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Odile Blanc, Tochter eines Bauern in einem kleinen Dorf in Savoyen, blickt zurück auf ihr Leben, während sie mit ihrem Sohn Christian, dem Drachenflieger, hoch über der Landschaft ihrer Jugend schwebt. Die Fotografin Patricia MacDonald ist ebenfalls über die Landschaft geflogen, in der John Bergers Geschichte spielt. Ihre außergewöhnlichen Luftaufnahmen stehen in wunderbarem Gleichklang mit dem Text, der vom Verschwinden des bäuerlichen Lebens erzählt, und von der Liebe.

Produktbeschreibung
Odile Blanc, Tochter eines Bauern in einem kleinen Dorf in Savoyen, blickt zurück auf ihr Leben, während sie mit ihrem Sohn Christian, dem Drachenflieger, hoch über der Landschaft ihrer Jugend schwebt. Die Fotografin Patricia MacDonald ist ebenfalls über die Landschaft geflogen, in der John Bergers Geschichte spielt. Ihre außergewöhnlichen Luftaufnahmen stehen in wunderbarem Gleichklang mit dem Text, der vom Verschwinden des bäuerlichen Lebens erzählt, und von der Liebe.
Autorenporträt
Berger, JohnJohn Berger, 1926 in London geboren, war Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker. Bereits 1972 wurde er mit dem Booker Preis ausgezeichnet. John Berger lebte viele Jahre in einem Bergdorf in der Haute Savoie. Er starb 2017 in Paris, nur wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag. Bei Hanser erschienen Essaybände, Gedichte und Romane, zuletzt Gegen die Abwertung der Welt (Essays, 2003), Hier, wo wir uns begegnen (2006), A und X (Eine Liebesgeschichte in Briefen, 2010), Bentos Skizzenbuch (2013), Der Augenblick der Fotografie (Essays, 2016), eine Neuausgabe von Von ihrer Hände Arbeit (Eine Trilogie, 2016) und zuletzt Ein Geschenk für Rosa (2018).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2000

Von oben, ganz nah
„Einst in Europa”, eine Liebesgeschichte von John Berger mit Fotografien von Patricia Macdonald
Als „eine andere Art zu erzählen”,hat John Berger schon in den 80er Jahren die Fotografie charakterisiert. Schwarz-weiß waren damals die Fotos aus dem savoyischen Gebirgstal, wo der englische Essayist und Autor lebt und arbeitet. Sie zeigen melkende Bauern, eine Bäuerin, die strickt, Männer auf dem Viehmarkt und Frauen bei der Feldarbeit. Nun ist eine von Bergers wunderbaren Liebesgeschichten, die Menschen beschreiben und die ganze Welt meinen, zusammen mit Fotografien von Patricia Macdonald erschienen.
Die Bilder brillieren dieses Mal und sie sind menschenleer. Der Mohn blüht sattrot. Der Himmel liegt im tiefen Blau. Auf geblümten Tischdecken stehen Kaffeetassen. Eine Autobahn auf Betonpfeilern schwingt elegant talwärts, über ein Fabrikgelände und den Fluss hinweg, ohne Schleifen, wie sie die alte Straße nehmen muss. Diese Bilder schweben frei, um etwas zu verbergen. Ganz nah zeigen sie nicht das Haus, sondern einen Holzverschlag, nicht das Tier, sondern den Rücken eines Pferdes und ineinander verschlungene Schweine. Gerade die aus der Luft gemachten Aufnahmen öffnen sich nicht auf den ersten Blick. Rotbrauner Industriestaub färbt den Schnee, dass er einem verwitterten Stück Baumrinde gleicht. Die Abraumhalden der Fabrik schieben sich kunstvoll fremd übereinander, als wären sie Terrain auf einem gerade entdeckten Planeten.
Dabei sind es die eigensinnigen Menschen, die einen in John Bergers Erzählung Einst in Europa unvermindert anrühren. Als sie 1988 veröffentlicht wurde, waren gefährdete Natur und bedrohte Umwelt ein wichtiges Thema. Heimatliche Idylle hat in der Geschichte der Bauerstochter Odile Blanc indes keinen Platz. Ihre Geschichte ist traurig, weil Odile viel verliert. Umso überzeugender steht dagegen ihre Sicherheit, dass ein vorletztes Dasein dennoch glücken kann.
Bloß das Glück verändert sich. Als Odile mit ihrem Sohn über das Tal ihrer Jugend fliegt, ist es schon lange nicht mehr dasselbe, das sie „in Europa” erlebt hat. „Europa” nannten die Arbeiter der Manganfabrik ihre Baracken, und Odile hat dort für ein paar Wochen mit Stepan, ihrem russischen Geliebten, gewohnt. Rosen hat er in das Kopfbrett ihres Bettes geschnitzt, sie sind im Schnee spazieren gegangen und Stepan hat ihr das Märchen erzählt, wie zwei Bären den lieben Gott suchen. Er ist dann im Schmelzofen der Fabrik umgekommen. Von ihm stammt der Sohn Christian.
Jahre später wird Odile die Mutter von Michels Tochter, der bei der Arbeit in dieser Fabrik beide Beine verloren hat. Mit Michel ist sie einmal, 1953, in Italien gewesen, auf seinem roten Motorrad über den Großen St. Bernhard gefahren. „Das Paradies ist Ruhe, nicht wahr?, sagt er zu Odile, als beide erkennen, dass sie zusammengehören. „Das Paradies ist, leckt mich alle am Arsch. Du weißt gar nicht, dass sonst noch etwas existiert. Keine Beziehungen im Paradies. Odile, keine Kinder, keine Frauen, keine Männer. Purster Egoismus, das ist das Paradies!”
Eine solche Liebesgeschichte kann man nicht illustrieren. Es fehlt sogar der Hinweis, wo Patricia Macdonald fotografiert hat, ob sie beabsichtigt hat, Einst in Europa auf eine gegenwärtige Art zu erzählen. Ihre Bilder reagieren überraschend. Sie werfen lange Schatten von oben. Sie heben den Standpunkt und sie verkürzen ihn. Sie schwelgen in Farben, sind jedoch entschlossen indirekt. Als sollte das Geheimnis Odiles gehütet werden, dass Liebe mit Mitleiden zu tun hat. Als sie Stepan kennen lernte, hatte sie solche Gedanken und wusste, dass danach ihr Körper „niemals mehr sein würde, wie er war”. Diese Fähigkeit ist kein sentimentales Gerede, John Berger schreibt hoffnungslos optimistisch und hoffnungsvoll altmodisch, was den Menschen anbetrifft. „Sag ihnen Christian”, wendet sich Odile an ihren Sohn, mit: dessen Drachen sie hoch in der Luft fliegen, „sag ihnen, wenn wir auf Erden landen, dass es nichts weiter zu wissen gibt”.
MONIKA SCHATTENHOFER
JOHN BERGER: Einst in Europa. Aus dem Englischen von Jörg Trobitius. Mit Fotografien von Patricia Macdonald. Hanser Verlag, München 2000. 144 Seiten, 45 Mark.
Bilder für den zweiten Blick: zwei der brillanten Farbfotografien von Patricia Macdonald für John Bergers Erzählung Einst in Europa. Erst bei genauer Betrachtung geben sie zu erkennen, aus welcher Nähe oder Höhe sie aufgenommen wurden. Angaben zu Ort und Zeit ihrer Entstehung sind im Buch nicht zu finden.
Foto: Patricia Macdonald
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.2000

Der Gebirgsdrachen
Höhenflüge: John Bergers Erzählung "Einst in Europa"

Hoch über der Landschaft ihrer Kindheit und Jugend, ihres ganzen Lebens, "dreitausend Meter über der Erde", fliegt eine Mutter Drachen mit ihrem erwachsenen Sohn. Unter ihr liegt das Arvetal zwischen Bonneville und Cluses und ihr zu Füßen Margnier am Giffrebach, alles kleine Ortschaften der Haute-Savoie, und senkrecht unter ihr das Metallwerk, wo ihr Mann umgekommen ist und ihr Jugendfreund Michel beide Beine verloren hat. In den Tälern Savoyens, in den großartigen Landschaften der französischen Alpen, haben sich Großindustrien entwickelt, die Täler verseucht und zerstört, aber auch belebt haben, Großindustrien, denen Menschen zum Opfer gefallen sind. Die Protagonisten der Erzählung sind Fabrikarbeiter, oft ehemalige Bauern, die ihr Leben zwischen Eisenbahngleisen und Schlackenhalden verbringen. In nächster Nähe, das wird absichtlich nicht erwähnt, fängt in aller Schönheit die Gebirgslandschaft an.

Erzählt wird die erste Liebe Odiles, der Tochter eines Kleinbauern, dessen Besitz zwischen den Baracken der Arbeiter und der Fabrik eingeklemmt ist, zu einem russischen Gastarbeiter. Von ihm kriegt Odile ein Kind, und er kommt in einem Hochofen zu Tode. Später trifft sie zufällig wieder Michel, der sich auf seinen Prothesen fortschleppt. "Seine beiden Füße in den blankgeputzten Schuhen ruhten einfach auf dem Fußboden. Wie Bügeleisen." Von ihm bekommt sie noch ein Kind. Nun ist sie selber Großmutter und fliegt mit ihrem Sohn hoch über den Fabrikhallen, den Nadelkurven, Schluchten und Schutthalden hinweg. Die Fotografien von Patricia Macdonald, die den Text begleiten, erzählen ihn weiter, sie zeigen kleine Einzelheiten in Großformat, so dass das Unscheinbare eine reiche Geschichte wird und etwas Rätselhaftes bekommt. Der Rücken einer Kuh nimmt sich wie ein schneebedecktes Gebirge aus, es werden auch Landschaften abgebildet, die sich aber nicht mehr von den Gegenständen unterscheiden lassen.

Die Menschen, auf deren Schmerz und Schicksal es einzig ankommt, werden nicht irgendwie beschrieben oder dargestellt, sondern erfasst, so wie sie täglich vom Unglück getroffen werden, wie sie der gewöhnlichen Ungeheuerlichkeit ausgesetzt sind. Aber der Leser erfährt auch von dem Alltag der so genannten "kleinen Leute". Allmählich wird man immer mehr ergriffen vom Ersticken, von der Ausweglosigkeit dieser Existenzen, von der Ungerechtigkeit des Zufalls des Geborenwerdens, dass jeder auch ein anderer hätte sein können. Denn John Berger gelingt es, alle Existenzen von Innen her auszugleichen. Eigenartig ist auch, wie ein solches Leben von einem Besitz ergreift, wie man sich hineinlebt und wie man die Personen der Erzählung erlebt, als wäre man die Person selber. Das gelingt John Berger mit schlichten Stilmitteln, mit kurzen und deutlichen Sätzen. Odile, die zentrale Gestalt der Erzählung, die noch nie eine Treppe erstiegen hat, ist es auch "nie zuvor in den Sinn gekommen, dass man sich aussuchen könnte, wo man leben will".

Das Furchtbare, der tödliche Unfall: der Sturz in den Fabrikschlund scheint zu den Naturphänomenen zu gehören, während sie doch fast nur von der Habgier der Industriellen verursacht werden. Das wird nicht gesagt, nicht kommentiert, nur im Nebeneinander der Tatsachen gezeigt.

Vielschichtig ist diese Erzählung. Sie spielt in Hochsavoyen, und selbstverständlich ist Michel Kommunist, und er weiß von der Zerstörung der Umwelt durch die Industrie. Aber im Gegensatz zu vielen Alpengegenden verfiel Savoyen nie dem "Alpenfaschismus" und der regionalistischen Isolation, es blieb dem Zugang und den Einflüssen offen, ohne seine Eigenarten zu verlieren. Es ist kein Zufall, dass der Widerstand gegen die Naziokkupation hier besonders aktiv gewesen ist. Viele Verfolgte haben zwischen 1940 und 1944 in der Savoie und der Haute-Savoie Zuflucht und Rettung gefunden.

Der zeitliche Kern der Erzählung ist das Jahr 1953, als allmählich die kleineren Bauernhöfe eingehen und die Bauern Fabrikarbeiter werden. Das Wesentliche aber an dieser Geschichte ist nicht das soziologisch Interessante, sondern das Leben der hier auftretenden Menschen und wie der Leser in jede Person versetzt wird durch kleine Dinge: "Ich sehe das Dach, den Birnbaum neben dem Scheißhaus, den Kuhstall, in dem wir Holz aufbewahren, mit Bienenkörben auf dem Balkon - die Wanne, in der ich für Mutter Laken wusch, ist mit Schnee gefüllt . . ."

GEORGES-ARTHUR GOLDSCHMIDT.

John Berger: "Einst in Europa". Mit Fotografien von Patricia Macdonald. Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Trobitius. Hanser Verlag, München 2000. 132 S., geb., 45,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Hermann Wallmann bespricht das offenbar weihevolle Werk John Bergers (mit kongenialen Fotografien von Patricia Macdonald) selbst derart weihevoll, dass nur Peter Handke fehlt, der dann in einem ausführlichen Zitat prompt auch noch zu Wort kommt. Was die Sprache nur halb zu leisten vermöge, so Wallmann mit Berger, das vollende hier die Fotografie: der Leser/Betrachter fühle sich "wie ein Wort im Atem einer Stimme", endlich "zuhause unter den Erscheinungen" und gerate ins Schweben wie die Hauptfigur dieser Erzählung.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Der britische Autor verfügt über einen Erzählton, der schlicht und einfach als Seelenklang zu bezeichnen ist, mit Schwingungen, die in der Gegenwartsliteratur einzigartig sind."
Werner Krause, Kleine Zeitung, 18.03.00

"Eine von Bergers wunderbaren Liebesgeschichten, die Menschen beschreiben und die ganze Welt meinen."
Monika Schattenhofer, Süddeutsche Zeitung, 22.03.00

"Die Menschen, auf deren Schmerz und Schicksal es einzig ankommt, werden nicht irgendwie beschrieben oder dargestellt, sondern erfasst, so wie sie täglich vom Unglück getroffen werden, wie sie der gewöhnlichen Ungeheuerlichkeit ausgesetzt sind. Das gelingt John Berger mit schlichten Stilmitteln, mit kurzen und deutlichen Sätzen."
Georges-Arthur Goldschmidt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.04.2000