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Auslieferung 7. März 2006
Edith Hecht wurde 1944 ermordet, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Sie war eines von mehr als dreihundert behinderten Kindern, die zwischen 1940 und 1945 in der Nähe Münchens vergiftet wurden. Insgesamt fielen allein in Bayern 20000 kranke Menschen der Euthanasie zum Opfer. Nach dem Krieg wurde kaum einer der Täter zur Verantwortung gezogen. Man breitete einen Mantel des Schweigens über dieses furchtbare Kapitel.
Der Journalist Markus Krischer arbeitete zwölf Jahre lang an diesem Fall, recherchierte in Archiven und befragte die letzten Zeitzeugen. Er
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Produktbeschreibung
Auslieferung 7. März 2006

Edith Hecht wurde 1944 ermordet, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Sie war eines von mehr als dreihundert behinderten Kindern, die zwischen 1940 und 1945 in der Nähe Münchens vergiftet wurden. Insgesamt fielen allein in Bayern 20000 kranke Menschen der Euthanasie zum Opfer. Nach dem Krieg wurde kaum einer der Täter zur Verantwortung gezogen. Man breitete einen Mantel des Schweigens über dieses furchtbare Kapitel.

Der Journalist Markus Krischer arbeitete zwölf Jahre lang an diesem Fall, recherchierte in Archiven und befragte die letzten Zeitzeugen. Er rekonstruiert die Zusammenhänge, nennt die Namen, porträtiert Opfer und Täter: Edith Hecht und die verzweifelt um das Leben ihrer Tochter kämpfenden Eltern. Der Kriegsinvalide Max Gaum, der seinen eigenen Tod herbeisehnte und die Ermordung von Tausenden organisierte. Der spätere Präsident der Bundesärztekammer Hans Joachim Sewering, der als junger Arzt angeblich ahnungslos war.

Autorenporträt
Markus Krischer, geboren 1962, gehört zur Gründungsmannschaft des Nachrichtenmagazins Focus, für das er als stellvertretender Leiter des Ressorts Deutschland Aktuell arbeitet. Für Focus recherchiert er immer wieder zeitgeschichtliche Themen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2007

Tödliches Pluszeichen
Kindereuthanasie im nationalsozialistischen Bayern

Im August 1941 versehen sowohl der Kinderarzt Ernst Wentzler als auch der Psychiater Hans Heinze sowie der Leiter der Universitätsklinik in Leipzig Werner Catel die Akte Edith Hecht mit einem Pluszeichen. Ein Minuszeichen hätte Edith das Leben erhalten - das Pluszeichen bedeutet ihren sicheren Tod. Die wie auch in allen anderen Fällen in Abwesenheit der Betroffenen vorgenommene Begutachtung erfolgt im Namen der "Kanzlei des Führers". Denn von hier aus und mit der persönlichen Ermächtigung Adolf Hitlers wird die planmäßige Ermordung behinderter Kinder in ganz Deutschland organisiert. Die Zahl dieser Morde lässt sich mit etwa 5000 beziffern.

Die Ermordung von Edith Hecht erfolgt im Rahmen der Kindereuthanasie. Nachdem ihn Angehörige um Sterbehilfe für unheilbar kranke Familienmitglieder gebeten haben, erteilt Hitler Anfang 1939 über seinen chirurgischen Begleitarzt Karl Brandt Ärzten die Erlaubnis zu diesen Morden. Eventuelle juristische Maßnahmen gegen die an der Euthanasie Beteiligten, so verfügt eine gleichzeitige Weisung an das Reichsjustizministerium, sind niederzuschlagen. Bloße Zahlen, so hat sich bei der Darstellung der unfassbaren Brutalität bei der Umsetzung des rassenpolitischen Programms Hitlers in die Realität gezeigt, vermögen nicht jene tiefe persönliche Betroffenheit zu erzielen, die eine Konzentration auf ein Einzelschicksal erreichen kann. Indem der Autor einem einzelnen, seit ihrer Geburt geistig und körperlich schwer behinderten Mädchen gleichsam Gesicht und Gestalt wiedergibt und ihren kurzen Lebensweg verfolgt, wird eine solche Betroffenheit hergestellt. Dabei spart die Arbeit keineswegs mit der Erwähnung weiterer Opfer.

Die Ermordung der im April 1931 in München geborenen Edith Hecht erfolgt in Bayern, im Kinderhaus der Anstalt Eglfing-Haar. Dort stirbt das Mädchen am 23. Dezember 1944 nach längerer Verabreichung des Mittels Luminal. Auf die Durchführung der Kindereuthanasie in Bayern konzentriert sich daher auch das Buch von Markus Krischer schonungslos und bis ins kleinste Detail. Dabei werden die Handelnden ausführlich vorgestellt. Da sich der Autor hier neben umfangreichem archivalischem Material auch auf Gespräche mit Familienangehörigen stützt, gelingen ihm höchst eindrucksvolle biographische Skizzen dieses Personenkreises. Erneut wird deutlich, dass Verantwortliche und Täter über keine aus dem Rahmen fallende Biographie verfügen. Sie sind vielmehr normale Familienväter, Menschen von nebenan, deren verbrecherisches Handeln umso unfassbarer wird. Unverständlich und vor allem unakzeptabel bleibt, dass die meisten der vom Autor beschriebenen Verantwortlichen nach 1945 für ihre Taten nicht zur Verantwortung gezogen worden sind.

Besonders tragisch wirkt die scheinbare Sicherheit, in der die offensichtlich bereits frühzeitig um das Leben ihrer behinderten Tochter fürchtenden Eltern diese in Schönbrunn wähnen. In der großen katholischen Pflegeanstalt und dem Heim für geistig Behinderte nördlich von Dachau wirken unter einem Direktor, dem Geistlichen Josef Steininger, die Schwestern des Ordens der Göttlichen Vorsehung. Um Platz, um Betten und Betreuung für ältere, vom Bombenkrieg in München und Umgebung betroffene Bürger und Kranke zu schaffen, werden die Schönbrunn anvertrauten behinderten Pfleglinge schließlich doch nach Eglfing-Haar verlegt, der inzwischen unter staatlicher Aufsicht stehenden früheren katholischen Anstalt. Dort aber werden sie - wie Edith Hecht - der Kindereuthanasie zum Opfer fallen.

Lange, viel zu lange hat es gedauert, bis die Zeitgeschichtsschreibung auch Sterilisation und Euthanasie als einen Teil des rassenpolitischen Programms Hitlers erfasste. Konzentrierte sich die Geschichtswissenschaft doch verständlicherweise zunächst überwiegend auf die Erforschung der allein schon zahlenmäßig unfassbaren Vernichtung des europäischen Judentums und ließ die ebenfalls rassenpolitisch bedingten Morde an Zigeunern und an "lebensunwertem" Leben und weitere Maßnahmen zur Wahnvorstellung der "Reinerhaltung des deutschen Blutes" weniger beachtet.

Die unter dem Decknamen T 4 vorgenommene Ermordung von Kranken in eigens dazu errichteten Gaskammern der Tötungsanstalten lief im August 1941 aus. In der Forschung hat sich für die nach dem Stopp der Aktion T 4 ab 1942 folgenden weiteren Euthanasiemorde der Begriff "Wilde Euthanasie" eingebürgert. Krischer belegt jedoch, dass die Euthanasiemörder nach 1942 jedoch keineswegs unkontrolliert, spontan oder "aus Lust und Laune" handelten. Zwar erfolgt die Steuerung der Euthanasiemorde nicht mehr zentral aus Berlin, doch verlagert sie sich lediglich auf die mittlere und regionale Ebene. "Die Initiative der Euthanasie-Verantwortlichen vor Ort bekommt mehr Gewicht." Diese stärker zu untersuchen ist ein lohnendes Ziel.

REINER POMMERIN

Markus Krischer: Kinderhaus. Leben und Ermordung des Mädchens Edith Hecht. Deutsche Verlagsanstalt, München 2006. 281 S., 22 Fotos, 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Es ist an der Zeit, findet der Rezensent Reiner Pommerin, auch das gegen Behinderte gerichtete Euthanasieprogramm des Dritten Reichs wissenschaftlich ausführlich zu untersuchen. Genau dies unternimmt Markus Krischer, und zwar in der präzisen Analyse eines Einzelfalls. Rekonstruiert werden aus Archivmaterial, aber auch in Gesprächen mit Angehörigen und Beteiligten, Leben und Sterben der 1931 geborenen, 1944 ermordeten Edith Hecht. Wie das Unfassbare möglich war, ist die Frage, die den Autor leitet, so der Rezensent. Anlass für weitere Forschung sollte, findet Pommerin, die Erkenntnis sein, dass nachdem das offizielle Euthanasie-Programm unter dem Decknamen T 4 1941 auslief, mit dezentral und vor Ort getroffenen Entscheidungen weiter gemordet wurde. Es stellt sich - wieder einmal - heraus, dass die als Ärzte und Betreuer Beteiligten im Alltag keine Unmenschen waren, sondern "normale Familienväter". Und es zeigt sich - ebenfalls ein vertrautes Muster - dass die Mörder im Nachkriegsdeutschland nicht zur Verantwortung gezogen wurden.

© Perlentaucher Medien GmbH