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Was geht in uns vor, wenn wir einen Roman lesen? Was macht seine einzigartige Wirkung aus? Und wie geht die Verwandlung von Wörtern in Bilder vor sich? In den Vorträgen, die Orhan Pamuk an der Universität Harvard hielt, geht er diesen Fragen nach. Dabei beruft er sich auf Schillers berühmten Aufsatz von der naiven und der sentimentalischen Dichtung, auf Homer, Thomas Mann und viele andere. In seinem originellen, persönlichen und kurzweiligen Buch erzählt Pamuk, nach eigenem Bekunden ein "ekstatischer Leser", von seiner Lektüre und seinen eigenen Werken. Dabei vergisst er nie, dass es sich beim Lesen um einen lustvollen Vorgang handelt.…mehr

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Produktbeschreibung
Was geht in uns vor, wenn wir einen Roman lesen? Was macht seine einzigartige Wirkung aus? Und wie geht die Verwandlung von Wörtern in Bilder vor sich? In den Vorträgen, die Orhan Pamuk an der Universität Harvard hielt, geht er diesen Fragen nach. Dabei beruft er sich auf Schillers berühmten Aufsatz von der naiven und der sentimentalischen Dichtung, auf Homer, Thomas Mann und viele andere. In seinem originellen, persönlichen und kurzweiligen Buch erzählt Pamuk, nach eigenem Bekunden ein "ekstatischer Leser", von seiner Lektüre und seinen eigenen Werken. Dabei vergisst er nie, dass es sich beim Lesen um einen lustvollen Vorgang handelt.
Autorenporträt
Orhan Pamuk, 1952 in Istanbul geboren, studierte Architektur und Journalismus. Für seine Werke erhielt er u.a. 2003 den Impac-Preis, 2005 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2006 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt Der Koffer meines Vaters (2010), Cevdet und seine Söhne (Roman, 2011), Der naive und der sentimentalische Romancier (2012), der Katalog Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul (2012), Diese Fremdheit in mir (Roman, 2016), Die rothaarige Frau (Roman, 2017), Istanbul (Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt, 2018) und Die Nächte der Pest (Roman, 2022).

Gerhard Meier, geboren 1957, lebt seit 1986 in Lyon. Er übersetzte u.a. Amin Maalouf, Henri Troyat, Jules Verne, Murathan Mungan, Orhan Pamuk, Ahmet Hamdi Tanpinar und Hasan Ali Toptas.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2012

So habe ich das immer gemacht!

Was können Romanschreiber von Friedrich Schiller lernen? Der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk gibt so naive wie sentimentalische Einblicke in seine Poetologie.

Man stelle sich einmal vor, ein Student der Literaturwissenschaft äußerte in einem Seminar zur Romantheorie Auffassungen wie diese: Er sei fest davon überzeugt, "dass der Zweck der Romankunst vor allem darin besteht, eine akkurate Abbildung des Lebens zu liefern". Unruhe kommt auf: akkurate Abbildung des Lebens? Was haben Sie eigentlich für einen Realismusbegriff? Der Student aber fährt mutig fort: Die "Kerneigenschaft" des Romans bestehe darin, "dass er Alltäglichkeiten hervorhebt und sie durch das Medium der Phantasie in neue Zusammenhänge bringt, so dass sie einen tieferen Sinn des Lebens offenbaren". Ungläubiges Staunen: tieferer Sinn des Lebens? Wo sind wir denn hier - in der Kirche? Und was meinen Sie eigentlich mit Sinn? Doch der Student lässt sich nicht beirren: "Für den modernen aufgeklärten Menschen ist die Lektüre der großen Romane ein Mittel, zu einem tieferen Verständnis der Welt zu gelangen." Allgemeines Stühlescharren und Abbruch der Veranstaltung: Wir lassen uns doch die Narratologie nicht von Vulgärmetaphysikern plattmachen! Der Mann ist bestenfalls komplett naiv!

Es sind dies aber Grundüberzeugungen eines der bedeutendsten Erzähler der Gegenwartsliteratur. Vorgetragen hat er sie 2009 an der Harvard University im Rahmen einer Reihe von sechs Vorlesungen über die Kunst des Romans, die er immerhin so gut beherrscht, dass sie ihm den Nobelpreis für Literatur eingetragen hat. Orhan Pamuk fasst in diesen Vorlesungen die Summe seiner lebenslangen Erfahrungen als Leser von Romanen und seiner immerhin 35 Jahre währenden Praxis als Autor von Romanen zusammen. Außerdem darf er für sich in Anspruch nehmen, "dem theoretischen Aspekt des Schreibens überdurchschnittlich großes Interesse" entgegenzubringen: von Bachtin bis Eco, von Iser bis Schklowski, alles da. Wollte jemand Orhan Pamuk den Vorwurf der Naivität machen, so würde er diesem vermutlich mit größter Gelassenheit begegnen: Ja, naiv sei er schon - aber zugleich doch auch sentimentalisch. Denn: "Je mehr es dem Autor gelingt, zugleich naiv und sentimentalisch zu sein, umso besser werden seine Romane." Und deshalb rede er sich auch gern ein, "den naiven und den sentimentalischen Romanautor in mir in Einklang gebracht zu haben". Dies sei für einen Verfasser von Romanen geradezu der "Idealzustand".

Womit wir bei Friedrich Schiller sind. Orhan Pamuk eröffnet sein Buch, das wir gern eine Hymne an die Freude beim Lesen und Schreiben von Romanen nennen möchten, damit, dass er seiner Bewunderung für Schillers große Abhandlung "Über naive und sentimentalische Dichtung" Ausdruck verleiht: ein Werk, das er seit seiner Jugend verehre und danach immer wieder gelesen habe, zuletzt aber - herrlich, herrlich: die mystische Hochzeit Friedrich Schillers mit Karl May, des Sentimentalischen mit dem Naiven - im fernen Rajasthan bei einer Fahrt durch die "goldfarbene Wüste", wobei ihm in der Wüstenhitze wie eine Fata Morgana die Vision gekommen sei, dieses Buch zu schreiben. Einer Theorie des Romans, die so lebens- wie lektüregesättigt ist, wird man sich unbedingt anvertrauen dürfen.

Pamuk wählt sich Schillers Abhandlung zum theoretischen Wegbegleiter durch die Welt des Romans. Er unterscheidet also den naiven Romancier, der spontan und theoretisch unbekümmert schreibt, von dem sentimentalischen Autor, der sich über jeden seiner Schritte theoretisch Rechenschaft ablegt und jede künstlerische Entscheidung dem kritischen Kalkül unterwirft, um dann freilich im Verlauf seiner Vorlesungen Zug um Zug diese Opposition aufzubrechen zugunsten einer künstlerischen Position, in der sich das Naive mit dem Sentimentalischen vereinigt. Was damit gemeint ist, wird jeder Leser von Pamuks Meisterwerk "Rot ist mein Name" sofort ermessen können: Wer es schafft, einen Kriminal- und Künstlerroman aus 21 unterschiedlichen Figurenperspektiven zu erzählen, den darf man sentimentalisch nennen, und wem es gelingt, sich in jede dieser Figuren mühelos einzufühlen und dem Strom der Bilder, denen sie ausgesetzt sind, zu folgen und die Welt jeweils aus ihrer Perspektive wiederzugeben, der darf im Schillerschen Sinne naiv heißen.

Bilder - dies ist ein wichtiges Stichwort in Pamuks Vorlesungen. Für ihn, der in jungen Jahren Maler werden wollte, steht fest, dass das Wesen des Romans primär durch die Visualität bestimmt wird. "Einen Roman zu schreiben bedeutet, mit Wörtern zu malen, und das Lesen eines Romans ist eine Visualisierung von Bildern, die ein anderer mit seinen Wörtern ausgelöst hat." Deshalb bemüht er sich als Autor darum, "jede Szene wie eine Filmsequenz zu sehen und jeden Satz wie ein Gemälde". Dies erklärt, weshalb Pamuk die Roman-Welt bevorzugt mit Metaphoriken der Sichtbarkeit bezeichnet; "Landschaft" ist sein Lieblingsbegriff für die Gesamtheit aller Elemente eines Romans.

Der Vorstellung dagegen, dass sich die erzählte Welt bevorzugt aus dem Charakter des Protagonisten entwickele, begegnet Pamuk mit Skepsis. Nicht die Charaktere an sich sind für ihn von Bedeutung, sondern "ihre Art, auf die mannigfachen Erscheinungsformen der Welt zu reagieren", mit anderen Worten: die "Landschaft" des Romans in der perspektivischen Brechung durch die Wahrnehmung der Charaktere. "Das markanteste Merkmal des Romans ist, dass er die Welt so zeigt, wie seine Figuren sie mit all ihren Sinnen wahrnehmen." Was dies bedeutet, erläutert Pamuk meisterlich an einer Szene, auf die er im Verlauf seiner Vorlesungen immer wieder zurückkommt: Anna Kareninas Fahrt im Nachtzug von Moskau nach Petersburg nach der Begegnung mit Wronski; jedes Detail im Abteil wird hier zu einem Spiegel des Seelenzustands der jungen Frau. Erst aus der Empathie für die Figuren ergibt sich für Pamuk auch die politische Dimension des Romans: nicht also aus einer politischen Thematik, sondern aus dem Versuch des Romanciers, "alles zu erfassen und jedermann zu verstehen, also die Dinge in ihrer Gesamtheit zu sehen".

Dass die Abenteuer des Lesens, in denen konventionelle Wahrnehmungen aufgebrochen werden und der Leser auch ein Verständnis für Lebensweisen auszubilden lernt, die von der eigenen entschieden abweichen, mit Risiken und unbequemen Nebenwirkungen verbunden sein können, erläutert Pamuk an seiner eigenen Biographie als in einer islamischen Kultur aufgewachsener Leser. "Durch das Lesen von Romanen wurde mir der Übergang von einer traditionellen zur modernen Welt erleichtert, was aber auch bedeutete, dass meine Bindungen zu der Gemeinschaft, der ich eigentlich hätte angehören sollen, immer mehr gelöst wurden und ich vereinsamte."

Die Dinge in ihrer Gesamtheit zu sehen gelingt nach Orhan Pamuks tiefer Überzeugung in der modernen Welt nur noch dem so naiven wie sentimentalischen Romancier und seinem Leser. Was der Leser im Leben und in der Welt nicht mehr finden kann, das sucht und findet er im Roman: die organisierende Kraft innerhalb der Textlandschaft, die Pamuk "das Zentrum" nennt. "Das Zentrum": das sind für Pamuk profunde Lebenseinsichten, Antworten auf die Frage nach der Bedeutung des Lebens, ein tieferes Verständnis des Daseins, das sich im Alltag nicht gewinnen lässt. Pamuk hält daran fest, dass jeder große Roman ein solches Zentrum besitzt und dass es die Suche nach diesem Zentrum ist, die den Leser bei der Lektüre vorantreibt. Um den Leser diesem Zentrum näher zu bringen, muss der Autor aber kluge Strategien der Aufmerksamkeitssteuerung entwickeln: "Das Romanschreiben ist für mich nämlich die Kunst, über wichtige Dinge so zu reden, als seien sie irrelevant, und über unwichtige Dinge, als seien sie relevant." So wird der Leser bei seiner Suche nach dem Zentrum des Romans dazu angehalten, seine Aufmerksamkeit auf sämtliche Elemente der Textlandschaft zu heften.

Orhan Pamuks kleine Romanpoetik ist selbst zugleich naiv und sentimentalisch darin, dass sie einerseits die gesamte bisherige Geschichte des Romans und seiner Theorie voraussetzt und in einigen markanten Kernmaximen zusammenführt und diese doch andererseits durch nichts anderes beglaubigen will als durch seine umfassenden Erfahrungen als Leser und Autor von Romanen. "So habe ich das immer gemacht!" könnte, wie er selbst sagt, der Untertitel seiner Vorlesungen lauten. Sie schöpfen ihre argumentative Kraft aus dem Optimismus, "dass ich nur meine eigenen Erfahrungen beim Schreiben und Lesen von Romanen offen genug darlegen muss, um damit im Grunde alle Romanciers und die Kunst des Romans als solche zu behandeln". Wie naiv! Und andererseits: wie sentimentalisch! Und welches Glück für den Leser.

ERNST OSTERKAMP

Orhan Pamuk: "Der naive und der sentimentalische Romancier".

Aus dem Englischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2012. 173 S., geb., 16,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Was sind sentimentalische, was naive Romanautoren? Ernst Osterkamp erklärt diese Einteilung, die Orhan Pamuk von Schiller übernommen hat, wie folgt: der naive Autor schreibe unbefangen und ohne theoretischen Ballast, er lasse sich auf Gefühle und Stimmungen in und um seine Figuren ein. Der sentimentalische hingegen gehe im Schreiben theoretisch und strategisch vor, er plane und entwerfe. An diesen beiden Begriffen entwickelt Orhan Pamuk dem Rezensenten in den vorliegenden Vorlesungen seine Romanpoetik. Dabei orientiert er sich an seinen eigenen Erfahrungen als Autor und Leser, erfahren wir von Osterkamp. Besonders interessieren ihn die Umbrüche in der Weltwahrnehmung, die Menschen lesend erleben. Osterkamp bezweifelt zwar, dass die Erklärungen des Autors bei jedem Literaturwissenschaftler auf Zuspruch treffen würden, er selbst ist aber begeistert von den - gleichermaßen naiven und sentimentalischen - Ausführungen Pamuks. Der beherrsche zweifelsfrei beide Schreibweisen, weiß der Rezensent.

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