dem eigenen guten Willen auf den Leim gegangen ist.
Da gerade der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern nur unter Aufbietung aller Skrupel zu klären ist, verkommt die Vorherrschaft des guten Willens zur juristischen Willkür. Die gute Absicht schaltet den Verstand aus; Richter tun das Schlimmste als Richter, wenn sie als Helfer das Beste wollen.
Im Herbst des Jahres 1995 zeigt eine achtzehnjährige Frau ihren Vater wegen zehnfacher Vergewaltigung an. Zum ersten Mal sei sie als Zwölfjährige von ihm missbraucht worden. Kurz danach erweitert sie den Vorwurf und bezichtigt ihren Onkel, den Bruder ihres Vaters, sie ebenfalls mehrfach vergewaltigt zu haben. Jeder behauptete sexuelle Übergriff wird detailreich substantiiert und genau datiert. Vor einer Strafkammer des Landgerichts Osnabrück werden die Anklagen verhandelt und mit Freiheitsstrafen von sieben Jahren für den Vater und viereinhalb Jahren für den Onkel abgeschlossen. Der Bundesgerichtshof verwirft die Revisionen, die Urteile werden rechtskräftig, beide Brüder sitzen ihre Strafe als Kinderschänder ab.
Tatsächlich hat sich keiner der beiden, wie sich hinterher herausstellt, auch nur einer einzigen der behaupteten Untaten schuldig gemacht. Die präzise Rekonstruktion dieser Wahrheit, die das Buch ausbreitet, fördert eine Verkettung von Familientragik und Rachsucht, grober Fahrlässigkeit und unerhörter Verblendung zu Tage, die es auch für abgebrühte Geister in sich hat. Im Zentrum der Geschichte steht das Mädchen und, trotz aller Lügen, dessen erschütternde Leidensgeschichte, für die vor allem der Vater verantwortlich ist. Seine Rolle als Tyrann der Familie, als cholerischer Gewalthaber über das leibliche und seelische Wohl seiner Kinder war offensichtlich verheerend. Er schlug sie, er demütigte sie so roh und regelmäßig, dass er sich über die psychischen Verwüstungen, aber auch den rasenden Hass seiner Tochter am wenigsten wundern durfte.
Nichtsdestoweniger war die Bezichtigung des Missbrauchs frei erfunden. Sie war das böse Revanchefoul. Es brachte aber nicht ihr, sondern ihm die rote Karte der Strafjustiz ein. Dass diese Verkehrung möglich war, ist nachvollziehbar und grotesk zugleich. Nachvollziehbar, wenn man sich die neunziger Jahre in Erinnerung ruft, in denen sich eine neue Sensibilität entfaltete gegenüber sexuellen Übergriffen auf Kinder gerade durch nächste Verwandte – es war aber auch dieselbe Zeit, in der diese Fürsorge häufig kippte in hysterischen Argwohn und Verfolgungseifer.
Grotesk aber ist diese Verkehrung dennoch, weil der Hilfereflex gegenüber dem unbezweifelbar geschundenen und zu allem Elend offenbar auch vergewaltigten Mädchen selbst die grellsten Widersprüche negierte. Das Mädchen war bis zur Strafanzeige im medizinischen Sinn eindeutig Jungfrau – was bei der Serie der behaupteten Vergewaltigungen, vor allem im Alter von Zwölf, „absolut unmöglich ist”, wie es nachher ein Gutachter, als alles zu spät war, bestätigen sollte. Es war nicht nur unmöglich, es war absurd, zumal das Mädchen den Vater zusätzlich beschuldigt hatte, an ihr einen brutalen Abtreibungsversuch mit dem Kleiderbügel verübt zu haben.
Dem Gericht war die Jungfernschaft ebenso bekannt wie den Psychiatern und Ärzten, die das von einem Suizidversuch in den nächsten taumelnde Mädchen betreuten. Trotzdem rieten sie zur Strafanzeige, trotzdem hielt das Gericht alle Beschuldigungen für erwiesen – man hatte nun einmal das Böse in Gestalt der beiden Brüder dingfest gemacht. Dass das Mädchen an einer Borderline-Erkrankung litt, war ebenfalls bekannt, es wurde verdrängt. Allein diese Krankheit, für die das Vermischen von Realität und Fiktion nicht untypisch ist, musste an der Glaubwürdigkeit des Mädchens zweifeln lassen, doch alle Beteiligten hatten sich stillschweigend zu einer Allianz gegen jeden Zweifel zusammengeschlossen.
Zwischendurch hatte das Mädchen gegenüber dem Klinikpersonal sogar schriftlich eingestanden, dass zumindest ihre Beschuldigung des Onkels erfunden war. Auch das nützte dem Onkel nichts, ebenso wenig wie das Alibi, das er für eine der behaupteten Vergewaltigungen besaß – eine aberwitzige Blindheit, die plötzlich den Wahn der Hexenverfolgungen nacherlebbar macht.
Aus der Rache des Mädchens wurde eine Hilfe- und Genugtuungsorgie der Gutmeinenden. Ohne Zweifel schwappt der Vergeltungseifer auch deshalb so ungezügelt über einen Fall wie diesen, weil man hinter jeder entlarvten Tat eine erhebliche Dunkelziffer von unentdecktem Kindsmissbrauch vermutet. An dem einen erfassten Täter will man psychisch die vielen unerkannten mit abstrafen.
Aber da ist auch die andere Dunkelziffer, die Zahl der zu Unrecht Verurteilten. Diese Ziffer ist wahrscheinlich viel kleiner als die erstere, aber sie fügt der Aufklärung der ersteren maßlosen Schaden zu, weil sie die Verfolgung des sexuellen Missbrauchs nachhaltig diskreditiert. Sabine Rückerts sorgfältig recherchiertes Buch hingegen tut das Ihre, um den Schaden zu begrenzen – eine Anleitung zur juristischen Selbstdisziplin. ANDREAS ZIELCKE
Sabine Rückert
Unrecht im Namen des Volkes
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007. 288 Seiten, 19,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2007

Kollateralschäden der neuen Aufmerksamkeit
Kindesmissbrauch zwischen Verharmlosung und Wahn: Sabine Rückert rollt einen Justizirrtum auf

Der "Justizirrtum", bei dem Unschuldige unter die Räder kommen, ist vermeintlich selten. Normalerweise zermahlen die Mühlen der Strafjustiz ihren düsteren Lebensstoff zu Entscheidungen, die das Publikum und vielleicht auch oft die Betroffenen als mehr oder weniger gerecht akzeptieren. Geldstrafen werden bezahlt, Freiheitsstrafen werden abgesessen. Den spektakulären Justizirrtum halten wir eher für den Stoff, aus dem Kriminalromane oder Heldengeschichten für Privatdetektive gemacht werden. Die armen Opfer sitzen verzweifelt in ihren Zellen, ihre Familien leiden, die Kämpfer für Gerechtigkeit ahnen, dass da "etwas nicht stimmen konnte", lassen nicht locker, bis am Ende der Fall noch einmal aufgerollt wird und triumphal endet. Das klingt sehr nach Literatur. Doch waren auch Voltaires "Jean Calas" und Zolas "Alfred Dreyfus" Menschen aus dem wirklichen Leben.

Im wohleingerichteten Rechtsstaat, dessen sich Deutschland rühmen kann, dürften Justizirrtümer eigentlich sehr selten vorkommen. Für diese seltenen Fälle hält die Strafprozessordnung das Verfahren der Wiederaufnahme bereit. Dort gibt es hohe Hürden, um eine allzu häufige Wiederaufarbeitung abgeschlossener Prozesse zu verhindern. Man muss schwere, auf das Ergebnis durchschlagende Verfahrensfehler, neue, bislang übersehene oder nicht gewürdigte Tatsachen oder Beweismittel vorbringen. Denn für die Masse der - wenn auch mit Fehlern behafteten - Entscheidungen soll gelten: Mit dem letztinstanzlichen Urteil ist das Ende erreicht, auch wenn danach häufig noch das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als gottähnliche Instanzen angerufen werden.

Die Wahrscheinlichkeit, einmal Opfer eines Justizirrtums zu werden, meinte der Mathematiker, Aufklärer und Liberale Condorcet (1743 bis 1794), bestehe in einer "gerechten Gesellschaft" nur für sieben von 100 000 Bürgern. Aber es gibt offenbar Delikte, bei denen das Risiko, in einen Strudel von Verdächtigungen zu geraten, aus dem ein Entkommen kaum möglich scheint, erheblich größer ist.

Nur die Ärzte wunderten sich

Dazu zählen Kindesmissbrauch und Vergewaltigung. Fast immer sind sie schwer beweisbar, sind versteckt unter einer zähen Schicht von gesellschaftlichen Tabus, Scham und Verdrängungen. Zeugenaussagen, notorisch unzuverlässig, werden in diesem Halbdunkel noch weniger brauchbar. Die Medien nutzen den Stoff bereitwillig und dienen als Resonanzboden. Nachrichten über neue Fälle lösen Emotionalität, Angst und hektische Aktivitäten aus. Im Hintergrund floriert die Pornoindustrie und füttert eine unbekannt große Gemeinde mit "Anregungen". Die aus Sozialarbeit, Medizin, Psychologie und Psychoanalyse gewonnenen Erfahrungen legen uns allen nahe, Angaben von Kindern oder potentiellen erwachsenen Opfern erst einmal für wahr zu halten. Die deutsche Gesellschaft wurde in den letzten zwanzig Jahren nachhaltig und mit Recht ermahnt, auf psychische und physische Symptome zu achten und jeden Fall zu melden. Aber auch die Schattenseiten dieser neuen Aufmerksamkeit traten ans Licht. Sabine Rückert erinnert an einen Fall von kollektiver Hysterie in Nordhorn aus den Jahren 1991 bis 1994, bei dem ein Unbescholtener erbarmungslos durch die Mühle der Ermittlungen und öffentlichen Verdächtigungen gedreht wurde, bis schließlich seine Unschuld ans Licht kam. Das Gleiche ereignete sich 1994 bis 1997 bei den "Wormser Prozessen", an deren Ende dann 24 Angeklagte freigesprochen wurden. Das sind sozusagen die Kollateralschäden der neuen Aufmerksamkeit.

Jenes Gericht, das mit dem Fall von Nordhorn befasst war, hatte bald darauf eine neue Anklage zu entscheiden. Eine psychisch labile Jugendliche, die ihren autoritären und gelegentlich gewalttätigen Vater hasste und ihn auf irgendeine Weise aus der Familie entfernen wollte, verfiel auf die Idee, ihn und andere des "Missbrauchs" zu beschuldigen, und siehe da, es funktionierte. 1995 wurde ihr Vater zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Immer neue Vergewaltigungen fielen ihr ein, sie bezichtigte auch ihren Onkel, dem niemand Derartiges zutraute, und sie selbst glitt mit Alkohol- und Tablettenmissbrauch, Selbstverletzungen und Selbstmordversuchen von einer fürsorglichen Institution zur anderen.

Alle glaubten ihr, das Personal der diversen Psychiatrien, Polizei, Staatsanwaltschaft, Glaubwürdigkeitspsychologen und schließlich auch die Richter, obwohl im Rückblick das Lügengewebe so dünn und leicht zerreißbar erscheint. Nur die Ärzte wunderten sich; denn das Mädchen war - trotz behaupteter dutzendfacher Vergewaltigungen und eines angeblichen Abtreibungsversuchs mit einem Kleiderbügel - medizinisch immer noch Jungfrau. Aber niemand von denen, die das Verfahren in der Hand hatten, hörte wirklich zu. Auch ihr Onkel kam 1996 für vier Jahre und sechs Monate hinter Gitter.

Sabine Rückert, als Journalistin an diesen Vorgängen professionell interessiert, recherchierte unermüdlich, veröffentlichte ein Dossier in der "Zeit", ertrug erhebliche Angriffe, suchte einen zugleich tüchtigen und idealistischen Verteidiger, und beiden gelang schließlich das Unwahrscheinliche: 2005 und 2006 wurden beide Männer freigesprochen. Das Triumphgefühl, das sie in diesem das Ganze zusammenfassenden Buch ausdrückt, ist der Autorin zu gönnen. Sie hat demonstrieren können, wie strukturelle Blindheit entsteht, wie sich ganze Gruppen von Beteiligten gegen das innere Signal "das kann so nicht stimmen" abdichten und professionelle Regeln der Spurensicherung, der Begutachtung, der Pflicht zur Sammlung von entlastenden Umständen, schlicht missachten. Leider hat sie am Ende auch noch erfahren müssen, wie hochfahrend und aggressiv sich die Justiz selbst verteidigte, bevor sie endlich einlenkte und zu ihrem Regelwerk zurückfand. Insofern muss man eine gewisse Einseitigkeit der Perspektive und einen bisweilen polemischen Ton gegen die hier festgestellte "wahnhafte Fixierung" von Personen und Institutionen akzeptieren.

Kollektive Verdächtigungen

So eindringlich die Botschaft dieses Buches ist, so beklemmend die Parallelen zu den frühneuzeitlichen Hexenprozessen mit ihren sich immer weiter fressenden Fremd- und Selbstbezichtigungen, mit ihrer Hysterie und ihren kollektiven Verdächtigungen auch sein mögen, so hochgradig gewiss ist andererseits, dass es bei Kindesmissbrauch und Vergewaltigungen eine Dunkelziffer gibt und dass die im Internet um sich greifende Kinderpornographie verstärkende Wirkungen hat. Auch im kritischen Rückblick sind tatsächlich Plausibilitäten erkennbar, die Symptome des Mädchens so zu deuten wie geschehen. Ohne Aufmerksamkeit in diese Richtung würden viele Fälle derartiger Verletzungen der Menschenwürde mit Langzeitfolgen unentdeckt bleiben.

Also was tun, um Justizirrtümer so weit wie nur irgend möglich zu vermeiden? Der Rechtsstaat bleibt eine zerbrechliche Konstruktion. Seine Regeln müssen ständig eingeübt werden, um als Dämme gegen leidenschaftliche Gefühle und Vorurteile zu wirken. Das betrifft die Ausbildung der Polizei, der Staatsanwälte und Richter, unter denen besonders die letzteren vor allzu großem Vertrauen in die Sachverständigen gewarnt werden müssen. Die Sachverständigen müssen akzeptieren, dass sie nicht als Hilfspolizei "ermitteln" dürfen und zwischen ihrer Privatmeinung und dem ermittelten Befund sorgfältig zu trennen haben. Misstrauen schließlich ist besonders notwendig gegenüber den mit dem fertigen Ergebnis im Kopf agierenden Laien - das zeigt das Buch eindeutig.

Aber man möchte Frau Rückert zugleich entgegensetzen, was in ihrer Argumentation etwas zu kurz kommt: Auch solche, die alles für "übertrieben" halten oder gar eine feministische Hexenjagd auf Männer imaginieren, sind schreckliche Vereinfacher und ihrerseits mit Blindheit geschlagen. Für eine Verharmlosung sind die Befunde der Praxis zu ernst. Zwischen Verdrängung auf der einen und reflexartiger Anschuldigung auf der anderen Seite führt der enge und schlecht beleuchtete Pfad der Gerechtigkeit.

MICHAEL STOLLEIS

Sabine Rückert: "Unrecht im Namen des Volkes". Ein Justizirrtum und seine Folgen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007. 288 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein zwiespältiges Gefühl hat Sabine Rückerts Buch über einen Justizirrtum bei Michael Stolleis hinterlassen. Der von der Journalistin geschilderte Fall zweier zu Unrecht wegen sexuellen Missbrauchs verurteilter Männer verdeutlicht für ihn die besonderen Schwierigkeiten der Justiz im Umgang mit Kindesmissbrauch und Vergewaltigung. Er bescheinigt der Autorin, eindringlich zu zeigen, wie in einem aufgeheiztem Klima der Hysterie strukturelle Blindheit entsteht und Regeln der Spurensicherung, der Begutachtung und der Pflicht zur Sammlung von entlastenden Umständen missachtet werden. Stolleis sieht hierbei durchaus Parallelen zu den Hexenprozessen mit ihren Fremd- und Selbstbezichtigungen, mit ihrer Hysterie und ihren kollektiven Verdächtigungen. Auch äußert er Verständnis für eine "gewisse Einseitigkeit der Perspektive" und den "bisweilen polemischen Ton" bei Rückert. Allerdings unterstreicht er die hohe Dunkelziffer bei Kindesmissbrauch und Vergewaltigungen und hebt hervor, dass ohne Aufmerksamkeit in diese Richtung viele Fälle unentdeckt bleiben würden.

© Perlentaucher Medien GmbH