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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000

Keine Liebschaft – eine Séance
Witold Horwaths Roman über die Liebe, über die 70er Jahre und über das Erzählen
Ein Merkmal der neuen polnischen Literatur ist der Rückzug ins Private. Diese Abwendung von politischen Themen hin zu privaten trifft vor allem für die jüngere Generation polnischer Schriftsteller zu, für jene, die nach dem Zusammenbruch des Sozialismus die literarische Bühne betraten.
Wie sehr dieses Privatleben dennoch in einem politischen und gesellschaftlichen Kontext verhaftet bleibt, zeigt der Roman Séance von Witold Horwath. Séance ist ein Buch über die Liebe, über die Unmöglichkeit einer Liebe und über die Unmöglichkeit, eine Liebe zu beenden. Als Liebesroman wird das Buch vom Verlag angepriesen. Séance ist aber auch eine Art Sittengemälde, eine Darstellung des Lebens der heute Vierzigjährigen in den 70er und 80er Jahren in Warschau. Einmal wird Witek, der Protagonist des Romans, von seiner Mutter gefragt, was er am liebsten in seinem Leben machen möchte. „Mit Milena Wodka trinken”, antwortet er – was seiner Mutter gar nicht gefällt. Dieser kurze Satz ist symptomatisch, denn er fasst die 70er Jahre und Witeks Liebe zu Milena bündig zusammen. Die 70er Jahre sind für Witek der Dreh- und Angelpunkt seines Lebens, eine Zeit, an die er nur mit großer Nostalgie denken kann: „Damals schrieb ich auch einen Brief an Gierek (nie abgeschickt, natürlich), in dem ich ihn bat, die Macht wieder zu übernehmen und die siebziger Jahre wieder einzuführen, die Zeit der langen Haare, der Schlaghosen, der Samstagspartys mit Black Sabbath, Uriah Heep, Led Zeppelin und algerischem Gellala-Wein. ,Lieber Herr Gierek‘, sprach ich ihn vertraulich an, ,die Epoche, die mit ihrem Namen verbunden ist, war meine Epoche, eine vergleichbare werde ich nicht mal erleben. ‘” Witek übt keine Abrechnung mit dem System, sondern, im Gegenteil, der Sozialismus in der Zeit des Kalten Krieges erscheint ihm als verlorenes Paradies.
Alles beginnt 1975. Witek ist sechzehn, als er Milena kennenlernt, sie besuchen dieselbe Klasse des Gymnasiums. Es beginnt das, was Witek in der Folge als Séance bezeichnen wird: keine Liebschaft, keine Bekanntschaft, sondern eine Séance, bei der Witek versucht, „die Seele einer Lebenden heraufzubeschwören”. Denn Milena, die Lebende, hat ihre Seele gut unter Verschluss, hinter viel Make-up und billiger, fast nuttiger Kleidung, hinter Lügengeschichten, hinter Unmengen von Alkohol. Es dauert nicht lange, und Witek gibt die Schule auf, um bei Milena zu sein. Milenas Wohnung in der Batory-Straße verwandelt sich in eine Art Schiff, das ziel-, raum- und zeitlos umherirrt, getränkt von Alkohol, Sex und Musik. Witek und Milena gehören einer verlorenen Generation an, die mit der rigiden Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Systems nichts anfangen kann und als Ausweg den Ausstieg wählt.
Jahreszahlen, die politische Ereignisse in Polen markieren, sind wie Wegzeichen in den Roman integriert. In diesen Daten kreuzen sich das öffentliche und das private Leben. Ende 1979: An dem Tag, an dem die Sowjets in Afghanistan einmarschieren, lernt Milenas Cousine ihren zukünftigen Mann kennen. Das ist wichtig für Witek, denn alle Menschen aus Milenas Umkreis sind Teil der Séance. November 1981: Es ist die Zeit der Studentenstreiks, Witek trennt sich von seiner ersten Frau. April 1989: „Im Radio spricht Lech Walesa”, und Witek bekommt Besuch von einem ehemaligen Schulfreund, dem er von seiner Séance mit Milena erzählt. Aus dieser Erzählung entsteht das Buch Séance. 10. Dezember 1990: Es ist der Tag nach der Wahl Walesas, Milena ruft Witek an.
Die historischen Ereignisse bilden aber nur den Hintergrund für Witeks privates Leben. Was für ihn zählt, ist allein das Private. So ist die Zeit des Kriegsrechts weniger ein politisches als ein privates Faktum, das Witek ermöglicht, seine glücklose Leidenschaft für Milena zu maskieren: „Das Kriegsrecht hatte einen Vorteil: Wenn ich Bekannte traf, die mich fragten, wie es mir ging, brauchte ich nur düster mit den Schultern zu zucken, das reichte als Antwort. Jeder Pole verstand diese Geste. ”
Milena heiratet einen anderen, verlässt Polen, kehrt zurück und reißt Witek jedesmal, wenn sie bei ihm auftaucht, aus dem ,normalen’ Dasein, das er zu leben versucht. So ganz gelingt Witek dieses normale Leben ohnehin nicht, denn ihn beherrscht, neben Milena, noch eine zweite Leidenschaft, das Erinnern. Der ganze Roman scheint in Gang gesetzt von dem Wahn, sich erinnern zu müssen, ja kein Wort, keine Geste Milenas zu vergessen. Und sobald der Erzähler über die Entstehung seines Buches reflektiert, rückt Milena in den Hintergrund, sie wird zu einem Impuls, der das Schreiben in Gang gesetzt hat: „Es ist nämlich nicht so, daß ich den Text abschließen und ihm eine bestimmte Form verleihen wollte. Aber nein, Séance ist einzig und allein ein Entstehungsprozeß, so wie die wirklichen Tage, Nächte und Situationen in meiner Séance Milena hervorbrachten, mein Geschreibsel verlängert diesen Prozeß ins Leere, es ist Ersatz. ” So wird das Erzählen, der Roman selbst zum Thema des Romans. Witeks Séance erweckt nicht nur eine Frau zum Leben, sondern auch einen Text, und damit schreibt Horwath die Verbindung zwischen der ,Frau‘ und dem Erzählen weiter, die in der Figur der Scheherezade ihren Ursprung hat. Séance ist ein Roman über eine Frau, über eine Epoche, und es ist auch ein Roman über einen Roman, sozusagen ein Roman-Roman. Viel mehr also als eine Liebesgeschichte.
SCHAMMA SCHAHADAT
WITOLD HORWATH: Séance. Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky und Olaf Kühl. Hoffmann und Campe, Hamburg 2000. 352 Seiten, 44,90 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Der 1957 geborene polnische Schriftsteller Witold Horwath räumt mit manchem im Westen über den Ostblock verbreiteten Vorurteil auf. Auch dort hörten die Teenager der siebziger Jahre Black Sabbath und Led Zeppelin, hatten Schlaghosen und lange Haare und lasen die Beat-Poets und die Existentialisten, berichtet Friedmar Apel über das in "Seance" geschilderte Lebensgefühl junger Polen. Aber darum geht´s nicht, jedenfalls nicht vordergründig. Sondern um das nach Apel leider etwas langatmig ausgefallene Scheitern des Protagonisten beim Vorhaben, das Seelenleben seiner Angebeteten zu erkunden. Die hohe Kunst des Romanschreibens beherrscht der Autor nicht, denkt der Rezensent. Trotzdem hält er Horwarths Werk, "flüssig und kenntnisreich" von Esther Kinsky übersetzt, für ausgesprochen lesenswert. Die Erzähltechnik des Autors erinnert Apel an Albert Camus. Seine autobiografisch angehauchte Geschichte habe die Züge einer existentialistischen Education sentimentale vor dem distanziert und differenziert gezeichneten Hintergrund der Geschichte Polens vor der Öffnung.

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