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Muss sich das Strafrecht in Anbetracht der Erkenntnisse der Hirnforschung grundlegend ändern? Muss es auf eines seiner wichtigsten Fundamente, das Schuldprinzip, verzichten, als Schuldstrafrecht sogar abgeschafft werden? Diese Fragen haben in jüngster Zeit nicht nur Debatten zwischen namhaften Wissenschaftlern aus den Bereichen der Hirnforschung, der Rechtswissenschaft und der Philosophie ausgelöst. Sie stoßen auch in der Gesellschaft insgesamt auf ein breites und vitales Interesse. Diesen Fragen geht die Verfasserin in ihrer Dissertation ausführlich nach. Die Freiheitsannahmen des…mehr

Produktbeschreibung
Muss sich das Strafrecht in Anbetracht der Erkenntnisse der Hirnforschung grundlegend ändern? Muss es auf eines seiner wichtigsten Fundamente, das Schuldprinzip, verzichten, als Schuldstrafrecht sogar abgeschafft werden? Diese Fragen haben in jüngster Zeit nicht nur Debatten zwischen namhaften Wissenschaftlern aus den Bereichen der Hirnforschung, der Rechtswissenschaft und der Philosophie ausgelöst. Sie stoßen auch in der Gesellschaft insgesamt auf ein breites und vitales Interesse. Diesen Fragen geht die Verfasserin in ihrer Dissertation ausführlich nach. Die Freiheitsannahmen des Schuldprinzips werden aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Perspektive betrachtet. Ungelöste, teils noch kaum wahrgenommene Probleme der sog. "automatisierten Verhaltensweisen" werden strafrechtsdogmatisch analysiert, ihre bisher allenfalls beiläufige rechtliche Behandlung wird wie die der sog. "Willkürbewegungen" anhand neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse kritisch überprüft. DieseErkenntisse bestätigen die Abhängigkeit alles mentalen Erlebens des Menschen von neuronalen, also biologischen Vorgängen; darauf gründet die Verfasserin ihre Überlegungen. Ausführlich erörtert sie auch die vieldiskutierten "Libet-Experimente".

Die Untersuchung mündet in einem gewissen Dilemma, das freilich als Aufgabe begriffen und formuliert wird: Konsequent zu Ende gedacht, lasse sich das von der Hirnforschung entworfene Menschenbild mit der personalen Schuldzuschreibung des Strafrechts nicht vereinbaren. Man werde die Grundfragen neu behandeln und irgendwann mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben in Einklang bringen müssen, mit denen die Verfasserin bestimmende Elemente des heutigen Strafrechts im Widerspruch sieht.

Ausgezeichnet mit dem Joachim-Jungius-Förderpreis der Universität Rostock.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2007

Ein Plädoyer für das Wegsperren

Steht unser Strafrecht im Widerspruch zur Verfassung? Grischa Detlefsen behauptet genau dies. Sie führt mit den Mitteln der Hirnforschung eine mutige Attacke gegen den Schuldvorwurf.

Strafe setzt Schuld voraus", so beginnt eine der berühmtesten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Mit dem Schuldurteil werde dem Täter vorgeworfen, dass er sich für das Unrecht entschieden habe, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liege darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt sei. Deshalb sei er befähigt, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden.

Die Praxis der Strafgerichte ist freilich weit weniger erhebend, als es diese mit dem Pathos der fünfziger Jahre getränkten Sätze erwarten lassen. Auf die Frage der Schuldfähigkeit wird nur eingegangen, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine krankhafte seelische Störung vorliegen; ansonsten wird die schuldbegründende Entscheidungsfreiheit des Angeklagten schlicht als gegeben unterstellt.

Der Versuch Grischa Detlefsens, "die Voraussetzungen strafrechtlicher Schuld vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Neurowissenschaft zu überprüfen", ist hingegen dadurch gekennzeichnet, dass sie den Bundesgerichtshof beim Wort nimmt. Die dahinterstehende strategische Absicht wird rasch deutlich. Je anspruchsvoller das Schuldprinzip gefasst wird, desto einfacher ist es, im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts den Stab über ihm zu brechen. Nichts Geringeres als dies ist Detlefsens Ziel. Mit ihrem Buch, einer Rostocker juristischen Dissertation, ist die Kritik, die Gerhard Roth und Wolf Singer am herkömmlichen Schuldstrafrecht üben, im Inneren der belagerten Zitadelle angekommen.

Keine Steuerungsmöglichkeiten

Detlefsens Angriff auf das Schuldprinzip fußt auf zwei Prämissen. Zum einen übernimmt und radikalisiert die Autorin die vom Bundesgerichtshof vorgezeichnete Verknüpfung von Schuldbegriff und Indeterminismus. "Schuld einer Person ist ohne eine Letztverantwortung des Menschen, die auf seinem Willen als Causa sui gründet, nicht denkbar." Kant hätte es nicht schärfer formulieren können.

Zum anderen behauptet Detlefsen eine Bindung der strafrechtlichen Schuldlehre an die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften. Zwar sei Schuld ein normativer und kein erfahrungswissenschaftlicher Begriff. Anders verhalte es sich hingegen im Hinblick auf die tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen Schuld zugesprochen werde. "Hier gibt es einen prozessualen Vorrang objektiver Kriterien." So werde es allgemein als selbstverständlich betrachtet, dass erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse heranzuziehen seien, soweit es um die Begründung der Schuldunfähigkeit gehe. Dann aber müsse ein positiver Begriff von Schuld als Minimum zwingend die Kehrseite dieser empirischen Annahmen, zuvörderst also die Steuerung des Verhaltens durch den Willen, enthalten.

An dieser Stelle kommt, wenig überraschend, die Gehirnforschung ins Spiel. Neurowissenschaftlich sei nämlich mittlerweile erwiesen, dass eine solche Steuerungsmöglichkeit nicht bestehe. Die Untersuchungen Libets und anderer hätten gezeigt, dass die bewegungseinleitende neuronale Aktivität bereits vor dem subjektiv erlebten Willensentschluss zur Durchführung der konkreten Bewegung einsetze. Dem Willen komme weder eine Initiativ- noch eine Wahl- oder eine Vetofunktion zu. Der Täter habe in der konkreten Situation nicht anders handeln können, als er dies getan habe. Mit diesem Befund sei dem herkömmlichen Schuldstrafrecht die Grundlage entzogen.

Wenn Geist und Wille das Verhalten gerade nicht auslösten, dann könne eine gleichwohl auf dieser Grundlage beruhende Strafe nur noch so gedeutet werden, dass dem Menschen zur Vermeidung der Bestrafung schlichtweg Übermenschliches abgefordert werde. Dies aber stelle einen eklatanten Verstoß gegen den ehrwürdigen Gerechtigkeitsgrundsatz dar, dass Unmögliches nicht gefordert werden dürfe, und missachte die Menschenwürde des Betroffenen. "Das Strafrecht befindet sich damit im Widerspruch zur Verfassung."

Achtung der Menschenwürde bedeutet für Detlefsen "einfach, den Menschen so zu respektieren, wie er ist", und Vorwürfe oder andere persönliche Unwerturteile zu unterlassen. Zwar seien in Fällen, in denen eine schwere Gefahr vom Delinquenten ausgehe, sichernde Maßnahmen unverzichtbar; es sei fairer, den, obschon unschuldigen, Täter die Folgen seines Zustands tragen zu lassen, als sie auf Dritte abzuwälzen. Im Vordergrund des künftigen Sanktionenrechts müssten jedoch speziell auf die Persönlichkeit des Täters zugeschnittene therapeutische Hilfsangebote stehen. "Die herkömmliche Übelszufügung mag auf den ersten Blick härter erscheinen und befriedigt eher das Vergeltungsbedürfnis, die andere fordert aber eine größere persönliche Anstrengung des Delinquenten und verspricht einen größeren zukünftigen Gewinn für die Gesellschaft."

An steilen Thesen mangelt es in Detlefsens Arbeit somit nicht, und schon dafür verdient sie im Hinblick auf das öde Grau in Grau des heutigen juristischen Promotionswesens großes Lob. Aber wie steht es um die Überzeugungskraft ihrer Grundannahme? Hängt die Berechtigung eines im Freiheitsgedanken verwurzelten Schuldstrafrechts wirklich von einem solch rigiden Indeterminismus ab, wie er Detlefsen vorschwebt?

Glücklicherweise ist dies nicht der Fall. Das indeterministische Freiheitsverständnis ist nämlich schon aus rein begrifflichen Gründen alles andere als überzeugend. Eine Entscheidung, die unter exakt gleichen Bedingungen auch anders hätte ausfallen können, ähnelt eher der grundlosen Beliebigkeit eines Münzwurfs als einem freiverantwortlichen Handeln. Die Aufhebung jeglicher Abhängigkeit einer Handlung vom Handelnden erweitert deshalb nicht etwa dessen Handlungsspielraum, sondern macht ihm selbstbestimmtes Handeln unmöglich.

Die Kraft des Geistes

Der Philosoph Peter Bieri hat auf diesen Befund mit seiner Konzeption der Determination durch Gründe reagiert. Wenn der Akt des freien Entscheidens bedeutet, dass der Handelnde seinen Willen an Gründe bindet, schließt Bieri zufolge das Moment der Offenheit der Entscheidung deren rationale Bedingtheit nicht aus. Der Handelnde ist demnach frei, wenn er will, was er auf der Basis der ihm zustehenden Informationsausstattung für richtig hält. Wenn das von ihm Gewollte rechtswidrig ist und er dies erkennen konnte, dann handelt er schuldhaft.

Detlefsen würde dem vermutlich die These entgegenhalten, Gründe seien nichts weiter als Epiphänomene neuronaler Verschaltungen. Sonderlich plausibel ist das freilich nicht. Wie Eccles und Popper gezeigt haben, läuft der Epiphänomenalismus allem zuwider, was wir über die Evolution wissen. Zudem hat man nach einer Bemerkung Reinhard Brandts noch in keiner Gehirnzelle und in keiner Synapse das Äquivalent eines Urteils, zumal einer Verneinung, entdeckt. Jedenfalls würde Detlefsen mit dem Bekenntnis zu einem naturalistischen Monismus endgültig den Bereich des erfahrungswissenschaftlich Beobachtbaren verlassen und eine metaphysische These vortragen - und zwar eine solche, die sich von ihrer Struktur her um nichts von dem heute verfemten objektiven Idealismus Hegels unterscheiden würde, der in allen Naturprozessen die begründende Kraft des Geistes am Werk sieht.

Verfassungsfeind Nummer eins

Zur kritischen Attitüde Detlefsens passt auch schlecht die - man möchte fast sagen - Blauäugigkeit, mit der sie ihr alternatives Modell des Umgangs mit Delinquenten präsentiert. Therapiekonzepte in allen Ehren - aber was ist, wenn der Delinquent sich ihnen entzieht? Dass man ihn nicht zu seinem Glück zwingen darf, ist unstreitig und wird auch vom geltenden Strafvollzugsrecht anerkannt. Für diesen, den eigentlich harten Fall bleibt Detlefsen lediglich der Rückgriff auf die Logik der Sicherung, weniger vornehm ausgedrückt: des Wegsperrens. Ob damit, wie die Autorin hofft, ein Zugewinn an Humanität einhergeht, ist höchst fraglich. Milde kann nur gegenüber vorwerfbarem Verhalten geübt werden. Im Bereich der Sicherungsverwahrung dominiert die kühle Gefahrenprognose. Die konsequent durchgeführte Sicherungsverwahrung hat weder ein im Vorhinein bestimmtes Ende, noch setzt sie zwingend das Vorliegen einer rechtswidrigen Tat voraus. Auch der Arzt wartet schließlich nicht den Ausbruch einer Krankheit ab, sondern sucht ihr vorzubeugen. Was Detlefsen als demütige Anerkennung der Natur des Menschen anpreist, hat, zu Ende gedacht, freiheitszerstörende Konsequenzen.

So bleibt am Ende von Detlefsens mutiger und anregender Generalattacke auf das Schuldstrafrecht nicht viel übrig. Die Strafrechtler kommen auch künftig nicht in die Gefahr, dem Bundesverteidigungsminister die Rolle als Verfassungsfeind Nummer eins streitig zu machen. Und die Straftäter dürfen sich darauf freuen, weiterhin die freiheitssichernden Errungenschaften des Schuldstrafrechts genießen zu können.

MICHAEL PAWLIK

Grischa Detlefsen: "Grenzen der Freiheit - Bedingungen des Handelns - Perspektiven des Schuldprinzips". Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2006. 398 S., geb., 79,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Zwar findet Michael Pawlik diese Rostocker Jura-Dissertation "mutig und anregend", am Ende lässt er jedoch nicht viel übrig von diesem Generalangriff auf das Strafrecht. Ausgehend von angeblichen Erkenntnissen der Hirnforschung, wodurch Handeln nicht durch Wollen induziert werde, will Grischa Detlefsen das auf dem Schuldprinzip basierende Strafrecht revidieren. Denn wo es keine letzte Verantwortung des Menschen gibt, gibt es keine Schuld, und ohne Schuld darf es keine Strafe geben. Ihr Alternativentwurf setzt dabei vor allem auf ausgedehnte Therapiekonzepte, die Pawlik allerdings blauäugig erscheinen und dem kritischen Impetus der Autorin zuwiderlaufen. Denn was, fragt er, ist mit einem Delinquenten, der (oder dessen Hirn) keine Therapie annehmen will? Hier fürchtet Pawlik, drohe eher eine Ausweitung der Sicherungsverwahrung als ein humanerer Strafvollzug. Doch auch wenn diese Arbeit für ihn nicht aufgeht, hebt sie sich in seinen Augen wohltuend vom "Grau in Grau" der gängigen Dissertationen ab.

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