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Baudelaire, Dichter, Kunstliebhaber, bedeutender Kritiker, Flaneur und seine Mutter abgöttisch liebender Sohn, ist der Protagonist dieses außergewöhnlichen Buchs. Roberto Calasso beobachtet ihn bei seinen Streifzügen durch die Metropole Paris, seinen Rundgängen durch die "Salons". Auf den Spuren Baudelaires hat der Autor aus Italien einen imaginären Ort geschaffen, an dem der Leser dem Dichter selbst begegnet, seinen Vorlieben und Abneigungen, seiner Stadt, aber auch Dichtern wie Chateaubriand, Flaubert, Stendhal und Malern wie Ingres und Delacroix. In einem Mosaik aus Geschichten,…mehr

Produktbeschreibung
Baudelaire, Dichter, Kunstliebhaber, bedeutender Kritiker, Flaneur und seine Mutter abgöttisch liebender Sohn, ist der Protagonist dieses außergewöhnlichen Buchs. Roberto Calasso beobachtet ihn bei seinen Streifzügen durch die Metropole Paris, seinen Rundgängen durch die "Salons". Auf den Spuren Baudelaires hat der Autor aus Italien einen imaginären Ort geschaffen, an dem der Leser dem Dichter selbst begegnet, seinen Vorlieben und Abneigungen, seiner Stadt, aber auch Dichtern wie Chateaubriand, Flaubert, Stendhal und Malern wie Ingres und Delacroix. In einem Mosaik aus Geschichten, Interpretationen und Kommentaren wird das faszinierende Bild der Pariser Literatur, Kunst und Mythologie zur Zeit Baudelaires lebendig.
Autorenporträt
Calasso, Roberto
Roberto Calasso, 1941 in Florenz geboren, lebt als Schriftsteller und Verleger des Adelphi Verlags in Mailand. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen zuletzt: Der Traum Baudelaires (2012) und Glut (2015).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.01.2013

Einschiffung nach Kamtschatka
Lust, Laune, Rausch und Raserei: Der italienische Schriftsteller Roberto Calasso heftet sich an die Fersen Charles Baudelaires
und erkundet mit ihm die Urbilder des modernen Lebens
VON VOLKER BREIDECKER
Die Lektüre von Roberto Calassos Buch über Charles Baudelaire, die Galionsfigur der ästhetischen Moderne, gleicht einer heimlichen Verabredung mit einer ebenso reizenden wie anspruchsvollen, mitunter etwas schwierigen Dame – zum Beispiel in den weiten Sälen des Louvre. Baudelaire lud seine Angebetete – in diesem Fall die eigene Mutter – just dahin ein: „Es ist der Ort in Paris, wo sich am besten plaudern lässt; er ist geheizt, man kann warten, ohne sich zu langweilen, und überdies ist es der Ort, der sich am besten für ein Rendezvous mit einer Dame schickt.“
  Gelungener Auftakt eines Buchs, das seine Leser gleich mit in ein erzähltes „Musée imaginaire“ des 19. Jahrhunderts einlädt und ihnen als Billett eine Anweisung auf die Lektüre mitgibt: „Jeder“, schreibt Calasso, könne der Einladung folgen, „indem er Baudelaire durchstreift wie einen jener Salons, von denen er berichtet hat – oder wie eine Weltausstellung. Er wird dabei alles mögliche finden, Denkwürdiges und Ephemeres, Erhabenes und wertlosen Plunder, von einem Saal in den nächsten gehend“. Alles, nur keinen roten Faden, auf den sich der Mailänder Verleger und Autor Roberto Calasso am wenigsten zwangsverpflichten lässt, weshalb auch der Rezensent nicht so tun wird, als sei es anders oder als müsse es anders sein.
  Muss es nämlich nicht, wie als Salonberichterstatter gerade Baudelaire und vor ihm Diderot es vorgemacht haben – mit Konsequenzen auch für die Promenaden draußen, in den Straßen von Paris oder in den Säulengängen des Palais Royal, wo Diderot täglich nach diesem Muster lustwandelte: „Ich unterhalte mich mit mir selbst von Politik, von Liebe, von Geschmack oder Philosophie und überlasse meinen Geist seiner ganzen Leichtfertigkeit.“ Nicht anders macht es Calasso, der ähnlich wie ein Montaigne von sich und seinem Buch sagen könnte: „Ich schweife ab, doch mehr aus Mutwillen denn aus Versehen.“
  Keine Lektüre für Schnell-, Digital- und Vertikalleser, auch nicht immer leicht zu lesen, dafür wird der Leser, der sich auf dieses Buch und seine verschlungenen Gedankengänge einlässt, reich belohnt. Etwas Muße, Geduld und die Bereitschaft zum Mitdenken muss er schon mitbringen, auch die Gabe der Wahrnehmung solcher Affinitäten und Analogien, die Baudelaire mit dem Begriff der „correspondances“ fasste, darin – wie in dem Vers des gleichnamigen Poems aus den „Fleurs du mal“ – „Düfte, Farben und Töne“ miteinander korrespondieren als seien sie Liebespartner.
  Der Hang zur Digression und zum Ausschweifen im wörtlich pedalen wie im beliebig übertragenen Sinn übt Mimesis an der Doppelbedeutung des Salons als Ort verfeinerter Konversation und Schauplatz großer Kunstausstellungen, in denen Bilder eher unsystematisch nebeneinander hingen und es dem Betrachter überlassen blieb, Beziehungen zwischen den Werken herzustellen.
  Das tat Baudelaire, wenn er in Poesie und Prosa, in Essay und Kritik der Maxime seines Freundes und Mitstreiters Théophile Gautier von der „transposition d’art“ folgte, was auf die zeitgemäß erneuerte klassische Kunst der Ekphrasis zielte: die kunstvolle Beschreibung, Nacherzählung oder Dramatisierung von Bildern und Kunstwerken unter dem Formregister eines anderen, des sprachlichen Mediums. Und das tut auch Calasso, der sein Talent zum Erzählen und Wiedererzählen von Bildern zuletzt in „Das Rosa Tiepolos“ (2006) virtuos ausspielte. Zwei besonders schöne Beispiele seien dafür aus dem Baudelaire-Buch herausgegriffen, das sich seinem Helden buchstäblich an die Fersen heftet und mit seinen Augen auf ihm eng verbundene oder ihm nachfolgende Dichter und Künstler blickt: Ingres und Delacroix, Constantin Guys – der anonym zeichnende Bildreporter, den Baudelaire zum „Maler des modernen Lebens“ erkor – Manet und Degas, Mallarmé und Rimbaud sind die Schlüsselfiguren bis hin zu dem großen Nachspiel namens Proust.
  Als romanhafte Erzählung entlang einer Sequenz von – im Buch reproduzierten – Bildern liest Calasso die Geschichte von der unerfüllten Liebe der Malerin Berthe Morisot zu Édouard Manet, zuletzt als eine in Schwarz zelebrierte „Anwesenheit von Abwesenheit“.
  Dazu passt – auch als Beispiel für Calassos Kunst der Wiedererzählung alter Mythen – die hinreißende Erklärung dafür, was „der Ursprung des Bildes der Melancholie sei, die mit aufgestütztem Ellbogen meditiert“. Mehr als eine diskursive Erklärung folgt ein bezauberndes gleichsam Vor-Augen-Stellen: „Es handelt sich um die Nymphe, die gerade Hylas, Herakles’ jungen Freund ins Wasser gezogen hat, wo er ertrank – und nun schon von ihm träumt.“ Stoff für ein Poem oder eine Malerei, aber es geht noch weiter à la Baudelaire: „Dann“, so schließt Calasso, „wäre die Melancholie die erste von den Frauen, die morden, wenn sie lieben. Ihr Ellbogen ruht auf der Vase, aus der beständig Wasser fließt. Aus der sie also selber fließt. Aus der das Wasser fließt, das Hylas verschlungen hat.“
  Der deutsche Titel des von Reimar Klein vorzüglich übersetzten Buchs lautet etwas anbiedernd „Der Traum Baudelaires“, bezogen auf einen von Baudelaire aufgezeichneten Schlüsseltraum, darin der Poet durch ein schimärenhaftes Museumsbordell mehr traum- als lustwandelt, bis ihm der Dämon seines zur Taten- und Bewegungslosigkeit erstarrten Alter Ego als bildnerisches Ausstellungsstück begegnet. Im italienischen Original wie auch in den französischen und englischen Ausgaben heißt das Buch hingegen „La folie Baudelaire“, was zunächst ein Wort des zeitgenössischen Großkritikers Sainte-Beuve zitiert, zugleich aber ganz programmatisch das immense Register von Bedeutungen und Synonymen zieht, das die französische Sprache für die „folie“ kennt, darin sich sowohl Baudelaires künstlerischer Eigensinn als auch seine Poetik semantisch auffächern lässt: Causerie, Caprice und Sottise, Lust, Laune und Verlangen, Rausch und Raserei, Tollheit und Frechheit, Schnapsidee und Spitzfindigkeit, Abstand und Abweichung, Wunderlichkeit und Sonderbarkeit, Furor und Enthusiasmus, Träumerei und Phantasmagorie, Glut und Inbrunst, Hirngespinst und Narretei, Übertritt und Abenteuer, Ablenkung und Abschweifung, Fuge und Skizze. Es sind dieselben hochmusikalischen Register, mit denen auch Calasso im Nachvollzug die „Klaviatur der Korrespondenzen“ bedient und „seinem“ Baudelaire bis in die äußersten Windungen, Gänge und Geheimkabinette einer Künstlerseele und ihrer Poesie folgt.
  Sainte-Beuve wiederum hatte geschrieben: „Baudelaire ist es gelungen, sich am äußersten Ende einer für unbewohnbar geltenden Landzunge und jenseits der Grenzen der bekannten Romantik einen wunderlichen, reichverzierten, vielgequälten, doch auch koketten und geheimnisvollen Kiosk zu errichten, wo man Edgar Allan Poe liest, wo man auserlesene Sonette vorträgt, wo man sich mit Haschisch berauscht . . . Diesen seltsamen Kiosk mit seinen Intarsien, der mit seiner höchst bewußten und buntgemischten Originalität seit einiger Zeit die Blicke auf die äußerste Spitze der romantischen Kamtschatka lenkt, nenne ich die folie Baudelaire.“
  Vor der Ära der großen Boulevards und der Boulevardblätter, die dort neben Blumen – fleurs neben feuilles – verkauft wurden, war der Kiosk ein „Lust-Gebäude“, ein allseits offener Pavillon ursprünglich orientalischer Provenienz, ein Ort des Lustwandelns, der gesuchten Abschweifung und Zerstreuung. Die Kamtschatka indessen, jene damals noch unerforschte schmale hochvulkanische Landzunge am äußersten Ende Sibiriens, stand für den „u-topos“ schlechthin – wie Sainte-Beuve selbst präzisierte –, für „dort, wohin, wie man glaubte, niemand gehen konnte“. Fern und doch nah. Wie die große Stadt, wie Paris mit seinen Straßen und Gassen, seinen Plätzen und Höfen, seinen Passagen und Zwischenwelten. Oder wie das unermessliche Meer der Literatur: „Au fond de l’Inconnu pour trouver du nouveau!“
Roberto Calasso: Der Traum Baudelaires. Aus dem Italienischen von Reimar Klein. Carl Hanser Verlag, München 2012. 494 Seiten, 34,90 Euro.
Diese bezaubernde Buch hat
keinen roten Faden
Calasso kultiviert wörtlich und
bildlich die Ausschweifung
Édouard Manets „Musik im Tuileriengarten“ (1862): der Mann am Baum, im Profil mit Zylinder, oberhalb der aus dem Bild blickenden Dame mit der blassblauen Schleife ist Charles Baudelaire.
FOTO: PRIVAT
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Charmant, aber ein bisschen oberflächlich, so lässt sich Ina Hartwigs Gesamteindruck von diesem Buch zusammenfassen. Die Rezensentin bescheinigt dem italienischen Autor Roberto Calasso in seinem Essay Eleganz, Schwung und Überraschung. Aber Systematik sei seine Sache nicht. Und auch sein eigentliches Thema - Baudelaire als Prosaist - findet sie eher verschenkt. Denn ausgerechnet der Maler Constantin Guy, den Baudelaire bewunderte und an dessen Werk er seine Kunstkritik entwickelte, interessiere Calasso nicht. Die Übersetzung von Reimar Klein lobt sie als vorzüglich, doch moniert sie, dass ausgerechnet die Gedichte nur im französischen Original abgedruckt sind. Man fragt sich als Leser der Kritik, warum Hartwig das Buch gleichzeitig "extrem anregend" fand. Vielleicht gerade wegen seiner Unsystematik?

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2013

Von der Welle getroffen und für Augenblicke überflutet

Roberto Calassos "Der Traum Baudelaires" stellt den Dichter zwar ins Zentrum der Betrachtung. Im Grunde geht es Calasso aber um eine Epoche - um die Geburt dessen, was man als Moderne bezeichnet.

Wenn Roberto Calasso zur Feder greift, sollte man gewappnet sein. Mit Zeit, mit Muße und Geduld. Denn es ist gut möglich, dass man mit seinem neuen Buch viele Stunden, wenn nicht Tage auf dem Sofa verbringt, unterbrochen nur von regelmäßigen Ausflügen ans Bücherregal (auch Google hilft). Das war schon bei seinen bisherigen Werken so, bei "Ka" aus dem Jahr 2011, auch beim "Untergang von Kasch" von 1997. Und auch nun, da sein langer referenzgesättigter Essay über den französischen Dichter Charles Baudelaire in deutscher Übersetzung erschienen ist, zeigt sich der italienische Verleger und Publizist so freundlich, den Leser schon auf den ersten Seiten zu warnen.

Die "Baudelaire-Welle", die er zu reiten verspricht, ging nämlich durch alles hindurch, was sich ihr seinerzeit in den Weg stellte. "Auf den Wellenbergen und in den Wellentälern", schreibt Calasso, "erkennt man Chateaubriand, Stendhal, Ingres, Delacroix, Sainte-Beuve, Nietzsche, Flaubert, Manet, Degas, Rimbaud, Lautréamont, Mallarmé, Laforgue, Proust und andere, als hätte diese Welle sie getroffen und für Augenblicke überflutet." Das ist eine schöne und präzise Metapher für das, was Calasso vorhat. Denn er stellt Baudelaire zwar ins Zentrum seiner Betrachtung. Im Grunde geht es ihm aber um eine ganze Epoche, um die Geburt dessen, was man als Moderne bezeichnet, für die der Dichter nur als eine Art Schutzheiliger fungiert. Calassos Buch besteht aus langen Exkursen in die Malerei und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem zu Zeiten Louis-Philippes und des Zweiten Kaiserreichs. Er zieht alles heran, was ihm zur Verfügung steht (und das ist sehr viel). Er zitiert aus Briefen, Essays, Romanen und Rezensionen, und weil es einfach nicht möglich ist, all diese Texte im Kopf zu haben, ist für den Leser ein gut bestücktes Regal in der Nähe unabdingbar.

Roberto Calasso widmet sich einer Zeit, die etwa vom Wiener Kongress bis zum Tod von Édouard Manet 1883 reicht. Ausgehend von Baudelaires eigener Begeisterung für die Malerei, erschließt er diese Epoche über eine präzise und doch radikal subjektive Analyse der Bilder dieser Zeit. Um dieses Vorgehen zu rechtfertigen, lässt er einerseits Baudelaire selbst zu Wort kommen, der in "Mon coeur mis à nu" schrieb: "Den Kult der Bilder preisen (meine große, meine einzige, meine ursprünglichste Leidenschaft)." Andererseits weitet er den Begriff des Bildes, wenn er Baudelaire attestiert, ihm habe wenig daran gelegen, etwas aus dem Nichts zu erfinden. "Er brauchte stets ein schon vorhandenes Material, das er bearbeiten konnte, irgendein in einer Galerie, in einem Buch oder auf der Straße flüchtig erblicktes Phantasma - als wäre das Schreiben vor allem ein Akt der Transposition von einem Formenregister in ein anderes."

Das ist das Schöne an Calasso: Mit einer großen Geste wischt er Gattungsgrenzen, wissenschaftliche Standards, auch alle Absichtserklärungen der Künstler selbst beiseite und untersucht ihre Werke nach Überschneidungen und wechselseitigen Spiegelungen, die es gar nicht geben dürfte, folgte man der reinen Lehre. So kommen etwa Baudelaire und Ingres zusammen. So erweist sich Baudelaire als derjenige, der die Einzigartigkeit, das ominöse Neue in Ingres' Bildern am klarsten erfasste, und zwar vor allem in jenen Texten über die Salons, in denen er Ingres' Schaffen eigentlich kritisierte. Denn während Ingres sich selbst stets als peintre de haute histoire in der Nachfolge Louis Davids sah und Raffael als seinen Meister verehrte, warfen ihm (ausgerechnet) Baudelaire und dessen Freund Théophile Thoré anlässlich des Salons von 1846 eine Fixierung auf die Form vor, eine Art frühes L'art pour l'art. Thoré schrieb aber: "Die Lehre des L'art pour l'art ist in Wahrheit eine Art materialistischer Brahmanismus, der seine Adepten nicht in der Betrachtung der ewigen Dinge aufgehen lässt, sondern in der Monomanie der äußeren, vergänglichen Form." Was die beiden an Ingres monierten, das war eine Vernachlässigung des Gedankens zugunsten dieser Form. "Die Einbildungskraft", schrieb Baudelaire, "diese Königin der Vermögen, ist verschwunden."

Der Ablehnung von Ingres stand folgerichtig Baudelaires Begeisterung für das Werk von Eugène Delacroix gegenüber. Ihm widmet Calasso einen ebenso ausführlichen Exkurs wie Edgar Degas und Édouard Manet. In Degas' Bildern, etwa in dem Porträt der Familie Bellelli oder der Kriegsszene im Mittelalter, erkennt Calasso zahlreiche Züge, die ihm über die Malerei hinaus als wegweisend gelten: das "Fehlen eines Zentrums", eine feine, über allem schwebende Gaze, eine "völlige Aufgabe der kanonischen Gesten", überhaupt eine Auflösung der Genres.

Angesichts dieses Befundes überrascht es dann auch nicht, dass ein Mann auf diese Liste der stilbildenden Künstler gehoben wurde, der sich streng genommen nicht der Malerei, sondern der Illustration verschrieben hatte. Genau dies hatte Baudelaires Interesse geweckt. In seinem gleichnamigen Essay hat der Dichter nämlich Constantin Guys zum "Maler des modernen Lebens" schlechthin erklärt. "In Guys fand Baudelaire das Beispiel einer frechen, unverschämten Kunst, die sich allein dem ,täglichen Wandel der Dinge' widmete und ,einer schnellen Bewegung' folgte, die ,den Künstler zu einer gleich raschen Ausführung nötigt'." All dies veranschaulicht Roberto Calasso, indem er einzelne Werke der Künstler einer genauen Analyse unterzieht - die sich überdies gut nachvollziehen lässt, weil das Buch über zahlreiche farbige Abbildungen verfügt.

Das Herzstück von Calassos Werk aber findet sich in einer Analyse jenes berühmten Traums, den Baudelaire in einem auf den 13. März 1856 datierten Brief an seinen Freund Charles Asselineau beschrieb. Hier wird Calasso zum Traumdeuter. Wenn Baudelaire berichtet, wie er sich im Traum auf dem Weg in ein Bordell befand und, dort angekommen, in diesen "weiten Galerien, die miteinander verbunden sind - schlecht beleuchtet -, von traurigem und verblichenem Charakter - wie die alten Cafés, die ehemaligen Lesekabinette oder die schmuddeligen Spielhäuser" (Calasso denkt hier sofort an Walter Benjamins Passagen); wenn Baudelaire dann fortfährt und erzählt, wie er an den Wänden dieses Etablissements lauter Zeichnungen entdeckte, "von Bauwerken und ägyptischen Figuren", aber auch von "bunten Vögeln mit kräftig leuchtendem Gefieder", dann stellt sich für den Interpreten Calasso dieses Bordell sogleich als ein Museum dar - und in ihm vollzieht sich jener Übergang zum Bild, den Calasso ja schon als paradigmatisch für die Epoche postuliert hat.

Im Traum entdeckt Baudelaire auf den Zeichnungen bald Vögel, "deren Auge lebendig ist". Er sieht "bizarre, monströse Wesen, fast amorph, wie Meteorsteine". In ihnen erkennt er Spuren des (von ihm verachteten, seinerzeit aber vielbeschworenen) Fortschritts sowie "der Wissenschaft, der Verbreitung der Aufklärung", und doch kann er das Rätsel dieses Bordells nicht lösen. Vor allem jenes kleine Monstrum, das sich, auf einem Sockel sitzend, jeden Tag den neugierigen Blicken der Bordellbesucher aussetzen muss, interessiert ihn zwar, bewahrt sein Geheimnis im Kontext des Traums aber für sich. So haben wir es, Calasso zufolge, mit einem Traum voller verwirrender Zeichen zu tun, voller Hieroglyphen, die dem Traumdeuter wie ein Kompendium von Baudelaires eigenem Werk erscheinen. Diese Verrätselung, so Calasso, konnte Baudelaire indes nicht schrecken, im Gegenteil: "Nun brauchte man in den Bildern keinen Feind mehr zu sehen, der mit der Klinge der Bedeutung durchbohrt werden musste, sondern durfte sie als Boten des Unbekannten betrachten, das vielleicht der letzte Gott war, zu dem man sich bekennen konnte: ágnostos théos."

Dieses Unbekannte also, zusammen mit dem Verschwinden kanonischer Gesten, dem Fehlen eines Zentrums, der schnellen Bewegung, dem täglichen Wandel der Dinge, der Verselbständigung der Teile gegenüber dem Ganzen - dies sind hier die Bausteine, aus denen sich jene modernité zusammensetzt, die Baudelaire erspürte, als einer der Ersten benannte und wie kein Zweiter poetisch ins Wort zu setzen verstand. Gewiss, Calassos Art der Annäherung an den Dichter, eine bildungsgesättigte, aber instinktiv-assoziative, ist gewagt. Aber sie ist insofern vielleicht auch die richtige, als Baudelaires Schaffen ja selbst dieser Vorgehensweise ähnelte.

Und wie Calasso über die Interpretation von Malerei und Dichtung das Bild einer Epoche entstehen lässt, deren Merkmale sich eben nicht auf einen gemeinsamen Nenner herunterbrechen lassen, das verdient schon großen Respekt. Für ihn ist es eine Zeit, deren herausragendes Merkmal war, dass sie ohne besondere Prägung auskam. Die Orientierung an Vorbildern aus der Vergangenheit blieb mehr und mehr aus. Dadurch aber, "indem die Vergangenheit verfügbar wurde, verlor sie etwas von ihrer Fremdheit und ihrem Ernst. Von nun an würde diese Flut von Erscheinungen etwas Unechtes haben. Es begann eine neue Ordnung der Einbildungskraft, die, in der wir immer noch leben."

LENA BOPP

Roberto Calasso: "Der Traum Baudelaires".

Aus dem Italienischen von Reimar Klein. Hanser Verlag, München 2012. 494 S., Abb., geb., 34,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Ein extrem anregendes Buch." Ina Hartwig, Die Zeit, 31.01.13

"Calassos Darstellung spiegelt Baudelaires Welt in all ihren Facetten." Karlheinz Stierle, Neue Zürcher Zeitung, 12.01.13

"Lust, Laune, Rausch und Raserei: der italienische Schriftsteller Robert Calasso heftet sich an die Fersen Charles Baudelaires und erkundet mit ihm die Urbilder des modernen Lebens." Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung, 03.01.13

"Dieser ungemein belesene und gelehrte Autor schafft es tatsächlich, dass man sich mit ganz neu erwachtem Interesse den Werken von Baudelaire und seiner Zeitgenossen nährt." Johannes von der Gathen, dpa, 06.11.12