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Erhellend und eindrucksvoll: Einblicke in eine fremde Welt
Vorbehalte und Berührungsängste, die nicht zuletzt ein Erbe des Nationalsozialismus sind, verstellen in Deutschland den Blick auf das Thema Zigeuner. Rolf Bauerdick taucht ein in die Kultur der größten europäischen Minderheit. Auf über einhundert Reisen in elf Länder begegnete er Menschen, die sich mit selbstverständlicher Unbefangenheit als »Zigeuner« bezeichnen. Mit erzählerischer Kraft und kritischem Wohlwollen schöpft Bauerdick aus der Fülle seiner Erfahrungen und schildert den Alltag der Zigeuner, ohne ihre massive…mehr

Produktbeschreibung
Erhellend und eindrucksvoll: Einblicke in eine fremde Welt

Vorbehalte und Berührungsängste, die nicht zuletzt ein Erbe des Nationalsozialismus sind, verstellen in Deutschland den Blick auf das Thema Zigeuner. Rolf Bauerdick taucht ein in die Kultur der größten europäischen Minderheit. Auf über einhundert Reisen in elf Länder begegnete er Menschen, die sich mit selbstverständlicher Unbefangenheit als »Zigeuner« bezeichnen. Mit erzählerischer Kraft und kritischem Wohlwollen schöpft Bauerdick aus der Fülle seiner Erfahrungen und schildert den Alltag der Zigeuner, ohne ihre massive Diskriminierung zu beschönigen und sie von ihrer Eigenverantwortlichkeit zu entbinden. Er geht den Ursachen einer dramatischen Verelendung und der Zunahme ethnischer Konflikte auf den Grund, frei von dem Vorurteil, dass die einen immer Opfer, die anderen immer die Täter sind.
Autorenporträt
Rolf Bauerdick, geboren 1957, lebt im Münsterland. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Theologie wurde er Journalist. Er hat Reportagereisen in rund sechzig Länder unternommen; seine Text- und Bildreportagen erscheinen in europäischen Tageszeitungen und Magazinen und sind vielfach ausgezeichnet. Sein viel beachteter Roman "Wie die Madonna auf den Mond kam" erschien 2009 und erhielt den Europäischen Buchpreis 2012 in der Kategorie "Roman". Sein zweiter Roman "Pakete an Frau Blech" erschien 2015.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2013

In Wolkendorf währte die Zeit des Aufbruchs nur kurz
Gründlich recherchiert, mitreißend erzählt und politisch gar nicht korrekt: Rolf Bauerdick berichtet vom Leben der Zigeuner nach der Epochenwende von 1989

Rolf Bauerdick tut es doch. Nicht, um zu provozieren, sondern um aufzuklären. Wie viele seiner Protagonisten hält er "Zigeuner" für einen "ehrenwerten Begriff", für eine korrekte Bezeichnung eines Volkes, das sich selbst starren Definitionen verweigert. Bauerdick stellt dem politkorrekten Regelwahn der Antiziganismusforscher und Verbandsfunktionäre die Selbstbekenntnisse und das wirkliche Leben der Zigeuner gegenüber, denen er auf seinen Reisen begegnete. Er fordert Respekt für Zigeuner, die keine Roma sein wollen, und umgekehrt, und er greift die Opferverbände an, die ihre Klientel entmündigen und jede Analyse der Misere ersticken mit Verweis auf Rassismus und Armut.

Auf diese Weise hätten sie erfolgreich verhindert, dass über innerethnische Abhängigkeiten gesprochen wird. Darüber also, wie grausam und leider sehr erfolgreich Roma vor allem von den eigenen Leuten ausgebeutet werden, wie die Kinder missbraucht, die Frauen misshandelt und oft um den größten Teil des kargen Lohnes für Gelegenheitsarbeiten betrogen werden. Oder wie Zinswucherer ihre Schuldner unter massiven Drohungen zu Prostitution, Bettelei und Bandendiebstahl zwingen. Das Schweigen der Funktionäre zu diesen massiven Menschenrechtsverletzungen - und nichts anderes sind sie, begünstigt dieses Elend, das ja längst bis nach Deutschland reicht. Wird dieses Schweigekartell nicht bald aufgebrochen, könnte sich auch hierzulande - und zum zweiten Mal in der jüngeren Einwanderungsgeschichte - eine Parallelwelt etablieren, mit eigenen Stammesregeln und Gesetzen, denen jeder ausgeliefert ist, den sie gefangen hält.

Rolf Bauerdick ist ein mitfühlender Beobachter und Begleiter, aber auch ein gründlicher Reporter, der nachhakt und zu verstehen versucht, warum trotz hoch erregter öffentlicher Debatten, die das offenkundige Elend der größten europäischen Minderheit in stereotypen Fertigsätzen geißeln, sich für die Betroffenen nichts verbessert. Leidenschaftlich polemisiert er gegen den Unsinn, ein Volk mit unzähligen Facetten, unterschiedlichsten Traditionen und Selbstbeschreibungen zum politisch korrekten, aber falschen "Sinti und Roma" zusammenzupacken und als ewige Opfer feindseliger Mehrheitsgesellschaften einzuhegen.

In vierzehn Kapiteln schildert Bauerdick nicht nur die Lebenswirklichkeit seiner Protagonisten; ihn interessieren die Hintergründe, die Spuren der Zeit, vor allem nach der Epochenwende von 1989. Immer wieder besuchte er die Roma-Siedlungen am Rande Europas, schloss dort Freundschaften, unterhielt sich mit politischen Roma-Aktivisten, Kriminologen, Ethnologen, den engagierten Helfern der Caritas, mit Bürgermeistern und Lehrern, die nicht selten am Bildungsfatalismus der Eltern und an der Vergeblichkeit ihres Tuns verzweifeln. Die Zigeuner, meist Ungelernte, verloren in den postsozialistischen Gesellschaften als Erste ihre Jobs, aber auch die traditionellen Gewerbe, mit denen viele seit Jahrhunderten überlebten, wurden überflüssig. Und so traf Bauerdick auf Bärenführer ohne Bären und Kesselflicker, die wegen der Billigimporte ihr Auskommen ersatzlos verloren, oder Pilzesammler, die wegen des Klimawandels keine Pilze mehr finden. Und er beschreibt, wie die Abhängigkeit von Wohlfahrtsleistungen bei den meisten jeden Impuls unterdrückt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen.

Wie aus der Zeit gefallen habe das rumänische Wolkendorf alias Vulcan bei seinen ersten Besuchen auf ihn gewirkt, schreibt Rolf Bauerdick. Keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur Hier und Jetzt. Die Sachsen waren längst weg, in ihren Häusern lebten nun zumeist Zigeunerfamilien. "Die Frauen tranken, um zu ertragen, dass ihre trinkenden Männer sie verprügelten. Die Männer schlugen ihre Frauen mit der Begründung, sie würden zu viel trinken." Nur wenige schickten ihre Kinder zur Schule, nur wenige versuchten, die Felder zu bestellen, die jeder Familie Anfang der neunziger Jahre von der Gemeinde zugesprochen worden waren.

Eine Insel des Stillstands, des Ruins und der Verwüstung. Bis Hansi Schnell auftauchte, Siebenbürger Sachse, in Wolkendorf geboren und noch als Kind mit den Eltern nach Deutschland ausgewandert. Der Ingenieur hatte beschlossen, Wolkendorf zu retten, als "basisdemokratische und multikulturelle Dorfgemeinschaft". Lange sah es so aus, als könnte dies gelingen. Helfer aus dem Schwarzwald renovierten die Dorfschule, die Kinder der Zigeuner und der Rumänen halfen glücklich mit. Zwar wurden die Kleiderspenden auf dem Schwarzmarkt zumeist für Schnaps verhökert, zwar hielten korrupte Beamte immerzu die Hand auf, doch reichten die Spenden für Traktoren, Vieh und Saatgut der neuen Genossenschaft. Dann erkrankte Hansi Schnells Frau schwer, sie mussten zurück, und innerhalb weniger Monate verfiel Wolkendorf erneut. Schließlich verscherbelten die Zigeuner auch noch ihre zweihundert Hektar Land und zogen weiter. Der Teufelskreis aus Entwurzelung, Verwahrlosung und depressiver Antriebslosigkeit, für kurze Zeit geöffnet, schloss sich wieder. Die Geschichte, aus verschiedenen Perspektiven erzählt, ist eine unter vielen, die Bauerdick zusammengetragen hat, um die Komplexität einer sozialen Katastrophe zu erhellen, die keineswegs nur auf Armut und Diskriminierung zurückzuführen ist.

Rolf Bauerdick ist nicht nur ein begnadeter Erzähler und unerschrockener Polemiker. Er ist begabt mit der Fähigkeit, das Vertrauen dieser Außenseiter zu gewinnen; er will nichts enthüllen, sondern lässt sich stattdessen ein auf ihre Lebensschläue, Gastfreundschaft und Fröhlichkeit noch unter schlimmsten Bedingungen. Daraus entsteht ein vielfarbiges Bild, mit grellen, erschütternden Schlaglichtern auf eine Armut, die nicht nur jeden Ausbruchswillen erstickt, sondern im schlimmsten Fall auch jedes Mitgefühl. Wie auf der Müllhalde von Oradea, wo nicht nur die Stadt und die anderen die Zigeuner, die dort knapp überleben, aufgegeben haben, sondern auch diese sich selbst.

Wer sich dagegenstellt und ritualisierte Schuldzuweisungen verweigert, wie der ungarische Wojwode Attila Lakatos, ist rasch einsam und wird massiv angefeindet. Lakatos, selbst Rom, hat mit einer aufrüttelnden Rede versucht, an das Selbstwertgefühl der Cigány zu appellieren. Auch aus Furcht, die gewalttätigen Konflikte mit der Mehrheitsbevölkerung könnten auf beiden Seiten eskalieren. Und so ist es gekommen. Auch wenn im Westen nur über Roma als Opfer von Übergriffen gestritten wird: Bauerdicks gründlich recherchierte Befunde über zunehmende Gewaltakte junger Roma und über familiäre kriminelle Netzwerke sind ein beunruhigendes Indiz für den desolaten Zustand einer Gemeinschaft, dem mit wohlmeinendem Schweigen nicht mehr beizukommen ist.

REGINA MÖNCH

Rolf Bauerdick: "Zigeuner". Begegnungen mit einem ungeliebten Volk.

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013. 352 S., 33 Fotos, geb. 22,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Eigentlich ist Rolf Bauerdick einer der besten und bekanntesten Roma-Reporter, die es im deutschsprachigen Raum gibt, findet Norbert Mappes-Niediek. Anscheinend ist er in seiner langjährigen Beschäftigung mit den Roma nun an die Grenzen seiner Empathie gestoßen, berichtet der Rezensent. In seinem Buch "Zigeuner" rechnet Bauerdick zunächst mit den "blutleeren Theorien, der politisch korrekten Begriffshuberei und den moralisierenden Sprüchen" ab, die häufig mit der sozialen Realität nichts zu tun haben, da gibt Mappes-Niediek ihm noch gerne Recht. Um einiges problematischer wird das Buch, weil der Autor sich dazu verleiten lässt, unhinterfragt viele Klischees und Behauptungen zu übernehmen, die "über Slumbewohner und Armutszuwanderer" derzeit kursieren, erklärt der Rezensent. Seine Belege sind dann meist nur beispielhafte Anekdoten. Bauerdick kommt eben so weit, wie man kommt, wenn man die Schuld bei einer Gruppe sucht, anstatt beim System, meint Mappes-Niediek.

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»Ein lebenspraller Erfahrungsschatz, geschildert in einer für ein Sachbuch ungewöhnlich leuchtenden, bildreichen Sprache.« WDR5 - Osteuropamagazin, 11.08.2013