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Kann Strafverfolgung opferorientiert sein? Spektakuläre Prozesse um sexuellen Missbrauch von Kindern haben diese Frage aufgeworfen. Der Autor zeigt eine Möglichkeit, wie sich ein Widerspruch zwischen öffentlichem Strafverfolgungsinteresse und der Berücksichtigung des Opfers als Rechtssubjekt vermeiden lässt. Opferschutz im Strafverfahren besteht nicht in Vergeltung oder Genugtuung, sondern darin, dem Opfer eine Rechtsposition einzuräumen, die es ihm ermöglicht, mit seiner Geschichte des erlittenen Unrechts gehört zu werden.
Ausgehend von empirischen Befunden wird argumentiert, dass sowohl
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Produktbeschreibung
Kann Strafverfolgung opferorientiert sein? Spektakuläre Prozesse um sexuellen Missbrauch von Kindern haben diese Frage aufgeworfen. Der Autor zeigt eine Möglichkeit, wie sich ein Widerspruch zwischen öffentlichem Strafverfolgungsinteresse und der Berücksichtigung des Opfers als Rechtssubjekt vermeiden lässt. Opferschutz im Strafverfahren besteht nicht in Vergeltung oder Genugtuung, sondern darin, dem Opfer eine Rechtsposition einzuräumen, die es ihm ermöglicht, mit seiner Geschichte des erlittenen Unrechts gehört zu werden.

Ausgehend von empirischen Befunden wird argumentiert, dass sowohl ein besserer Schutz der Rechtsgüter als auch die Respektierung des kindlichen Opferzeugen rechtspolitisch, verfassungsrechtlich und strafrechtstheoretisch geboten ist. Dies ist aber nur dann realisierbar, wenn es gelingt, den Täter von einer konfrontativen Verteidigung abzuhalten. Bei einer Vorverlagerung der Beweiserhebung in das Ermittlungsverfahren ergibt sich eine Möglichkeit, einerseits den kindlichen Opferzeugen zu schützen und andererseits ein Angebot für den Täter vorzubereiten, das diesen zu einem Einlenken bewegen kann. Ein sinnvolles Angebot besteht in einer Psychotherapie, die anstelle der Strafe als Auflage verhängt wird.

Mit Hilfe dieser Alternative ist eine funktionsfähige Strafrechtspflege zu erwarten, da sie Opfern und Tätern einen ersten Schritt zu einem konstruktiven Umgang mit der Tat ermöglicht, anstatt nur auf Verfolgung und Strafe zu setzen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2003

Kann Täterhilfe Opferhilfe sein?
Zwei Werke über rechtliche Zielkonflikte bei Kindesmißbrauch

Die Humanität einer Rechtsordnung zeigt sich darin, wie intensiv sie sich um den Schutz für ihre schwächsten Mitglieder bemüht. Ein eigenes Rechtsgebiet "Kinderrecht" gibt es allerdings nicht. Die Schutzbestimmungen sind über die ganze Rechtsordnung verstreut, weil sie historisch an einzelnen Stellen gewachsen und entstanden sind. Auch derzeit sind Aufmerksamkeitsverschiebungen im Gang, die die Öffentlichkeit weiter für die Opferrollen des Kindes sensibilisieren. Zwei einander ergänzende Bücher widmen sich den Problemen von Kindesmißhandlung und sexuellem Kindesmißbrauch. Der dickleibige Sammelband von Helfer, Kempe und Krugman versucht eine Bestandsaufnahme aller Aspekte, während die Frankfurter juristische Dissertation von Matthias Jäger-Helleport für bestimmte Mißbrauchskonstellationen den provokanten Vorschlag einer vorzeitigen Verfahrenseinstellung unterbreitet.

Unsere Vorstellung von Kindesmißhandlung fußt auf einem normativ vorhandenen Begriff des Kindeswohls, der stark kulturabhängig ist. Es ist das Verdienst von Helfer, Kempe und Krugman, diese Wertungsabhängigkeit offenzulegen, ohne dem Leser Beliebigkeit zu suggerieren. Im Eröffnungsbeitrag von Robert Ten Bensel, Marguerite Rheinberger und Samuel Radbill wird deutlich, daß historische Gesellschaften die Rolle des Kindes selbstverständlich anders sahen: Nicht alles war früher schlechter, meist jedoch waren Züchtigungs- und andere Verfügungsbefugnisse deutlich umfassender. Aber auch heute müssen kulturabhängige Wertungswidersprüche ausgehandelt werden, etwa bei interkulturellen oder religiös fundierten Konflikten um das Kindeswohl.

Moralisch schwer aufzulösen sind etwa die Fälle, die Kenneth Wayne Feldman unterbreitet: Wie etwa sollen volkstümliche chinesische Heilpraktiken bewertet werden, bei denen Kindern Verbrennungen durch einen Naturheiler zugefügt werden? Andrea Rosenberg listet kirchliche Gemeinschaften auf, die medizinische Versorgungsleistungen grundsätzlich ablehnen und bei denen sich das medizinethische Problem stellt, ab wann man intervenieren soll. Auch zur Ruhigstellung von Kindern begegnet man sowohl in historischen wie zeitgenössischen Gesellschaften Praktiken, die verstören: Handelt es sich etwa bei der genitalen Manipulation um Kindesmißhandlung oder gar -mißbrauch? Hinter all diesen Fragen lauert das Dilemma der modernen Normalisierungsgesellschaft, die mit all ihren vermeintlichen Segnungen zugleich immer rigidere Normen des Normalen setzt.

Doch die alltäglichen Mißbrauchsfälle, die Mediziner, Juristen und Beamte beschäftigen, scheinen in ihrer schillernden Brutalität zunächst kein Material, das zu moralphilosophischen Abwägungen aufforderte. Vielmehr muß es darum gehen, pragmatisch die gegenwärtige Not zu lindern, künftig Schutz zu gewähren und Täter zu bestrafen. Allerdings kehrt die Frage nach der Verwicklung von Gut und Böse wieder durch die Hintertür herein, wenn das Kind gerade durch sein familiäres Umfeld leidet. Hier muß ein Urteil darüber gefällt werden, in welchen Fällen der Staat ein besseres Umfeld schaffen kann als die mißhandelnde Familie.

Faszinierend ist die medizinische Fortschrittsgeschichte, die aus mehreren Aufsätzen durchscheint. Neue Techniken ermöglichen sehr präzise Bestandsaufnahmen. Das ist besonders wichtig bei Patienten, die sprachlich keine präzise Auskunft geben können, weil sie entweder zu klein sind oder jemand sie bereits zu Tode gequält hat. Neue Krankheitsbilder kommen hinzu; beim Münchhausen-by-proxy-Syndrom täuscht die Mutter beim Kind Krankheitssymptome vor, obwohl es eigentlich gesund ist. Das Kind muß schmerzhafte Untersuchungen und unangemessene Behandlungen durchleiden, weil die Mutter stellvertretend die Patientenrolle übernehmen will oder generell Aufmerksamkeit wünscht. Wer den Alltag einer Kinderarztpraxis kennt, kann die Schwierigkeiten ermessen, dieses Muster zu durchschauen.

In ihrer empirischen Bedeutung noch völlig unterschätzt wird die Kindesvernachlässigung, auf die Hendrika B. Cantwell hinweist. Durch mangelhafte Versorgung und Beaufsichtigung sterben in den Vereinigten Staaten mehr Kinder als durch körperliche Mißhandlung. Nicht alle Varianten sind so spektakulär wie etwa das Verhungern- oder Verdurstenlassen. Auch nichtletale Formen von Vernachlässigung können zu lang andauernden Schädigungen führen. Den Leser beschleicht der Verdacht, daß die folgenreiche grobmotorische Vernachlässigung von Kindern womöglich das kommende Problem der mediensüchtigen "Informationsgesellschaft" ist. Statt deren Rennen, Springen und lärmendes Spielen zu ertragen, werden Kinder von einer Allianz von verkaufstüchtigen Konzernen und planlosen Pädagogen mit Computern versorgt.

Neben vielen faszinierenden Details, die die ausgewiesenen Experten multidisziplinär ansprechen, verliert sich allerdings die Linie des Ganzen bedenklich. Einunddreißig Beiträge kommen auf den Leser zu, der allerdings weniger wegen deren wechselnder Qualität besorgt ist. Eher bemängelt man mit zunehmender Lektüre die fehlende Abstimmung. Trotz seines Umfangs und Facettenreichtums bleibt der Band daher hinter seinem Anspruch zurück, ein Handbuch zu sein. Erst recht unbefriedigend für deutsche und europäische Leser ist die Fixierung der Autoren auf Amerika. Daran ändert auch die dichte Darstellung der deutschen Rechtslage durch Stefan Heilmann und Ludwig Salgo wenig. Gerade anschauliche Praktikerberichte über das Vorgehen der verschiedenen Behörden beim Verdacht von Kindesmißbrauch könnten die Strukturprobleme zeigen. Dabei geht es nicht nur um die notorische Unterfinanzierung gerade jener Instanzen, von denen die Gesellschaft moralisch besonders viel erwartet. Vielmehr stimmen die von Catherine Marneffe geschilderten Zielkonflikte zwischen den Maximen Strafen und Helfen nachdenklich. Staatliche Interventionen in den sozialen Nahbereich sind oft nicht so filigran, wie man es sich wünschen würde, und zwar gerade im Interesse der Opfer.

Ob man unbedingt das Strafrecht mobilisieren sollte, um gegen Kindesmißhandlungen und Kindesmißbrauch vorzugehen, ist weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Zwar können Gerichtsverfahren vieles klären, sie rekonstruieren verbindlich Tathergänge, legen im Urteil Schuld und Verantwortung fest und bekräftigen staatliche Verbote. Zugleich bergen sie auch die Gefahr weiterer Beschädigungen des Opfers, die die Kriminologen als "sekundäre Viktimisierung" bezeichnen.

Der Jurist Matthias Jäger-Helleport sucht nach Auswegen aus diesem Dilemma. Das Problem des Strafrechts liegt darin, daß der Schärfe seiner Konsequenzen die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens entsprechen muß. Die Rechte des potentiellen Täters sind in allen Verfahrensstufen umfassend normiert. Als Verdächtigter, Beschuldigter und Angeklagter muß er informiert werden, darf schweigen, aber sich auch wehren können. Dies bringt leicht eine Schieflage zu Lasten des Opfers mit sich, die bei Kindern schnell dramatisch werden kann. Anders gesagt: Die Strafverfolgung im Interesse des Kindeswohls kann genau dieses beschädigen. Nicht von ungefähr schreckt selbst die große Mehrheit der staatlichen Beratungsstellen vor Anzeigen zurück.

Zwar ist es in den letzten Jahren nachgerade modisch geworden, das Opfer und seine Interessen wieder in den Fokus der Rechtspolitik zu stellen. Jäger-Helleports Arbeit unterscheidet sich durch Präzision und Empirie wohltuend von der allgemeinen Diskussion. Instruktiv listet er die "Stressoren" auf, die Kinder im Verfahren belasten, und kontrastiert sie mit den bestehenden Schutzvorschriften, die das Strafprozeßrecht gewährt. Dabei wird deutlich, daß es zwar Vorkehrungen gibt, sie jedoch mit Mängeln behaftet sind. Wichtig ist etwa der Hinweis, daß der Ausschluß der Öffentlichkeit einerseits zu selten erfolgt, andererseits auch in diesem Fall die Kinder durch die verbleibenden zahlreichen Prozeßbeteiligten belastet werden.

Doch Jäger-Helleport zieht aus seiner Bestandsaufnahme nicht nur den naheliegenden Schluß, daß praxisorientierte Verbesserungen im Detail not tun. Er geht das Problem grundsätzlich an und fragt, ob man Kindern nicht wesentliche Belastungen ersparen kann, wenn man den Konflikt einer gerichtlichen Hauptverhandlung entzieht. Statt dessen schlägt er eine Verfahrenseinstellung ("Diversion") vor, die mit bestimmten Auflagen für den Beschuldigten verbunden ist, insbesondere einer Psychotherapie. Der Staat soll also mit dem Täter paktieren, um das Opfer zu schonen.

Natürlich schränkt Jäger-Helleport den Vorschlag auf bestimmte Konstellationen ein: Es darf sich nicht um einen Fall von Schwerkriminalität handeln, der Beschuldigte muß umfassend kooperieren, und er darf keine schwere Persönlichkeitsstörung aufweisen. Womöglich sind die Therapiechancen für den Täter tatsächlich größer und die Belastungen für das Kind geringer, da seine Aussage nur in einem frühen Verfahrensstadium erfolgt. Dennoch muß man sich darüber im klaren sein, daß jeder Abschied aus der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens Risiken birgt. Jenes bietet institutionelle Sicherheiten und Transparenz, die man bei den zunehmenden "Einstellungen" und "Verständigungen" vermißt, welche sich in den Vorzimmern der Justiz abspielen. Der juristische Formalisierungsgrad und die institutionelle Kontrolle müßten jedenfalls sehr hoch sein. Und ob darüber hinaus nicht den sozialreformerischen Hoffnungen auf eine Abkehr vom Strafrecht zugunsten des Helfens und Schlichtens eine prinzipielle Selbstüberschätzung der Gesellschaft zugrunde liegt, bleibt vollends offen.

MILOS VEC

Mary Edna Helfer, Ruth S. Kempe, Richard D. Krugman (Hrsg.): "Das mißhandelte Kind". Körperliche und psychische Gewalt. Sexueller Mißbrauch. Gedeihstörungen. Münchhausen-by-proxy-Syndrom. Vernachlässigung. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Stopfel, Petra Bohne und Reinhard Herborth unter Mitarbeit von Regine Strotbek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 1025 S., Abb., br., 39,90 [Euro].

Matthias Jäger-Helleport: "Konstruktive Tatverarbeitung des sexuellen Mißbrauchs von Kindern im Strafrecht". Strafrechtliche Abhandlungen, Band 148. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2002. 397 S., br., 80,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eine Strafverfolgung "im Interesse des Kindeswohls, kann genau dieses beschädigen", so fasst Milos Vec das Dilemma zusammen, aus dem diese Frankfurter juristische Dissertation einen Ausweg sucht. Einen "provokanten Vorschlag" nennt Milos Vec, wofür Jäger-Hellport argumentiert: Indem man viele Fälle einer gerichtlichen Hauptverhandlung entzieht, sollen den Kindern wesentliche Zusatzbelastungen, die Juristen auch "sekundäre Viktimisierung" nennen, erspart werden. Der Rezensent fragt dagegen, ob einer Abwendung vom Strafrecht zugunsten von Helfen und Schlichten nicht eine "prinzipielle Selbstüberschätzung der Gesellschaft" zugrunde liege. In "den Vorzimmern der Justiz" mangele es häufig erheblich an Transparenz und klaren Regeln. Jäger-Helleports Arbeit unterscheide sich jedoch, bescheinigt ihm Vec, "durch Präzision und Empirie wohltuend von der allgemeinen Diskussion", in der es "nachgerade modisch" geworden sei, das Opfer in den Mittelpunkt der Rechtspolitik zu stellen.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Eine bemerkenswerte Ausnahme, ja geradezu ein Bollwerk in diesem zeitgeistigen Mainstream stellt das hier besprochene Buch dar. [...] Jäger-Helleport gelingt das Kunststück, mit zeitgemäßen Argumenten die den Rechtsstaat erodierenden Zeitgeistströmungen gleichsam zu unterlaufen, das Strafverfahren zugleich zu modernisieren und rechtsstaatlich abzusichern, indem er maßnahme-ähnliche, spezifisch auf die häufig psychisch schwer gestörten Sexualstraftäter zugeschnittene und vor allem effektive Interventionsmaximen formuliert. Erwähnt werden können hätten vielleicht noch pragmatische Umsetzungsvorschläge - z. B. die Form des Gesetzesexperiments - und Anregungen zur Begleitforschung. Das höchst empfehlenswerte Buch ist für Nichtjuristen wohl nicht einfach zu lesen. Das ändert aber nichts daran, dass es ein gelungener Versuch ist, den interdisziplinären Anspruch in widrigen Zeiten aufrechtzuerhalten.«
Lorenz Böllinger, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 1/2004