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Nach einer ersten Phase der Flüchtlings- und Vertriebenenforschung in den 1950er und 1960er Jahren wendet sich die Wissenschaft in jüngerer Zeit fachübergreifend erneut diesem Themenkomplex zu. Diese Studie verbindet die beiden Felder Vertriebenenforschung und Katholizismusforschung. Am Fallbeispiel des Oldenburger Landes wird erörtert, welche Folgen die Aufnahme der Flüchtlinge für die katholische Kirche hatte. Zwischen den Polen "Bewahrung der Identität" und "Integration" entwickelte sich auch im innerkirchlichen Bereich ein Richtungsstreit, der letztlich zugunsten der Integrationslösung…mehr

Produktbeschreibung
Nach einer ersten Phase der Flüchtlings- und Vertriebenenforschung in den 1950er und 1960er Jahren wendet sich die Wissenschaft in jüngerer Zeit fachübergreifend erneut diesem Themenkomplex zu. Diese Studie verbindet die beiden Felder Vertriebenenforschung und Katholizismusforschung. Am Fallbeispiel des Oldenburger Landes wird erörtert, welche Folgen die Aufnahme der Flüchtlinge für die katholische Kirche hatte. Zwischen den Polen "Bewahrung der Identität" und "Integration" entwickelte sich auch im innerkirchlichen Bereich ein Richtungsstreit, der letztlich zugunsten der Integrationslösung entschieden wurde. Das Flüchtlingsphänomen wird in seinen Auswirkungen auf das "katholische Milieu" betrachtet.
Das Buch bietet einen exemplarischen Baustein der Zeit- und Kirchengeschichte der westlichen alliierten Zonen und der jungen Bundesrepublik Deutschland.
Autorenporträt
Michael Hirschfeld war Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Apostolischen Visitators für die Priester und Gläubigen aus dem Erzbistum Breslau in Münster und im Bischöflich Münsterschen Offizialat Vechta.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2003

Gestörte Kommunikation
Die vertriebenen Katholiken in den oldenburgischen Kirchengemeinden 1945 bis 1965

Michael Hirschfeld: Katholisches Milieu und Vertriebene. Eine Fallstudie am Beispiel des Oldenburger Landes 1945-1965. Böhlau Verlag, Köln 2002. 634 Seiten, 64,- [Euro].

In Zeiten einer sich immer mehr beschleunigenden Individualisierung der Lebensstile erscheint die Vorstellung, daß vor nicht allzu langer Zeit ein großer Teil der deutschen Gesellschaft in hermetisch abgeschlossene und in sich weitgehend kulturell autarke Lebenswelten zerfallen war, wie die Begegnung mit einem fremden Planeten. Doch strahlt die politische Wirkmächtigkeit dieser sozial verdichteten Deutungskulturen mit kollektiv verbindlichen Handlungsmustern, welche von der Forschung als "Milieus" bezeichnet werden, bis heute auf das Wahlverhalten aus - wenngleich sich solche Milieueinflüsse immer mehr abschwächen.

Als Parademilieu gilt zu Recht das katholische Milieu, in dem sich das Alltagsleben der kirchennahen Gläubigen auf eine von der katholischen Kirche und ihrem dichten Vereinsnetz beständig reproduzierte Sinndeutung ausrichtete und so zu einer enormen Geschlossenheit gemeinschaftlicher Lebensführung führte. Fraglos ist aber auch dieses Milieu spätestens seit der frühen Bundesrepublik allmählich aufgeweicht worden, wobei die Ursachen für diese Entwicklung erst in jüngster Zeit verstärkt in das Blickfeld der historischen Forschung rücken. Das Buch von Michael Hirschfeld leistet dazu gewichtigen Beitrag. Es greift die naheliegende Frage auf, inwieweit bereits vom massiven Zustrom der Vertriebenen desintegrative Impulse ausgingen, die sich dann in den sechziger Jahren zu einer rasanten Milieuabschmelzung verstärkten. Denn zum ersten Mal in der neueren deutschen Geschichte wurde die konfessionelle Homogenität vor allem ländlicher Regionen durch den Zustrom von Millionen Ostvertriebener aufgebrochen: In geschlossen evangelischen Gebieten tauchten auf einmal Tausende katholischer Schlesier, Sudetendeutscher oder Ermländer auf, während rein katholische Landstriche mit der Aufnahme protestantischer Flüchtlinge aus Pommern oder Ostpreußen konfrontiert waren. Welche Konsequenzen diese tiefen lebensweltlichen Einschnitte für die Kohärenz des katholischen Milieus besaßen, untersucht Hirschfeld an einem regionalen Beispiel, das allerdings nur in eingeschränkter Weise als repräsentativ gelten kann.

Das Fallbeispiel des seit 1946 zum Lande Niedersachsen gehörenden Oldenburger Landes besitzt zwar den unbestreitbaren Vorzug, daß hier bis 1945 auf engem Raum zwei völlig unterschiedliche Lebenswelten aufeinanderprallten: Im Norden und der Mitte Oldenburgs waren Katholiken bis dahin praktisch nur in den wenigen größeren Städten (Oldenburg, Wilhelmshaven, Jever, Delmenhorst) anzutreffen und bildeten dort eine sich in ihrem Organisationsturm verschanzende Diaspora, während der Süden Oldenburgs durch seine ehemalige Zugehörigkeit zum Hochstift Münster eine erdrückende katholische Majorität aufwies. Insofern stellte die Aufnahme der Vertriebenen, die bald mehr als ein Viertel der oldenburgischen Bevölkerung ausmachten, sowohl den Diasporakatholizismus im Norden wie das katholische Oldenburger Münsterland vor Integrationsprobleme. Dennoch muß die Anfrage erlaubt sein, ob nicht das katholische Milieu Südoldenburgs in mancher Hinsicht ein so spezifisches Gepräge besaß, daß sich hieraus gewonnene Ergebnisse nur mit erheblichen Einschränkungen auf das katholische Gesamtmilieu übertragen lassen, wie es Hirschfeld unternimmt.

Denn im Oldenburger Münsterland verschwisterte sich die Prägekraft des Kirchlichen mit zwei weiteren Faktoren, die in hohem Maße identitätsstiftend und damit milieuverstärkend waren: einem tiefsitzenden Bewußtsein von der regionalen Besonderheit dieses erst seit 1815 oldenburgischen Landesteils, das in der Selbstbezeichnung Oldenburger "Münsterland" bis heute wirksam ist, und der Abgeschiedenheit einer agrarisch verfaßten Provinz mit erheblichem "Sicherheitsabstand" zu großstädtischen Zentren und deren distinkten Lebensstil. Die neuere katholische Milieuforschung hat den Blick dafür geschärft, daß gerade in der Überlagerung und gegenseitigen Verstärkung kirchlicher, regionaler und agrarischer Faktoren der Schlüssel für die Bindungskraft des katholischen Milieus zu suchen ist. Und wenn man als untrüglichen Indikator für fortdauernde Milieueinflüsse die in das katholische Milieu eingelassene politische Handlungsanweisung heranzieht, welche im Wahlakt die Milieuzugehörigkeit durch das Votum für die jeweilige Milieupartei (bis 1933 Zentrumspartei, ab 1945 CDU) zu bekunden pflegt, dann stellt bis heute das Oldenburger Münsterland noch das vielleicht letzte Reservat dieses katholisch-agrarischen Milieus außerhalb Bayerns dar und fährt für die CDU noch bei der Bundestagswahl 2002 das Spitzenergebnis von nahezu 60 Prozent der Zweitstimmen ein.

Der Haupteinwand gegen die Verallgemeinerbarkeit von Hirschfelds Ergebnissen liegt aber darin, daß sich der Verfasser auf die kirchliche Binnensicht beschränkt und katholisches Milieu auf innerkirchliche Organisationsstrukturen reduziert. Daß sich katholische Vertriebene nicht nur in kirchliche Strukturen, sondern vor allem auch in die Verfaßtheiten eines eingespielten dörflichen Gemeinschaftslebens und dessen agrarisch bestimmte Rhythmen einzufügen hatten, taucht nur am Rande auf, hätte aber mit ins Zentrum gehört. Insofern ist es symptomatisch für diese Schieflage, daß die in vielerlei Hinsicht Maßstäbe setzende Studie von Peter Exner über "Ländliche Gesellschaft und Landwirtschaft" im benachbarten Westfalen überhaupt nicht rezipiert wird.

Für die Untersuchung der kirchlichen Binnenstrukturen wirft Hirschfelds Arbeit aber wichtige Erkenntnisgewinne ab, welche die künftige Forschung befruchten sollten. Bislang hat die einschlägige Forschung den Säkularisierungsschub im katholischen Milieu im Gefolge der Studentenbewegung auf die späten sechziger Jahre datiert. Hirschfeld liefert nun eine Fülle von Belegen dafür, daß dieser Prozeß wesentlich früher zu datieren ist und ursächlich mit dem Zustrom der Vertriebenen zusammenhängt. Ihm gelingt es, seine durch akribisches Quellenstudium erzielten, allerdings nicht selten mit ermüdender Liebe zum Detail präsentierten Ergebnisse einzubetten in die übergreifende Frage nach den Funktionsbedingungen interkulturellen Transfers. Er konstatiert per Saldo ein Scheitern der Kulturbegegnung innerhalb des katholischen Milieus, weil zwei schwer miteinander kompatible Frömmigkeitsformen aufeinandergeprallt seien: die ostdeutsch-schlesische Volksreligiosität und die sich in der Beachtung kirchlicher Gebote erschöpfende Traditionskirchlichkeit unter den Einheimischen.

Das "unsichtbare Fluchtgepäck" habe in Oldenburg seine milieuauflösende Wirkung auch deswegen entfalten können, weil die dortigen Kirchenoberen keine spezifische Vertriebenenpastoral betrieben und ein organisatorisches Eigenleben der Vertriebenen analog zum reichen Verbandskatholizismus (Kolping; KAB) nicht aufkommen ließen. Resultat sei die Unbehaustheit der katholischen Vertriebenen in den oldenburgischen Kirchengemeinden gewesen, der ihre allmähliche Abkehr vom kirchlichen Leben und damit vom Kernbereich des katholischen Milieus nach sich gezogen habe.

Gewiß müssen viele der hier ausgebreiteten Befunde mit Fragezeichen versehen werden. Eine sozialhistorische Differenzierung der katholischen Vertriebenen, die bei Hirschfeld immer nur als Kollektiv auftauchen, nach Alter, Geschlecht und Profession, fehlt völlig. Die Möglichkeit einer Integration gerade der jungen Flüchtlinge über die kollektiven Praktiken der in Südoldenburg intakten dorfgemeinschaftlichen Strukturen, in welche Kirchlichkeit als integraler Pfeiler der Dorfsitte eingelassen war, wird ausgeblendet. Der integrativen Potenz des agrarischen Wertekanons wird keine Aufmerksamkeit geschenkt.

Auch wenn eine stärkere Verzahnung mit den Ergebnissen der agrar- und sozialhistorischen Forschung bei weiteren Regionalstudien dieser Art dringend angemahnt werden muß, bleibt doch als Hauptverdienst der Arbeit Hirschfelds, daß er mit der Argumentationsfigur einer gestörten interkulturellen Kommunikation zwischen vertriebenen Katholiken und ihren einheimischen Glaubensgenossen eine anschlußfähige Erklärung dafür liefert, daß die Säkularisierung nicht abrupt Ende der sechziger Jahre in den westdeutschen Katholizismus einfiel, sondern sich durch die regional gewiß differenziert verlaufende schleichende Abwendung vieler katholischer Zwangsmigranten bereits Bahn gebrochen hatte. Dies bedeutet für die historische Vermessung der sechziger Jahre gewiß einen nicht zu unterschätzenden Erkenntnisgewinn.

WOLFRAM PYTA

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Während die Forschung den Säkularisierungsschub im katholische Milieu bisher im Gefolge der Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre gesehen hat, kann Michael Hirschfeld in seiner Studie "Katholisches Milieu und Vertriebene" nach Einschätzung von Rezensent Wolfram Pyta zeigen, dass dieser Prozess wesentlich früher zu datieren ist und mit dem Zustrom der Vertriebenen zusammenhängt. Wie Pyta ausführt, gingen vom Zustrom der Vertriebenen in den Jahren 1945-1965 "desintegrative Impulse" aus, was schließlich zu einer Aufweichung des katholischen Milieus führte. Hirschfeld konstatiere ein Scheitern der Kulturbegegnung innerhalb des katholischen Milieus, weil zwei schwer miteinander kompatible Frömmigkeitsformen aufeinandergeprallt seien, nämlich die ostdeutsch-schlesische Volksreligiosität und die sich in der Beachtung kirchlicher Gebote erschöpfende Traditionskirchlichkeit unter den Einheimischen, referiert Pyta ein Ergebnis von Hirschfelds Studie. Kritisch merkt er an, dass eine sozialhistorische Differenzierung der katholischen Vertriebenen, die bei Hirschfeld immer nur als Kollektiv auftauchten, nach Alter, Geschlecht und Profession, völlig fehle. Insgesamt würdigt der Rezensent die Studie dennoch als einen "gewichtigen Beitrag" zur Forschung, der sich vor allem durch sein "akribisches Quellenstudium" auszeichnet.

© Perlentaucher Medien GmbH