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Sarah Kirsch zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen der Gegenwart. Seit sie in den sechziger Jahren mit Gedichten hervorgetreten ist, gilt ihr die Aufmerksamkeit von Lesern und Kritik. Marcel Reich-Ranicki etwa pries sie als der "Droste jüngere Schwester".
Dieser Band lädt zum Wiederlesen und zur Neuentdeckung ein: Vom gefeierten "Sarah-Sound" (Peter Hacks) der frühen Lyrik bis hin zu den aktuelleren Betrachtungen, den "Zeitansagen aus dem Norden, wunderbaren Meditationen über Dauer und Vergehen" (NZZ).
2005 wurde der Band unter Mitarbeit der Autorin zusammengestellt.
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Produktbeschreibung
Sarah Kirsch zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen der Gegenwart. Seit sie in den sechziger Jahren mit Gedichten hervorgetreten ist, gilt ihr die Aufmerksamkeit von Lesern und Kritik. Marcel Reich-Ranicki etwa pries sie als der "Droste jüngere Schwester".

Dieser Band lädt zum Wiederlesen und zur Neuentdeckung ein: Vom gefeierten "Sarah-Sound" (Peter Hacks) der frühen Lyrik bis hin zu den aktuelleren Betrachtungen, den "Zeitansagen aus dem Norden, wunderbaren Meditationen über Dauer und Vergehen" (NZZ).

2005 wurde der Band unter Mitarbeit der Autorin zusammengestellt. Auf Wunsch Sarah Kirschs wurden nicht alle ihre Gedichte berücksichtigt. Da es sich bei der vorliegenden Ausgabe lediglich um eine Nachauflage handelt, sind die nach 2005 erschienenen Gedichte nicht enthalten.
Autorenporträt
Sarah Kirsch (1935-2013), geboren in Limlingerode am Harz, studierte Biologie und Literatur und lebte bis zu ihrer Ausbürgerung 1977 im Osten Berlins, siedelte dann in den Westen der Stadt über. 1981 zog sie in den Norden Deutschlands, wo sie bis zu ihrem Tod als freie Schriftstellerin und Malerin in Tielenhemme, Schleswig-Holstein, lebte. Für ihr dichterisches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Georg-Büchner-Preis, dem Jean-Paul-Preis sowie dem Johann-Heinrich-Voß-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.2005

Tiger im Regen
Poetische Prankenschläge: Sarah Kirschs "Sämtliche Gedichte"

Selten hat man ein so heiteres Titelbild gesehen: leuchtende Farbflecken, die man als Blumen nehmen kann, als Pflanzlich-Blühendes jedenfalls, von kleinen Spritzern übersät, wie sie ein rasch geführter Aquarellpinsel hinterläßt. Es ist der Pinsel der Dichterin, die in einem frühen Gedicht bekennt, ich "lernte Geduld als ich klein war / bei Wasserfarben". Hier nun regiert der reine Übermut, die ungebremste Farbenlust.

"Glücksblättchen" heißt das dekorative Malwerk, das Sarah Kirschs "Sämtliche Gedichte" ziert, die aus Anlaß ihres siebzigsten Geburtstags am morgigen Samstag erschienen sind. Es ist der Talisman für eine volkstümliche Leseausgabe, die ihre zehn Einzelbände zusammenfaßt. Anders als die fünfbändige Werkausgabe aus dem Jahr 2000 hat sie keinerlei editorischen Ehrgeiz. Sogar auf die Erscheinungsdaten der Einzelbände wird verzichtet - als wolle man signalisieren, ihre Poesie sei fern von Zeit und Geschichte.

Natürlich ist das Gegenteil der Fall. So frisch die Gedichte der Sarah Kirsch auch wirken, sie sind - mit einem Ausdruck Paul Celans - "ihrer Daten eingedenk". Die Lyrikbände von "Landaufenthalt" (1967) bis "Schwanenliebe" (2001) hängen mit deutscher Geschichte zusammen - die frühen direkt, die späteren immer noch unterschwellig. Einige ihrer schönsten Liebesgedichte behandeln die deutsch-deutsche Trennung als Romeo-und-Julia-Thema.

Ihre prägenden Jahre verbrachte Sarah Kirsch in der DDR. In Halle studierte sie Biologie, in Leipzig besuchte sie zwischen 1963 und 1965 das Literaturinstitut, die Ziehstätte der gesamten Sächsischen Dichterschule. Einige Zeit war sie mit dem Lyriker Rainer Kirsch verheiratet, mit ihm zusammen veröffentlichte sie auch ein Bändchen Lyrik. Dann aber folgte sie ihrem eigenen Traum und nahm das Schreiben selbst in die Hand.

Sarah Kirsch hat 1996, in ihrer Dankrede zum Büchner-Preis, die prägnanteste Formulierung für ihren dichterischen Traum gefunden. Sie sieht sich als poetische Landschafterin. Doch ihre Wortmalerei möchte nicht bloß schöne Wortbilder erzeugen, sie möchte selbst Natur sein: "Die Lettern, die Wörter sind Bäume und Landschaften nun. Den Gebilden, welche die Dichter erschaffen, wohnt deren eigene Körperlichkeit inne." Und dann fügt sie einen Satz hinzu, der Impuls und Resultat ihres Schreibens atemhaft in eins bringt: "Mein Herzschlag, die Ungeduld, atemlos bin ich, und alles ist auffindbar in meinen Spuren."

Dieser Herzschlag, diese schöne Ungeduld findet sich bereits 1967 in ihrem Debütband "Landaufenthalt". Er zeigt die Poetin, gleich Pallas Athene dem Haupt des Zeus entsprungen. Ihre Stimme hat sogleich ihren eigenen Ton. Man hat das - mit der Patronage männlichen Wohlwollens - den "Sarah-Sound" genannt. Ob ihr das gefallen hat? "Sound" verfehlt die Dezenz ihres Tons, verfehlt ihre Sprödigkeit gegen jede falsche Intimität, gegen jede Einvernahme. "Ich bin ein Tiger im Regen (Ich knurre: man tut was man kann)" - so selbstbewußt und aufsässig beginnt eines dieser frühen Gedichte, um noch einen kleinen Prankenschlag loszuwerden: "Ich meine es müßte hier / Noch andere Tiger geben." Gab es aber nicht.

Sarah Kirsch wußte früh um ihre Einzigartigkeit. Sie entzog sich nach Kräften allem, was sie für etwas einspannen wollte. Nicht zuletzt der Literaturbürokratie der DDR, die mit Zuckerbrot und Peitsche arbeitete. Sie hielt dagegen mit ihrem "einfältigen Schweigen" und sah sich als "Maultier, das störrisch ist". Ihre listige Dialektik schlug Funken aus scheinbar freundlichen Beteuerungen: "Keiner hat mich verlassen / Keiner ein Haus mir gezeigt / Keiner einen Stein aufgehoben / Erschlagen wollte mich keiner / Alle reden mir zu."

Freilich kam auch die Zeit, als solche "Zaubersprüche" - Titel ihres zweiten Bandes von 1972 - nicht mehr wirkten. Da wurde ihr nicht bloß zugeredet, es wurden auch Steine aufgehoben. Verbal zumindest. Da wurden auf Schriftstellerkongressen der "nackte, vergnatzte Individualismus" und die "spätbürgerliche Position der Aussichtslosigkeit" angeprangert. Da gab es die groteske Posse um das Gedicht "Schwarze Bohnen", das massive politische Verdikte auf sich zog. Solche Zeilen provozierten damals die Funktionäre: "Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg / Nachmittags vergesse ich jedweden Krieg / Nachmittags mahle ich Kaffee / Nachmittags setze ich den zermahlenen Kaffee / Rückwärts zusammen schöne / Schwarze Bohnen."

Einige Jahre später wurde das inkriminierte Gedicht auf einem DDR-Schriftstellerkongreß als Beispiel für die begrüßenswerte "Vielfalt unserer Poesie" gerühmt. Aber soll man an so dunkle Zeiten erinnern, wenn doch die "Schwarzen Bohnen" uns geblieben sind, dank der Magie, die selbst zermahlenen Kaffee rückwärts zusammensetzt?

Dennoch: Für die Dichterin waren die siebziger Jahre alles andere als eine leichte Zeit. Sarah Kirsch fühlte sich durchaus nicht zur Dissidentin berufen, sie war eher geneigt, dem "kleinen wärmenden Land" Solidarität, besser altmodisch Treue zu beweisen. Später hat sie fast schnoddrig davon gesprochen: "Es war mir früher in meinem Land / Soviel eingeblasen und vorgeschrieben / Daß ich die Scheißarbeit aufgenommen / Ein bißchen davon zu glauben." Aber diese Arbeit fruchtete nicht. Im Gefolge des Biermann-Protests, den sie, wie viele andere Kollegen, mit unterschrieben hatte, verließ die Dichterin mit ihrem kleinen Sohn Moritz im August 1977 die DDR.

Was heute zählt, ist: Sarah Kirsch schrieb in diesen Jahren einige ihrer bedeutendsten Gedichte. "Legende über Lilja" erzählt von dem polnischen Mädchen, das sich weigert, die anderen KZ-Insassen zu verraten. "Nachricht aus Lesbos" läßt eine Lesbierin bekennen: "nachts ruht ein Bärtiger auf meinem Bett" - das offene Bekenntnis einer Abweichung, deren politische Bedeutung nicht zu übersehen war. Politisch zumindest ambivalent ist eine Passage in dem wunderbaren Zyklus "Wiepersdorf". Da klagt die Poetin in der Maske Bettinas: "Immer sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben / Denen des Herzens und jenen / Des Staats. Und doch / Erschrickt unser Herz / Wenn auf der anderen Seite des Hauses / Ein Wagen zu hören ist."

Eines ihrer bekanntesten Gedichte gilt der Droste. Ihr hat sie die schönste Hommage gewidmet, die dem westfälischen Fräulein, der Naturdichterin und der Liebenden je zuteil wurde. "Der Droste würde ich gern Wasser reichen / In alte Spiegel mit ihr sehen, Vögel / Nennen", hebt Sarah Kirschs Gedicht an. Ein Gedicht, das wie vom Widerschein des Meersburger Turmzimmers durchglänzt ist.

Im Zeichen der Droste - also im Zeichen von Natur- und Liebeslyrik - steht die zweite, die glücklichere Phase von Leben und Poesie. Sarah Kirsch vollendet ihre bukolische Sendung mit sprechenden Titeln wie: "Erdreich", "Katzenleben", "Schneewärme", "Erlkönigs Tochter", "Bodenlos" und "Schwanenliebe". Schleswig-Holstein - in kalauernder Prosa auch einmal "Schließlich Holzbein, Meerumschlungen" genannt, wurde zu ihrem Refugium. Das aufgelassene Dorfschulhaus von Tielenhemme bot neben poetischer Muße auch eine kompensatorische Lebenspraxis, die Sorge für Landwirtschaft, für Kreaturen und Kreatürliches.

Bukolik ist für Sarah Kirsch keine harmlose Idylle. Bei ihr ist Naturlyrik - anders als bei Loerke und Lehmann - keine Suche nach dem Grünen Gott, sondern das einmalige Amalgam von Zauberei und sachlicher Nüchternheit. Die studierte Biologin hat nicht bloß die Naturkenntnisse der Droste, sie besitzt auch die Überschärfe ihrer Augen. Sie hat einen Sinn für Details, die das Bewußtsein schwindeln lassen: "Jeder Halm / War geschärft frisch angespitzt und ich zählte / Nebenäste vierundzwanzigster Ordnung / Die Welt bestand aus lauter Einzelheiten / Es war genau zu unterscheiden / Welches übriggebliebene Blatt / Um ein weniges vor oder hinter / Anderem leis sich bewegte."

Diese liebevolle Schärfe hat etwas von Andacht, wie sie einer Spätzeit zukommt, die alles noch einmal sehen will. Günter Grass hat einmal gemeint, die Lyrik sei in ihrem Bewußtsein den anderen Gattungen voraus, in ihr werde nämlich schon Abschied von der Natur genommen. Sarah Kirsch hat diese Befürchtung für ein kleines Gedicht ernst genommen. Es heißt "Bäume" und geht so: "Früher sollen sie / Wälder gebildet haben und Vögel / Auch Libellen genannt kleine / Huhnähnliche Wesen die zu / Singen vermochten schauten herab."

Sarah Kirsch singt solche Adieus nicht ohne Humor. Von Erschöpfung kann keine Rede sein. "Schwanenliebe", ihr jüngster Einzelband, ist alles andere als ein Schwanengesang. Die Gedichte, die uns aus ihm entgegentönen, werden zwar immer kleiner, Haiku-ähnlich. Dafür treten sie in wahren Schwärmen auf. "Gedichte also sind / Sonderbare kleine / Katzen denen gerade / Die Augen aufgehn", heißt ein Vierzeiler, und der müßte auch Germanisten überzeugen. Ich habe ein besonderes Faible für eine neue Neigung der Dichterin - der zum kalauerhaft Komischen, ja zum höheren Blödsinn. Da kippt Insistenz in reine Poesie um: "Zigarren werden geschickt / Natürlich werden Zigarren / Geschickt. / Immer werden Zigarren / Geschickt werden."

Das nimmt man gern als ein Versprechen Sarah Kirschs, die morgen ihren siebzigsten Geburtstag feiert. Sie wird uns noch weiter mit poetischen Rauchwaren beliefern, denen auch Nichtraucher nicht widerstehen können.

HARALD HARTUNG

Sarah Kirsch: "Sämtliche Gedichte". Deutsche Verlagsanstalt, München 2005. 560 S., geb. 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.04.2005

Ein Elefant muss über die Alpen
Zum siebzigsten Geburtstag der Dichterin: Sarah Kirschs „Sämtliche Gedichte”
Dieses Buch ist ein Geburtstagsstrauß, schön gebunden aus den zehn Gedichtbänden, die Sarah Kirsch von 1967 bis 2002 veröffentlicht hat, und es ist auch ein Geburtstagsgeschenk, schön verpackt in ein Aquarell der Dichterin. Die Deutsche Verlagsanstalt überreicht es der Dichterin zu ihrem 70. Geburtstag, und ihre treuen Leser sind als Gratulanten dabei. Aber niemand zeichnet als Herausgeber, kein neues Gedicht steht darin, keine Anmerkung, keine Erläuterung, nicht einmal ein Datum bei den einzelnen Bändchen mit den berühmten Titeln „Landaufenthalt”, „Zaubersprüche”, „Rückenwind”, „Drachensteigen”, „Erdreich”, „Katzenleben”, „Schneewärme”, „Erlkönigs Tochter”, „Bodenlos” und „Schwanenliebe”. Liebhaber und Kritiker von Sarah Kirschs Werken werden sich einem geheimen Sog ausgesetzt fühlen, die Gedichte auf eine zeitlose Ebene zu heben, sie so zu lesen, als wären sie alle der Dichterin und ihren Lesern gleich nah oder gleich fern. Die einzige neue Beigabe ist denn auch ein alphabetisches Gesamtverzeichnis der Gedichte. Darin steht z. B. „Breughel-Bild” (aus „Landaufenthalt” 1967) mit der Frage „Kältevögel wohin geht eure Straße was zieht euch . . .” ganz zufällig direkt neben „Boreas hat das Haus auf die / Eider gehoben . . . es geht / weiter nach Norden” (aus „Schwanenliebe” von 2002), als wäre das die Antwort.
In allen Kurzbiografien liest man, dass die Dichterin am 16. April 1935 in Limlingerode im Südharz geboren wurde. Zwar hat sie davon wohl so gut wie nichts wahrgenommen, denn schon ein Jahr später verließ ihre Familie dieses Dorf des fruchtbaren Harzvorlandes, um sich auf der Nordseite im unvergleichlich belebteren Halberstadt niederzulassen. So mag Limlingerode sie schnell vergessen haben, bis es - ein im Sperrbereich der Staatsgrenze gelegenes Geisterdorf - selber vergessen wurde. Wie schön, dass nach dem Kommen und dem Gehen der DDR nun das Pfarrhaus, in dem die Dichterin das Licht der Welt erblickte, die kulturell aktive „Dichterstätte Sarah Kirsch” und Limlingerode doch noch ein poetisches Dorf geworden ist!
In den Kurzbiografien liest man auch, dass Ingrid Hella Irmelinde Bernstein in ihren ersten literarischen Veröffentlichungen das geballte Germanentum ihrer Vornamen aus Protest gegen den Antisemitismus des verstorbenen Vaters gegen „Sarah” vertauscht habe, ohne freilich den ohne eigenes Zutun jüdisch klingenden Familiennamen „Bernstein” beizubehalten, als sie 1960 Rainer Kirsch heiratete. So ist „Sarah Kirsch” nicht nur ihr Name, sondern auch ihr erstes, ihr kürzestes, ganz eigenes und dazu politisches Gedicht. Es liefert das Muster für alles, was sie poetisch sagen wird: Kein einziges Wort ist gegeben, jedes ist im emphatischen Sinne „erwählt”, bekommt seinen Sinn-Stempel von ihr selber aufgedrückt durch einen Akt von Willkür und verändert dadurch auch das Stück Wirklichkeit, das dahintersteht. Das gelingt ihr von Anfang an: „Augenblick // . . . ach wie ihre Fenster blitzten und die Zahlen / auf den Flügeln, eh sie in die Palmen fielen . . .” und bleibt virulent bis in das letzte hier aufgenommene Gedicht aus „Schwanenliebe”: „Epitaph // Ging in Güllewiesen als sei es / Das Paradies beinahe verloren im / Märzen der Bauer hatte im / Herbst sich erhängt.”
Sarah Kirsch ist von der Kritik überschwänglich gelobt und mit Literaturpreisen beinahe überhäuft worden, doch gerade das Rühmen hatte immer auch einen Beigeschmack von Ironie, und das schon in dem berühmten und gutgemeinten Wort „Sarah-Sound” von Peter Hacks aus den siebziger Jahren. Aber es verharmlost doch die poetische Arbeit, den kleinen oder größeren Bruch, die zarte oder gewaltsame Wendung, die ein Motiv zum Thema erhebt und den oft rabiaten Gestus, mit dem das Prätentiöse weggewischt wird. Sarah Kirsch hat bei durchaus eigenwilliger Verskomposition völlig durchsichtige Sätze geschrieben (ein Anakoluth wie im letzten Gedicht ist sehr selten) und mit der ganz sparsamen Zeichensetzung ihre Leser eigentlich nur zu nachkonstruierender Aufmerksamkeit genötigt. Die seit „Landleben” unangefochtene sogenannte Naturthematik, die doch immer die Sprache auf die Probe stellte, wurde gern missverstanden und war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht unbedingt eine Empfehlung; und einige tatsächlich etwas betuliche Formulierungen gaben jemandem das böse Wort vom „Nippes ihrer Empfindungen” ein.
Obwohl Sarah Kirsch mit poetischen Äußerungen zur politischen Situation der DDR entschieden zurückhaltender war als manch anderer, hat sie 1976 gegen die Ausbürgerung Biermanns protestiert, ist aus dem Schriftstellerverband und der Partei ausgeschlossen und überwacht worden, ehe sie die DDR verlassen konnte. Heute darf sie junge Leute zu ihren Lesern zählen, die gerade geboren wurden, als die Mauer fiel und für welche die DDR immer mehr an Wirklichkeit verliert. Die Poesie, auch die der Ausgebürgerten, stand unter einer Bedingung, die für immer mehr jüngere Leute unvorstellbar geworden ist. Ein kleiner Zyklus in „Erdreich” (von 1982) macht das thematisch. Er heißt „Reisezehrung”: „Ich gedenke nicht am Heimweh zu sterben. / Unauslöschlich hab ich die Bilder im Kopf / Die hellen die dunklen. Ich kann in Palermo sitzen / Und doch durch Mecklenburgs Felder gehn.”
Entschiedener als durch Mecklenburgs Felder war diese Welt durch die „Grenze” geprägt, welche das öffentliche und private Leben überschattete: „Hier // Schönaug Hoffnung sind deine Namen / Schon wieder mein Meer weg das ferne / Erhabene Land setz doch den Fuß raus / Grenzepapiereachwas hier bin ich”. Ihr Schatten liegt für die Generation, die sie erlebt hat, auch noch über dem scheinbar harmlosesten Naturgedicht. Das Wiedererkennen, das für den Zeitgenossen ein poetischer Wert gewesen ist, wird immer seltener eintreten, wenn jüngere Generationen das Buch in die Hand bekommen, die nie im Tränenpalast Schlange gestanden haben. Der Titel „Sämtliche Gedichte” signalisiert nicht nur einen Wandel, er hilft kräftig mit, ihn überhaupt erst zu bewirken: Sarah Kirschs Gedichte, selbst die neueren, sind nicht mehr, was sie früher einmal waren. Sie sind aufgebrochen zu neuen Ufern. Mit ihren eigenen Worten: „Der rote Teppich das / Weinlaub ist ausgerollt / Jetzt muss nur noch der / Elefant über die Alpen.”
HANS-HERBERT RÄKEL
SARAH KIRSCH: Sämtliche Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. 506 Seiten, 19,90 Euro.
Sarah Kirsch
Foto: Isolde Ohlbaum
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Was bleibt Harald Hartung anderes übrig, als aus Anlass der "Sämtlichen Gedichte" noch einmal die dichterische Laufbahn der Sarah Kirsch nachzuvollziehen? Zur Edition gibt's nicht viel zu sagen: Vor ein paar Jahren erschien eine fünfbändige Werkausgabe, das vorliegende Buch ist eher "volkstümliche Leseausgabe", ohne "editorischen Ehrgeiz", dafür mit einem heiteren Aquarell der Dichterin auf dem Umschlag. Doch dass es der Daten der Einzelausgaben, die hier zusammengefasst sind, nicht bedürfe, dem widerspricht der Rezensent: Waren doch Kirschs Gedichte immer, auf ihre eigene und im zunehmenden Maße unterschwellige Art, mit der Geschichte, der deutsch-deutschen vor allem, verknüpft - vom ersten, 1967 erschienenen Band, in dem sie sogleich ihre eigene Stimme etablierte, bis zum neuesten, der kein Nachlassen erkennen lässt. Zum Glück des Lesers, findet Hartung, der sein Glas zum Siebzigsten der Dichterin erhebt: auf die "poetische Landschafterin", auf den knurrenden "Tiger im Regen", wie sie sich selbst bezeichnete, auf das "einmalige Amalgam von Zauberei und sachlicher Nüchternheit", das die Natur von der Idylle entzweit, dabei aber umso mehr ihre Schönheit betont.

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