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Als der Stein die Windschutzscheibe durchschlägt, ist seine Mutter sofort tot. Kai, 11, überlebt und beschließt im Zustand des Schocks, der sich als eine Art geraffter Reifeprozess äußert, sich ab jetzt von nichts und niemandem mehr abhängig zu machen. Er flieht vor den überforderten Ersthelfern und läuft verletzt durch das angrenzende Waldgebiet, bis er auf eine Ziege trifft und wenig später auf einen abgehalfterten Zirkusclan. Und auf Samantha, die zu der Gruppe von Jugendlichen gehört, die 24 Stunden zuvor den Stein von der Autobahnbrücke geworfen haben. Cecile, 17, Kokainproblem und…mehr

Produktbeschreibung
Als der Stein die Windschutzscheibe durchschlägt, ist seine Mutter sofort tot. Kai, 11, überlebt und beschließt im Zustand des Schocks, der sich als eine Art geraffter Reifeprozess äußert, sich ab jetzt von nichts und niemandem mehr abhängig zu machen. Er flieht vor den überforderten Ersthelfern und läuft verletzt durch das angrenzende Waldgebiet, bis er auf eine Ziege trifft und wenig später auf einen abgehalfterten Zirkusclan. Und auf Samantha, die zu der Gruppe von Jugendlichen gehört, die 24 Stunden zuvor den Stein von der Autobahnbrücke geworfen haben. Cecile, 17, Kokainproblem und gesteigerter Selbstzerstörungsdrang, zieht bei ihrem neuen Freund ein. Sein Sohn heißt Kai. Inzwischen ist er 13 und immer noch liebt er Samantha. Gemeinsam mit Cecile macht Kai sich auf die Suche nach ihr und versucht herauszufinden, wie man in einer Welt, die alte Menschen verachtet, erwachsen werden kann.

Schnell, witzig, radikal erzählt Helene Hegemann von der Suche nach Wahrheit und Transzendenz in einer zersplitternden Umwelt, in der individuelle Selbst-verwirklichung oberstes Ziel ist, aber Schein und Realität nicht mehr klar zu trennen sind. Das Leben ist ein Traum, der Körper Einbildung und die Liebe eine Projektion.
Autorenporträt
Helene Hegemann, 1992 geboren, lebt in Berlin. 2010 debütierte sie als Autorin mit dem Roman Axolotl Roadkill, der in 20 Sprachen übersetzt wurde. Die Verfilmung, bei der sie selbst Regie führte, wurde beim Sundance Festival 2017 mit dem World Cinema Dramatic Special Jury Award for Cinematography ausgezeichnet. Bei Hanser Berlin erschien von ihr die Romane Jage zwei Tiger (2013) und Bungalow (2018), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2013

Das Buch vom
guten Vater
Helene Hegemanns zweiter Roman:
Ein kleines Melodram für die reiferen Leser
VON CATRIN LORCH
Man macht sich derzeit gerne locker, wenn es um Generationen geht. Geschieht dies, weil die einen nicht alt werden wollen oder die anderen nicht länger jünger sein? Sicher ist, dass den einen Schönheit und Ideen zu eigen sind und die anderen vielleicht noch Ideen haben, vor allem aber Macht. Wo man sich näher kommt, ist man natürlich auch bereit, sich entwaffnen zu lassen, aber nur weil feststeht, dass man hinterher wieder aufrüstet und sich zurückziehen darf in die Feste, die Literaturbetrieb heißen, Kunstszene oder Theaterwelt. Solche Momente dürfen zudem nicht eigensinnig oder unausgegoren wirken. Besser ist es, wenn sie als authentisch oder „krass“ gelten. Dann wird man nicht mehr daran erinnert, dass es die Jungen sind, die über die Zukunft bestimmen werden. Und dass man als Älterer nicht mehr dazu gehören wird, weil man dann tot ist.
  Zu den Gesichtern, mit denen man sich deswegen gerne anfreundet, gehört neben Charlotte Roche auch die mit 21 Jahren noch jüngere Helene Hegemann. Sie wurde berühmt, als sie, noch 17-jährig, den Roman „Axolotl Roadkill“ veröffentlichte, dem jetzt ein zweites Buch folgt, „Jage zwei Tiger“, das mit dem ersten zumindest so viel gemein hat, dass im Titel wieder ein Tier und gewaltsamer Tod vorkommen.
  Es setzt mit dem „roadkill“ ein, dem Unfalltod einer Mutter, den ihr Sohn überlebt, Kai: „ein bisschen zu dick, ein bisschen zu unentspannt und ne fette Brille auf der mit unregelmäßigen Sommersprossen bedeckten Nase, unfassbar rührend, vor allem das liebevolle, von großen gegensätzlichen Ansichten geprägte Mutter-Sohn-Verhältnis. Ist ja auch immer super, im 3400-Euro-Lammlederkleid nach Hause zu kommen und sich zurück auf dieses auf Astronomie oder so stehende Kind in Adidas-Jogginghose besinnen zu müssen, auf dem Sofa, kariertes Hemd dazu, gegelter Seitenscheitel, das sich gut mit Technik auskennt.“ Sein Vater, so lässt einen Helene Hegemann wissen, hat sich nach dem Unfall „okay“ verhalten. Detlev ist ein „schwerstattraktiver Eins-neunzig-Typ in den besten Jahren, auf eine interessante Weise nicht erwachsen geworden und gleichzeitig enorm zerfurcht von der schweißtreibenden Gleichzeitigkeit seines Business und der von diesem und voneinander fernzuhaltenden Frauen unterschiedlichster sozialer Schichten und Altersstufen, alle leider, leider wahnsinnig verliebt in ihn“.
  Weswegen sie auch weiß, dass er am Krankenbett seines schwerverletzten Kindes vor allem an die „chirurgisch optimierten Schamlippen seiner einundzwanzigjährigen Affäre Isabell, Philosophiestudentin“ denkt. Dem Jungen kann er jedenfalls nicht viel versprechen: „Ich kann dir nicht bei Mathehausaufgaben helfen, und ich werde dich nicht davon abhalten können, in vier Jahren oder weiß der Teufel wann Drogen zu nehmen. Ich will auch nicht lernen, wie so was geht, verantwortungsbewusstes Handeln, da muss ich ehrlich sein, auch zu mir selbst.“
  Es soll Kinofans geben, denen Wim Wenders Meisterwerk „Paris Texas“ unzugänglich blieb, weil sie nicht verstehen, warum man als Vater einen bestens integrierten Schuljungen aus den Suburbs holt, um ihn bei seiner wahren Mutter in einem Wüstenbordell abzuliefern. Dass Meisterwerke zuweilen darauf angewiesen sind, grell oder gegen Tabus zu arbeiten, ist das eine – in „Jage zwei Tiger“ offenbart sich vor allem die Verachtung vor einem Begriff von Kindheit als schützenswert. Hegemann nimmt das Versagen hin, als wäre es längst Vergangenheit. Man hat die Angst überlebt, einem solchen Menschen ausgeliefert zu sein, hilflos im Krankenbett. Es ist ein „ego te absolvo“ ihrer Generation an die Väter.
  Helene Hegemann spielt die Unschuld und Verletzlichkeit der Kinder, die sie zu ihren Protagonisten beruft, drastisch und mit einer gewissen Herzlosigkeit aus. Zwischentöne sind ihre Sache nicht. Es gibt in „Jage zwei Tiger“ kein Verhältnis, das nicht von vordergründig existenzieller Natur ist, wo man nicht „blutsverwandt“ ist oder durch tragische, todbringende Ereignisse miteinander verbunden. Bleibt eigentlich nur Sex. Dagegen kann man schwer argumentieren, außer mit dem Hinweis, dass die ungeschickt erzählte Geschichte so viel Tragödie nicht trägt.
  Seiner ersten Liebe begegnet Kai, als er nach dem Unfall bei einem Wanderzirkus landet – dass ausgerechnet diese einarmige Grace-Kelly-Schöne betrunkene Jugendlichen dazu angestiftet haben soll, einen Stein auf eine Windschutzscheibe zu werfen, bleibt zwar unaufgeklärt, begründet als tragisches Motiv, warum Kai vier Jahre lang verliebt bleiben wird, nach nur einer angekuschelten Nacht im Stockbett. Hätte die Nacht allein nicht auch gereicht? Doch für Irritationen ist keine Zeit, es folgt das nächste Libretto, gleichfalls heruntererzählt in einem Ton, in dem man sich auf Leserbriefseiten oder am Mobiltelefon über problematische Bekannte verständigt – sieht so und so aus, ziemlich intelligent, leider total verrückt.
  Was übrigens nicht nur auf die meisten Frauen zutrifft in diesem Roman, sondern auch auf die zweite Hauptfigur, die magersüchtige, nymphomane Cecile. Sie ist dem Internat entkommen und auch ihrer superreichen Familie. Schon früh habe sie beschlossen, ihr Handeln keinesfalls „gewöhnlichen Standards“ zu unterwerfen, „wie ein Teenagerleben auszusehen hatte“, kündigt Hegemann an: „Man kann sich dann unauffällig und interesselos durch eine Masse bleigrauer Freizeitangebote kämpfen, seine Eltern ermorden oder Musik hören. Letzteres ist irgendwie okay, solange man währenddessen zufällig mit psychedelischem Garagenrock konfrontiert wird. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang: der Song ,Suzy Cramcheese’ von der Band Teddy and His Patches, 1966 gegründet in der drittgrößten Stadt Kaliforniens von einem sogenannten Jugendlichen . . .“
  Man muss den Beginn dieses langatmigen Exkurses zitieren, weil es solche Abschweifungen sind, die zeigen, für wen diese Autorin schreibt: nicht an Gleichaltrige, sondern an die Adresse des kulturellen Establishments. Ihm setzt Hegemann, wenn sie Jugendliche zeichnet, keine Menschen vor, nicht einmal Romanfiguren. Stattdessen spiegelt sie deren Diskurs über Jugendkultur einfach zurück. Das Innenleben des alle Standards überschreitenden Teenagers besteht so zwei Seiten lang vor allem im Exkurs zu Bandgeschichten, nach einem Absatz Lyrics kehrt man dann, belehrt, zurück zu Cecile, die die „Starfires“ aus Cleveland schon immer mochte und „Spirogyra“. Und: „Zu allem Überfluss war Cecile dann irgendwann auch noch magersüchtig geworden, wie jedes Mädchen, dass schlau genug war, um verletzbar wirken zu wollen.“
  Das ist genau entlang der Außenlinie gesurft, so, als drehte sich hier die Perspektive um, aus der ein Mann wie Detlev kurz darauf auf Cecile schaut. Lieber nicht nach der Magersucht fragen oder woher die große Zuneigung rührt, mit der sie sich auf ihn stürzt. Sondern das Mädchen mehr als Phänomen nehmen und ab ins Bett. Ceciles Geschichte könnte eine erotische Saga sein, Helene Hegemann treibt sie aber durch satt mit Kunst und Kultur und Architektur angefüllte Settings, wo sie an psychedelische Musik denkt und sich eingesteht, „du bist kokainabhängig, Sweetheart“.
  Und so offenbart nicht nur die altklug geschilderte Affäre Ceciles mit Kais Vater Detlev, sondern auch die Betrachtungen zu längst vergangener Jugendkultur, dass es hier darum geht, die Generationsgrenzen aufzulösen. Jugend lässt sich in diesem Roman bereitwillig in Vergangenes verwickeln, was denen entgegen kommt, die den längst kanonisierten Bob Dylan noch für „independent“ halten und finden, jetzt könnten die Kleinen mal zuhören. Eine einzige Abgrenzung funktioniert in diesem Text – und das ist die Verweigerungshaltung, wo es um Konsum geht. Was sich, an den besseren Stellen, so liest, als habe Maxim Biller Michel Houellebecq nacherzählt: Die Welt ist ein von Marktstrategen möblierter Ort, wo Mütter wie die von Cecile im Smalltalk darüber rätseln, ob man sich „einen von diesen Betonfernsehern von Cora Isken holen“ soll und ob ihrem Mann, einer ebenfalls offensiv dysfunktionalen Vaterfigur, wirklich nur aus Versehen „Old Spice Original“ in den Badezimmerschrank gerutscht ist. Ihr Haus hat 120 Zimmer und über dem Esstisch hängt ein „zwei mal vier Meter großes Gemälde eines schwarzen Rechtecks“, momentaner Verkaufswert im fünfstelligen Bereich. Cecile flieht mit einer kostbaren Elefanten-Skulptur in ein Musterhaus, wo der einzige identitätsstiftende Eingriff die Anbringung einer Rampe ist, als Pauline, eine Rollstuhlfahrerin, einzieht. Die im Keller Gras anbauende Wohngemeinschaft darf als Gegenbild in diesem Buch nur kurz aufleuchten. Einzig an dieser Stelle zeigt sich die Autorin als Beobachterin, klug und unverstellt, so, wie man sie aus Interviews und Auftritten zu kennen glaubt.
  Als Erzählerin versagt sie dagegen in diesem Buch, das sich liest wie eine Reihe ungeschnittener „footages“. Wo sich keine Handlung entwickelt, weil die zufällig hereinschneienden Begegnungen nicht erzählt werden, sondern lieber selbst noch von irgendwem oder irgendwas berichten. Die unübersehbar wiederkehrendenMotive – beispielsweise Tiere wie Schildkröten, Schlangen, Elefanten, Hunde, Kälber, immer wieder Ziegen, auch ausgestopft – sind nicht mehr als ein surrealer Hingucker, bunt wie das Viehzeugs auf einer Zoo-Tapete. Auch die Filme, die Musik oder die Kunst wirken mehr zufällig anwesend, mögen die Exegeten die dürren Zitate abnagen wie Hühnerknochen. Weswegen Hegemanns Sprache kaum nachkommt mit den Klitterungen und alle, Figuren wie Erzählerin, im selben Tonfall sprechen, einem hastigen, assoziativen Rhythmus gehorchen, lang aneinandergeketteten Wörterfolgen, ständig abwertenden Kommentaren.
  Wie das alles ausgeht? Die letzten Seiten durchglüht ein magisches grünes Leuchten – allerdings ist keiner der Protagonisten wirklich neugierig, was das sein könnte. Es gleicht dem Theaterlicht, das andeutet, dass gleich der Vorhang fällt. Detlev ist plötzlich tot, aber er wollte ja ohnehin kein Vater sein. „Vielleicht war tatsächlich ein Meteorit in die Ostsee gefallen, und eine durch ihn ausgelöste Tsunamiwelle hatte bereits die Hälfte Europas überschwemmt“, beginnt das letzte Kapitel, in dem – es spielt im Jahr 2016 – ein 16-jähriger Kai mit Cecile, „fast einundzwanzig“, vor einem katholischen Priester steht. Ihr Trauzeuge hört auf seinem iPod Rammstein. Die Ringe sind aus Kaugummi.
  Weiß Helene Hegemann, dass sie mehr beschreiben könnte, als eine neu einsetzende Quadrille des Immergleichen? Doch statt sich und ihre Generation abzugrenzen, versucht sie alle Differenzen zu überspielen, alle einzuladen, die skeptisch und abgezockt genug sind. Dieses Buch krankt an seinem vorauseilenden Exhibitionismus. Daran, dass Hegemann doch nur den Voyeurismus des Kulturbetriebs befriedigt. Statt mehr einzufordern als ein privates, kaugummiverziertes Glück, etwa den Anspruch auf etwas, das Zukunft heißt.
Diese junge Autorin schreibt nicht
für Gleichaltrige – ihr Adressat ist
das kulturelle Establishment
Wenn es um Konsumkultur geht,
liest sich das, als habe Maxim
Biller Houellebecq nacherzählt
Alle Figuren sprechen die
gleiche Sprache, gehorchen dem
gleichen hastigen Rhythmus
Jugend forscht: Die Romanautorin Helene Hegemann.
FOTO: MARTIN RUETSCHI
Tigerente war gestern: „Meine Mutter ist tot“, fuhr er fort, „mein Vater ist unzurechnungsfähig, meine Tanten sitzen in Neuseeland und spielen Poker, und –“ „Siehst du: Mutter tot, super Ansatz.“ So sprechen die coolen Kids bei Helene Hegemann.
FOTO: REGINA SCHMEKEN
  
  
  
  
  
Helene Hegemann:
Jage zwei Tiger.
Hanser Verlag, München 2013. 320 Seiten,
19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Begeistert, ja geradezu aufgeregt ist Eva Behrendt: Ein "großes, bewegendes, oftmals finsteres" Lektüreerlebnis bietet ihr der zweite Roman der jungen Autorin, die sie vor allem auch stilistisch seit ihrem wegen Plagiatsvorwürfen umstrittenen Debüt sichtlich gereift sieht. Helene Hegemann erzählt ihre zu unwahrscheinlichen Happy Ends führende Geschichte über drei junge Leute, deren Lebensläufe sich miteinander verquirlen, auf wilde, alle Auflagen zum Maßhalten geflissentlich missachtende Weise, schwärmt die Rezensentin, die den teuflischen Witz, mit dem Hegemann Jargon und Habitus des Kulturbetriebs schon durch kleinste sprachliche Zusätze aufspießt, sodass bald schon verkiffte WGs als "bizarres Utopia" in Frage kommen, glücklich feiert. Lebensprall ist dieses Buch, das im eigentlichen Kern eine rast- und atemlose, panoramatische Darstellung der Gesellschaft im Sinn hat, so Behrendt abschließend.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2013

Alles ist pseudo in dieser Welt

Helene Hegemann, die mit "Axolotl Roadkill" berühmt wurde, hat einen neuen nervenden Roman geschrieben: "Jage zwei Tiger" handelt von der Suche nach allem und nichts.

Nicht nur für ihr Alter hat Helene Hegemann bereits viel erlebt. Geboren 1992 in Freiburg und nach dem Tod der Mutter mit dreizehn nach Berlin zum Vater Carl und an dessen Volksbühne gekommen, schrieb sie mit vierzehn ihr erstes Drehbuch, sah mit fünfzehn die Uraufführung ihres Theaterstücks "Ariel 15", gewann mit sechzehn den Max-Ophüls-Preis für den Film "Torpedo" und veröffentlichte im Jahr darauf den ästhetisch so umstrittenen wie kommerziell erfolgreichen Roman "Axolotl Roadkill", der die Republik mit dem Berliner Club Berghain bekannt machte. Helene Hegemann ist Bloggerin, Schauspielerin und Regisseurin. Dass sie außerdem eine ernstzunehmende Schriftstellerin sei, will sie mit ihrem neuen, am Montag erscheinenden Roman beweisen.

"Jage zwei Tiger" erzählt mit ungeheurem Sprachaufwand von ein paar Jugendlichen und ihrem Versuch, eine eigene Haltung zur Welt einzunehmen, allen voran Kai und Cecile. Kai ist Halbwaise, nachdem er mit elf Jahren den Tod seiner Mutter erleben muss, weil Jugendliche von einer Brücke einen Stein auf ihr Auto warfen. Die Art, wie uns diese erste echte - denn behauptete gibt es ständig - Tragödie des Romans präsentiert wird, ist symptomatisch für das ganze Buch: "Das Auto bleibt nicht sofort stehen, sondern rast mit dieser erschlagenen Mutter am Steuer, das dementsprechend außer Kontrolle geraten ist, noch durch die Leitplanke auf ein Stück Wiese, um dort endlich anzuhalten. Hardcore, oder? Aber irgendwie auch geil."

Nach diesem Erlebnis, das ihn naturgemäß in einen "sehr porösen Zustand" versetzt, beschließt Kai, sich von keiner menschlichen Bindung mehr abhängig zu machen - und verliebt sich gleich darauf nachhaltig in das einarmige Zirkusgirl Samantha, nicht wissend, dass sie eine derjenigen war, die den Stein des Todes geschmissen haben. Sein über Jahre anhaltender Wunsch, Samantha wiederzusehen, bildet zum Schluss des Buches das romantische Motiv für die zweite große Flucht seines jungen Lebens, auf welcher der surreal anmutende Zirkus nur eine Zwischenstation bildet. Erst einmal aber zieht Kai nach München zu seinem Vater, einem nervlich nicht belastbaren und akut beziehungsgestörten Kunsthändler Mitte vierzig, in dessen Wohnung eines Tages ein Mädchen auftaucht, das "etwas erlebt hatte, das weit über ihr Alter oder diesem Alter zugeordnete, gesellschaftlich akzeptierte Erfahrungswerte hinausging".

Diese Cecile, einige Jahre älter als Kai, hat von Kokain über Essstörungen bis Ritzen schon einige Selbstzerstörungsrituale perfektioniert. Ihre Eltern gehören zu der in diesem Roman dominanten Sorte der Leute, die Geld mit Fürsorge gleichsetzen und ihre Tochter schon mal anderthalb Jahre lang nicht zu Gesicht bekommen, ohne dass es ihnen auffiele. Als es Cecile in einem raren Zugeständnis nach Trostbedürftigkeit doch einmal zu ihnen verschlägt, schickt die Mutter eine SMS mit der Wegbeschreibung zum Esszimmer in dem weitläufigen neuen Domizil und bittet die Tochter, den Vater nicht mit umherliegenden Zigarettenkippen aus der Fassung zu bringen. Ceciles nächste und vergleichsweise heimelige Station ist eine WG von Gleichgesinnten in Worms, dann begegnet sie nach einigen weiteren Umwegen in einer Punkbar Kais Vater, verliebt sich in ihn, was indes nicht auf Gegenseitigkeit beruht, zieht aber bei ihm ein.

Die übersprudelnde, alle Beschreibungen ins Grelle, Übertriebene und Überzeichnete ziehende Erzählstimme gehört einem Ich, das außer zu Beginn nur selten in Erscheinung tritt und übergangslos die Perspektiven von Kai, Cecile oder anderen einnimmt - nur nie die der sogenannten Erwachsenen, deren Verhalten in den geweiteten Pupillen ihrer wohlstandsverwahrlosten Nachkommen durchaus wirkungsvoll gespiegelt wird. Es ist eine gänzlich auf Äußerlichkeiten fixierte Welt, in der jedes Teil, vom Minottisofa bis zum Jürgen-Teller-Original, ein Label trägt, das danach schreit, von Insidern erkannt zu werden. Dieses manische Registrieren sämtlicher "pseudosubversiver Statements" in Kleidung und Ausstattung gefällt sich vor allem selbst.

Der Roman krankt an Hegemanns Drang, das Geschehen nicht nur zu schildern, sondern auch aufladend zu kommentieren und zu bequatschen. Offenbar glaubt sie, damit der Gefahr begegnen zu müssen, dass praktisch alle Leser dieses Buches weniger Durchblick haben als die Verfasserin selbst. Also werden wir gnadenlos aufgeklärt, wieder und wieder, was hier eigentlich verhandelt wird: "Es ging um die gottverdammte Widersprüchlichkeit des Menschen. Um die Tatsache, dass Jesus für uns und unsere Sünden gestorben war. Und um Erlösungsstrategien, die in jedem Menschen und in der Sinnlosigkeit unserer Existenzen verborgen lagen."

Alles ist hier kaputt: die in Egozentrik verödeten menschlichen Beziehungen; die von zu viel, zu wenig oder zu toxischer Nahrung, von Alkohol und Drogen malträtierten Körper; die Sprache, die keine Normalität und Leichtigkeit kennt, sondern nur das pathetische Wummern der Superlative, der Füllwörter und der Hypotaxen. Mit ihrem von Anglizismen durchsetzten und von der Bedeutungsschwere jedes seiner Gedanken überladenen Jugendjargon bedient sich Hegemann einer Kunstsprache, die ihre eigene Zerstörtheit und die ihrer Beobachtungen immerzu mitzureflektieren sucht: "Diese komplexe Sinneswahrnehmung verringerte sich sowieso durch den intensiven Glauben an ultimative Erfüllung durch sichtbar gewordenes Leid oder so was, Schmerz war egal und der uninteressanteste Aspekt, leider." Macht man sich anfangs noch die Mühe, solche Schwurbeleien nachvollziehen zu wollen, versiegt die Bereitschaft doch bald.

Einfach mit ihrer Jugend oder ihrer Erfahrung zu kokettieren wäre dieser Autorin zu banal - das können andere ihres Alters schließlich auch. Nein, Helene Hegemann legt immer noch eins drauf. Sie kokettiert mit dem Kokettieren, liefert zum Handeln ihrer Figuren die Interpretation, stellt deren Abgefeimtheit ebenso aus wie ihre Verletzungen und will ihren desolaten Jugendlichen so mindestens die mythische Dimension eines Jedermann verleihen. Nicht einfach, sondern vielfach gebrochen ist die hedonistische Welt, aus der hier in einem Akt der aggressiven Selbstverteidigung zur Vermeidung weiterer seelischer Wunden erzählt wird.

Das ist clever gemacht und könnte tatsächlich entwaffnend wirken, wenn die Macken und Fehler nicht so genau kalkuliert und erkennbar gewollt wären - und das bloß, weil Perfektion als Inbegriff von Spießertum gilt, und spießig zu sein in diesem Milieu möglicherweise sogar schlimmer ist als der Tod. Dass die panische Vermeidung angeblicher Normalität selbst etwas Spießiges hat, erkennt Hegemann nicht, weil sie so damit beschäftigt ist, dem Leser, den Figuren, ja letztlich sich selbst immer noch einen Dreh voraus sein zu wollen. Also darf es nicht weniger sein als die Suche nach Erhabenheit, die den Roman und seine Charaktere umtreibt - ein Ich-Gefühl, das einen unerreichbar macht und damit endlich Sicherheit verleiht. Dass es dafür allerdings höhere Instanzen braucht, sehen schließlich auch Cecile und Kai ein: Sie heiraten, um der Sinnlosigkeit etwas entgegenzusetzen. Auch Rebellion kann spießig sein.

Helene Hegemann hat keinen Bildungs-, keinen Generationen- und keinen Coming-of-Age-Roman geschrieben, ja, sie hat sich nicht einmal dazu durchringen können, die verkorksten und selbstsüchtigen Erwachsenen mit Schmackes zu denunzieren: "Es ging nicht um ein bestimmtes Jahrzehnt, eine bestimmte Generation oder gar um eine Grenze zwischen Generationen - es ging um Auflösung von Grenzen."

Das Problem ist, dass dieses Buch, das so vermeintlich lässig und dabei extrem befangen mit Begriffen wie Erlösung, Liebe und Identität jongliert, im Grunde gar nichts will - außer gefallen. Vor allem sich selbst. Es ist der in jedem seiner vorgeblich superschlauen, megaabgeturnten und ultrainsiderischen Sätze ausgestellte Narzissmus, der "Jage zwei Tiger" so nervig macht. Einer von Ceciles Lieblingsgedanken lautet: "Whatever." Das Scheißegalgefühl der Jugend - lange war es einem nicht so nah wie nach der Lektüre dieses Buchs.

FELICITAS VON LOVENBERG

Helene Hegemann: "Jage zwei Tiger". Roman.

Hanser Berlin Verlag, Berlin 2013. 317 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Hegemann hat ein kraftvolles Buch geschrieben. Lakonisch und nicht ohne Boshaftigkeit hält sie der Gesellschaft den Spiegel vor. ... Ein kluges, rotziges und sehr unterhaltsames Buch." Anna Riek, ZDF aspekte, 23.08.13

"Geil sind an diesem Roman vor allem der schwarze Humor, das Satirische, auch Hegemanns spezielle Kraftausdruckskraft. ... Hegemanns scharfer, sezierender Blick lässt kaum etwas gelten. ... Hegemann ist Romantikerin, sie will die Gegensätze der Welt im Erzählen überwinden." Richard Kämmerlings, Welt am Sonntag, 25.08.13

"Ein wildes, alle Maßstäbe von Konsistenz und Ausgewogenheit mit voller Absicht sprengendes Buch. ... Ein umfassendes (Anti-)Gesellschaftspanorama, das vom Wanderzirkus bis zur High Society reicht. Und ein großes, bewegendes, oftmals finsteres Lesevergnügen." Eva Behrendt, die tageszeitung, 26.08.13

"Überbordend in seinen unterschiedlichen Tonarten, Tempi und Anspielungen auf Songtexte. Und aufregend und interessant, weil Hegemann unserer gegenwärtigen Großstadtgesellschaft zwischen 14 und 40 Wut und Zorn entgegenbringt und dies gnadenlos darstellt. 'Jage zwei Tiger' ist aber auch ein Buch über die Sehnsucht nach Glück." Verena Auffermann, Deutschlandradio Kultur, 26.08.13

"In 'Jage zwei Tiger' zeigt Helene Hegemann, dass sie erzählen kann. Und führt die beiden selbstzerstörerisch veranlagten Protagonisten nach einer eigentlich tieftraurigen, aber stellenweise wahnsinnig unterhaltsamen Safari durch die kaputte Kunst-, Kultur- und Konsumwelt schließlich zusammen." Silke Janovsky, Frankfurter Rundschau, 26.08.13

"Nachdem man das Buch zu Ende gelesen hat, trägt man den Hegemann-Sound wie einen Ohrwurm mit sich, keineswegs genervt, sondern innerlich immer wieder hell auflachend. ... So rasant wie Helene Hegemann hat noch keiner die Kurve gekratzt vom Berghain in den Feuilletonkatholizismus. Chapeau!" Ijoma Mangold, Die Zeit, 22.08.13

"Der Roman unterläuft und übertrifft alle Erwartungen." Claudia Voigt, Der Spiegel, 19.08.13
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