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Künstler, Wissenschaftler, Erfinder, Ingenieur - seine staunenswerte Vielseitigkeit macht Leonardo da Vinci noch heute zu einer legendären Figur. Was aber weiß man genau über dieses Universalgenie, das vor 500 Jahren lebte? Martin Kemp bietet in seiner faszinierenden Darstellung eine neue Sichtweise auf Leben und Werk des weltberühmten Künstlers und geht der wahren Bedeutung von Meisterwerken wie der "Mona Lisa" nach.
Martin Kemp, international renommierter Leonardo-Experte, geht im vorliegenden Buch dem großen Talent und dem Jahrhunderte überdauernden Erfolg des rätselhaften
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Produktbeschreibung
Künstler, Wissenschaftler, Erfinder, Ingenieur - seine staunenswerte Vielseitigkeit macht Leonardo da Vinci noch heute zu einer legendären Figur. Was aber weiß man genau über dieses Universalgenie, das vor 500 Jahren lebte? Martin Kemp bietet in seiner faszinierenden Darstellung eine neue Sichtweise auf Leben und Werk des weltberühmten Künstlers und geht der wahren Bedeutung von Meisterwerken wie der "Mona Lisa" nach.

Martin Kemp, international renommierter Leonardo-Experte, geht im vorliegenden Buch dem großen Talent und dem Jahrhunderte überdauernden Erfolg des rätselhaften Renaissance-Künstlers nach. Für ihn liegt der Schlüssel zum besseren Verständnis Leonardos in den Schriften, die der Künstler nach seinem Tod in Form von zahlreichen Heften sowie losen Manuskriptblättern hinterließ. Denn aus diesen Aufzeichnungen lässt sich ablesen, wie Leonardo seine innovativen Ideen und kreativen Visionen entwickelte. Über 20 000 Seiten mit Zeichnungen und Notizen belegen seine großartigen Entdeckungen und Erfindungen - vom Aufbau des menschlichen Auges bis hin zu den Entwürfen für Flugmaschinen. Das Buch bietet neue Einblicke in die vielseitigen Begabungen Leonardos. Gleichzeitig zeichnet es Leben und Werk des Künstlers in einer konzisen Darstellung nach, die mit zahlreichen Abbildungen illustriert ist.
Autorenporträt
Martin Kemp, geb. 1941, ist seit 1991 Professor für Kunstgeschichte am St. Andrew's College in Oxford.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2005

Die Flugmaschine Mona Lisa
Martin Kemps einfühlsame Annäherung an Leonardo da Vinci

Leonardo da Vinci hat den Hubschrauber nicht erfunden. Das, was Leonardo-Verehrer in anachronistischer Projektion auf einer seiner Zeichnungen gerne für Rotorblätter halten, war ein kapriziöses Windrad, das dem Divertissement einer feiernden Hofgesellschaft diente. Dies ist nur eine unter vielen liebgewonnenen Legenden der Leonardo-Hagiographie, mit denen der Oxforder Kunsthistoriker Martin Kemp jetzt aufräumt. Denn für ihn sind die Verdienste dieses Meisters der visuellen Magie auf wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet auch dann schon hinreichend interessant, wenn er nicht auch noch der Großmeister einer ominösen Geheimbruderschaft oder der Erfinder des Kühlschranks war.

Kemps Leonardo-Buch, das in einer ersten Planungsphase für die Reihe "Very short introductions" bei Oxford University Press vorgesehen war, hat sich dann zu einem stattlichen und hübsch bebilderten Essay von rund dreihundert Seiten ausgewachsen. Der englische Text wurde jetzt von Nikolaus G. Schneider - bisweilen etwas holprig und nicht immer mit dem letzten sprachlichen Fingerspitzengefühl - ins Deutsche übertragen. So ist es beispielsweise allein sprachlich eine schwierige Frage, ob sich der Leser dem "enthusiastischen allgemeinen Publikum, dem dieses Buch gewidmet ist", zurechnen soll oder nicht. Auch die in gutgelaunt angelsächsischer Manier häufiger eingestreuten autobiographischen Einsprengsel des Autor-Ichs mögen wohl im Englischen etwas weniger peinlich gewirkt haben als der folgende Einblick in den Kempschen Familienroman auf deutsch: "Im wesentlichen wußte Leonardo alles, was man benötigt, um die Funktionsweise einer künstlichen Herzklappe jenes Typs zu verstehen, der das Leben meiner Mutter um viele Jahre verlängert hat."

Doch das sind die einzigen Monita gegenüber dieser brillanten und kennerschaftlichen Annäherung an das "Phänomen Leonardo". Ausgehend von der überzeugenden Grundannahme, daß künstlerisches, wissenschaftliches Handeln und sogenanntes Alltagshandeln strukturhomolog verlaufen, liefert Kemp weder eine Künstlerbiographie noch eine Werkmonographie im landläufigen Sinne. Nachdem er die eher kargen biographischen Fakten in einem ersten überblicksartigen Kapitel abgehandelt hat, wendet er sich - von diesem Ballast befreit - den wirklich interessanten strukturellen Fragen zu. "Wie funktionierte Leonardos Verstand?" ist die Eingangsfrage, der Kemp in mehreren thematischen Anläufen unter den Leitbegriffen "Sehen", "Die lebendige Erde" und "Körper und Maschine" analytisch auf die Spur zu kommen sucht. Hauptquelle seiner Spurensuche nach der Funktionsweise von Leonardos Intellekt ist das "handschriftliche geistige Vermächtnis" des Künstlers in seinen sogenannten Notizbüchern.

In faszinierenden Einzelanalysen von Zeichnungen und Notizen arbeitet Kemp überzeugend heraus, daß Leonardo die Simultaneität visueller Erkenntnis über die notwendige Sequentialität sprachlicher Annäherung stellte. Im Akt des Zeichnens versuchte er, sich in unstillbarer Neugier den Naturphänomenen anzunähern und ihre innere Gesetzlichkeit zu begreifen. Jeder Blick, jeder Strich auf dem Papier sei bei Leonardo ein analytischer Akt von einer Präzision, die mit Worten nicht zu erreichen sei. Er war ein genialer "Visualisierer" von Phänomenen, die er mit dem Maler- und dem Forscherauge zugleich betrachtete. Seine Zeichnungen sind für Kemp graphische Experimente eines Naturforschers, der in der Kunst eine zweite Natur hervorbringt. "Jeder Akt des Sehens und Zeichnens war für Leonardo ein Akt des Analysierens, und diese Analysen boten dem menschlichen Schöpfer eine Grundlage, um die Welt neu zu schaffen. So kreieren die Flugmaschine und die Mona Lisa die natürliche Welt entsprechend den der Natur eigenen Bedingungen neu und halten sich dabei streng an die natürlichen Ursachen und Wirkungen. Das eine ist ein künstlicher ,Vogel', das andere eine künstliche visuelle Nachschöpfung der leiblichen Gegenwart einer Person. In diesem Buch geht es im Grunde darum, warum die Mona Lisa und die Flugmaschine für Leonardo ein und dasselbe waren" - so die provokante Eingangsthese.

Bei all seinem künstlerisch-revolutionären Potential bleibt Kemps Leonardo ein Mensch der frühen Neuzeit, der nicht nur in häufig konfliktreiche Auftraggeberverhältnisse eingebunden war, sondern auch einem durch und durch analogischen Denkduktus verhaftet und somit kein verfrühter Newton oder Einstein sein konnte. Das Grundgesetz seiner Naturauffassung war die im geometrischen Sinne proportionale Wirkung jeder denkbaren Kraft, und diese Proportionslehre hielt er für analog auf alle Materialien übertragbar, seien es Luft, Wasser, Licht, Haare oder auch Faltenwürfe. Die in der Welt zu beobachtenden Phänomene waren für ihn Exempla dieser durchgängigen Naturgesetzlichkeit, die er in Einzelfallbetrachtungen immer wieder neu herauszupräparieren hoffte. Höchste intellektuelle Integrität und der Habitus eines skrupulösen Forschers, der sich durch eine einzige Falsifikation widerlegen lassen muß und will, legten ihm die innere Verpflichtung auf, jeden nur denkbaren Fall zu prüfen, um einen lückenlosen Beweis des Naturgesetzes zu liefern. Hieraus erklärt sich für Kemp die Faktur vieler seiner Zeichnungen, die sich ein und demselben Phänomen in immer neuen Perspektiven und Blickwinkeln anzunähern suchen. So wird Leonardo beispielsweise in seinen zeichnerischen Untersuchungen von Wasserverläufen in immer neuen Anläufen zu einem "Jackson Pollock der Kartographie".

Diese Obsession eines lückenlosen Protokolls der Phänomene liefert auch eine überzeugende Erklärung dafür, wieso Leonardo ein notorischer Zauderer beim Vollenden seiner Kunstwerke war - zu einem Zeitpunkt, als das "non finito" noch nicht zu einer eigenständigen ästhetischen Qualität erhoben war. Vasari hatte diesen Mechanismus bereits ansatzweise durchschaut, als er in seiner Leonardo-Vita schrieb: "Leonardo unternahm vielerlei zum Verständnis der Kunst, beendete aber nichts; es schien ihm, die Hand könne der Vollkommenheit, die er mit dem Gedanken erfaßte, nichts mehr hinzufügen, sintemal er sich in der Idee einige feine, wunderbare Schwierigkeiten zu schaffen pflegte, welche die geschicktesten Hände nicht auszuführen vermocht hätten." Doch Leonardo legte sich nicht selber in gesuchter Erschwerung die Meßlatte zu hoch - nach Kemp war es vielmehr die Einsicht in die ungeheure und damit kaum adäquat darstellbare phänomenale Komplexität des zu Malenden, die ihn immer wieder innehalten ließ.

Daß er darüber hinaus gut ein Viertel der rund zwanzig ihm heute zugeschriebenen Tafelbilder nie aus den Händen gab, könnte ein weiterer Hinweis auf die Funktion seiner Kunst als kreative Darstellung von Naturgesetzlichkeit und seiner Bilder als "Schautafeln" einer organizistischen Weltsicht sein. Sein letzter Dienstherr, der französische König Franz I., war vielleicht der Listigste unter all seinen Auftraggebern: Zwar kam Leonardo zu einem Zeitpunkt nach Amboise, als er altersbedingt schon kaum mehr malen oder zeichnen konnte. Doch nicht nur als lebende Kunstikone, sondern vor allem als Berater und Lieferant verwertbaren, da anwendbaren Herrschaftswissens war er hoch willkommen. War er doch ein Modularisierer avant la lettre, ein schöpferischer Künstler-Ingenieur, der durch Deduktion von verwertbaren Komponenten deren beliebige Neuzusammensetzung und Instrumentalisierung ermöglichte. Doch der Schachzug des französischen Königs war von noch größerer Raffinesse: Kein anderer Renaissancefürst hatte den Zugriff auf eine derart große Sammlung eigenhändiger Leonardos wie er, der den Künstler, der zugleich der Verwahrer seiner eigenen Kunstwerke war, gewissermaßen in Personalunion mit seinen Werken importierte.

Auch das berühmteste aller Leonardo-Gemälde hängt heute im Louvre und nicht in der Brera, weil der Künstler es höchstwahrscheinlich selbst mit nach Frankreich brachte. Daß sein Bild dereinst prominentes Opfer einer kulturindustriellen Vermarktung ungekannten Ausmaßes werden würde, hatte sich der Maler jedoch wohl kaum träumen lassen. Die kultische Verehrung dieses Porträts verwehrt in der derzeitigen massenzugänglichen Präsentation dem wirklich interessierten Betrachter gerade den Blick auf denjenigen Teil des Bildes, der in Kemps Deutung am ehesten den Schlüssel zum tiefergehenden Verständnis und zur Architektur von Leonardos Denkgebäude liefert: In der Naturdarstellung hinter der Lächelnden, die Kemp wohl zu Recht für eine fiktive Landschaft hält, porträtiert Leonardo in einem nachschöpferischen Akt das Wirken der Natur.

Er malt ein Weltenchaos, das die nicht stillstellbare Dynamik des Organismus "Erde" vor Augen führt und damit "Wahrheiten über die Untrennbarkeit unseres Lebens von dem der Welt" offenbart. Ein prophetisch-katastrophisches Szenario sei hier zu sehen: "Die Instabilität eines der Berge links des Kopfes, der einen extrem ausgeprägten Felsvorsprung aufweist und darunter stark eingeschnitten ist, deutet an, daß sich die Dinge zu einem unbekannten Zeitpunkt in der Zukunft radikal verändern werden." Jede Kraft, die freigesetzt wird, breitet sich unaufhaltsam in Raum und Zeit aus - so Leonardos Hypothese. Kemp weist darauf hin, daß diese Einsicht in das Walten der Natur bereits im Mailänder "Abendmahl" künstlerisch umgesetzt sei, wo sich die Kraft der Worte Christi wellenförmig unter den Anwesenden ausbreite und in jedem der Jünger eine seiner psychischen und charakterlichen Disposition entsprechende Resonanz finde, die sich in Gestik, Mimik und in den Draperien zeige.

In einem Makrokosmos, in dem potentiell alles mit allem verbunden ist und in dem jeder Mikrokosmos (allen voran der menschliche Körper) nach homologen Gesetzen funktioniert, drängt sich die Suche nach einem Weltgesetz, nach einem absoluten und lückenlosen Erklärungsmuster geradezu auf. War Leonardo also doch besessen von einem Weltplan à la Dan Brown? Ja, aber er suchte die ultimative Synthese weder in Yin und Yang noch im Heiligen Gral oder gar im Kind von Jesus und Maria Magdalena. In einer diplomatischen Umschreibung decouvriert Kemp in seinem letzten Kapitel, das sich mit Aspekten der Leonardo-Rezeption von den Anfängen bis zur Gegenwart beschäftigt, die Volksverdummung, die im "Da Vinci Code" schamlos betrieben wird: "Problematisch an Dan Browns Code ist nicht die Erfindung von ,Wahrheit', sondern daß er von Leuten, die Fiktion und Fakten nicht auseinanderhalten können, ernst genommen wird."

CHRISTINE TAUBER

Martin Kemp: "Leonardo". Aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider. C. H. Beck Verlag, München 2005. 312 S., Abb., geb., 26,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main KTX: Leonardo da Vinci sah den Mikrokosmos und den Makrokosmos durch ähnliche Gesetze miteinander verbunden. Doch war er deswegen von der Idee eines Weltplanes besessen, wie das der Schriftsteller Dan Brown in seinem Bestseller suggeriert?
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.02.2006

Das Geschäft bleibt schwierig
Martin Kemp hat über Leonardo da Vinci keinen Unsinn, sondern eine Art Antibiografie geschrieben
Wollte man sich um 1960 in Sachen Leonardo bilden, so griff man nach dem literarisch vorzüglichen Buch von Kenneth Clark: „Leonardo da Vinci. Ein Bericht über seine Entwicklung als Künstler”. Dieses Buch ist noch heute unersetzt. Lord Clark war ein hoch kultivierter englischer Ästhet, den der Zeichner und Maler Leonardo interessierte. Seit etwa 1970 hat sich die Aufmerksamkeit dem Wissenschaftler und Forscher Leonardo zugewandt, der, noch in den Gedankengebäuden des Altertums und des Mittelalters befangen, als Empiriker die Wirklichkeit der Natur beobachtete, Maschinen konstruierte, Leichen sezierte und einen Flugapparat bauen wollte, der in ungezählten Zeichnungen Projekte entwickelte, die nie zu Ende kamen und von dem Erwin Panofsky einmal gesagt hat, er sei sowohl seiner Zeit voraus wie hinter ihr zurück gewesen.
Martin Kemp hat für eine Einführungsreihe, welche die Oxford University Press herausgibt, ein ganz anderes Leonardo-Buch geschrieben. Er ist ein Kunsthistoriker, der von den exakten Wissenschaften herkommt, mehr den empiristischen als den ästhetischen Überlieferungen Englands verpflichtet. Sein opus magnum ist ein großes Buch über das Wechselverhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst von Brunelleschi bis Seurat. Leonardo, jener Renaissancekünstler, der nicht zum Humanismus gehörte, sondern auf eigene Faust die Gesetze und Geheimnisse der Natur erkunden wollte, ist seit langem eine Schlüsselfigur für Kemps Arbeit; der Oxforder Professor ist eine unbestrittene Autorität für den nicht nur berühmten, sondern von Legenden umwobenen Meister.
Es fängt an zu regnen
Ernst Gombrich hat vor Jahren sich zu Kemps Arbeiten respektvoll mit den sehr wienerisch klingenden Worten geäußert: „Der hat wenigstens noch keinen Unsinn geschrieben.” Nicht dass man diesen Ausspruch heute zurücknehmen müsste. Aber in der Zeit der Events hat auch Kemp den hermetischen Bezirk der reinen Wissenschaft verlassen und sucht jetzt die Wirkung auf eine breitere Öffentlichkeit. Er organisierte in der Hayward Gallery in London die sensationelle, mit Effekten nicht sparende Ausstellung „Spectacular Bodies”. Auch sein neues Leonardo-Buch ist weniger an die wissenschaftlichen Kollegen adressiert als an jene schwer fassbaren „weiteren Kreise”, von denen hoffnungsvoll angenommen wird, sie wollten die Texte kunsthistorischer Bücher lesen.
Leonardo und die Populärliteratur, das ist eine heikle und verdächtige copulatio. Die Zahl der vulgären Leonardo-Mystifikationen bis hin zu Dan Browns „Da Vinci Code” ist Legion. Es ist sympathisch, wie freimütig sich Kemp über die Schwierigkeiten seines Unterfangens äußert: „Vielleicht ist dieses Leonardo-Geschäft zu viel für den seriösen englischen Akademiker, der sich normalerweise nüchterner Empirie verpflichtet weiß. Es fängt an zu regnen.” So etwas schreibt nur ein englischer Gelehrter; er berichtet dann, wie er sich zur Niederschrift in eine schöne Villa zwischen den toskanischen Weinbergen zurückgezogen hat. Im späteren Text geriert sich Kemp als Erzähler. Jedoch ist er einer, der so exakt bleiben will wie ein Geometer. Noch immer schreibt er keinen Unsinn. Solche Zwiespältigkeit macht den Reiz wie die gewisse Unverträglichkeit seines Buches aus, das jetzt auf Deutsch vorliegt.
Es ist eine Art Antibiografie. Nur ein knappes Kapitel mit dem Titel „Eine seltsame Karriere” befasst sich mit der äußeren Laufbahn Leonardos. Warum seltsam? Ein Künstler, der seine Auftraggeber - die Florentiner wie den Herzog von Mailand - durch seine endlosen, meist nie beendeten Projekte frustrierte, lebte in einer Aura von höchster Bewunderung seiner Mäzene und Förderer. Gegen eine in die Unvollendbarkeit des Kunstwerks vernarrte romantische Vorstellung vom Träumer Leonardo zitiert Kemp jene Quellen, welche den Meister als durchaus effektiven Organisator seiner Vorhaben schildern. Kemp will aufräumen mit den Legenden. Aber um die Person Leonardo zu fassen, zitiert er dann doch den geschwätzigen Cellini, der behauptete, König Franz I. habe ihm gesagt: „Er glaubt nicht, es sei je ein Mensch geboren worden, der nicht nur über Skulptur, Malerei und Architektur so vieles wusste, sondern zugleich ein großer Philosoph war (wie Leonardo).” Und schon sind wir zurück bei den Legenden, von denen der Maler der Mona Lisa umwoben ist. Das Geschäft mit Leonardo bleibt schwierig.
Den harten Kern des Buches bilden jene drei Kapitel, welche sich mit dem Forscher, Beobachter und Experimentierer Leonardo befassen. Hier bewegt sich Kemp auf vertrautem und genuinen Terrain. Er überblickt die Geschichte der exakten Wissenschaften vom Altertum bis in die Zeit der Computer und kennt sich aus mit Leonardos Zeichnungen und schriftlichen Notizen wie kein zweiter. Hier entfacht sein Text ein leidenschaftliches Feuer. Er entwirft ein pulsierendes Bild von Leonardos „verzweigtem Wissen”, das sich nicht aus Büchern, sondern aus nie aufhörender Beobachtung speiste, das der zeichnerischen Darstellung größere analytische Fassungskraft zumaß als dem erläuternden Wort, und das Sehen dem Lesen vorzog.
Der Kemp-Code
Kemp schildert Leonardo, den Geometer, den Anatomen, den Erkunder der Strudel und Wasserströme und des Vogelflugs, den Festungsbauingenieur und den Konstrukteur der Maschinen von Winden bis zum Flugapparat. Er zeigt, wie in Leonardos schauendem Denken alle Phänomene der Bewegung, des Fließens, lebendig miteinander verknüpft sind. Nie erliegt er der Versuchung, Leonardo zu mystifizieren, von seinem wunderbaren Auge zu schwärmen und die sentimentalen Klischees aufzugreifen. Er schildert nicht die Träume, sondern die Experimente Leonardos.
Wie aber steht es um den Künstler, den Maler Leonardo? Auch hier schmachtet Kemp nicht im Angesicht der viel besungenen Gemälde, sondern zeigt, wie diese Bilder mit den wissenschaftlichen Beobachtungen des Meisters lebendig verwoben sind. Das Kräuseln des Haares gleicht der Bewegung des Wassers, Bewegungen, Gesten, Mimik der Figuren entströmen seinen physiognomischen Beobachtungen, die Landschaft im Rücken der Mona Lisa spiegelt seine Vorstellung vom atmenden Erdkörper.
Und doch hat dieses Buch ein Problem. Die Bewegung von Leonardos Denken in knapper Form allgemeinverständlich darzustellen, ist eine fast unlösbare Aufgabe. Kemp ist vielleicht zu sehr Wissenschaftler, um eine Einführung für den unvorbereiteten Leser schreiben zu können. Gewiss, er scherzt über „Lisas Zimmer”. Aber meist türmt er wahre Ungetüme von abstrakten Sätzen auf, in denen sich Monstren von Substantiven aneinanderreihen. Der Leser prallt an dieser ungefügen Grammatik ab. Ist das schon in den englischen Originalfassung verstörend, so macht die wenig sensible Übersetzung die Sache nicht besser. Wenn „statics” mit „Statistik”, „received” mit „landläufig”, „across” mit „anhand”, „viewing in public” mit „öffentliches Sehen” übersetzt werden, leidet die Verständlichkeit des Textes. Schade, denn Martin Kemp hat nicht nur keinen Unsinn geschrieben, sondern vieles über Leonardo mitzuteilen.
WILLIBALD SAUERLÄNDER
MARTIN KEMP: Leonardo. Aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider. Verlag C. H. Beck, München 2005. 311 Seiten, 26,90 Euro.
Mann beim Koitus und Armbrust - Zeichungen von Leonardo da Vinci (1452-1519), der in Spiegelschrift schrieb
Fotos: bridgemanart.com
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Alte englische Schule" heißt es bei Rezensent Willibald Sauerländer mit soviel Understatement wie Bewunderung für eine noch an der "Exakten Wissenschaft" orientierte kunsthistorische Tradition. Zum Thema Leonardo als Forscher kenne sich niemand so aus wie der Professor aus Oxford, Martin Kemp, der hier ein Standardwerk über das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst geschrieben habe. Die Substanz von Kemps "Leonardo"-Buch sieht der Rezensent entsprechend in den drei Kapiteln über den "Forscher, Beobachter und Experimentierer". Besonders hier entgehe Kemp vollständig der grassierenden Unsitte, Leonardo zu "mystifizieren". Kemp schildere auf wohltuende Weise nicht die Träume Leonardos, "sondern seine Experimente". Auch sonst sei Kemps Buch eine "Art Antibiografie", wenn beispielsweise Leonardos Laufbahn in nur einem Kapitel abgehandelt werde. Doch bleibe, so der Rezensent, selbst ein Kemp nicht ganz frei vom unfeinen Metier der Legendenbildung, wenn er sich beispielsweise auf den "geschwätzigen Cellini" als Gewährsmann beziehe. Wahrscheinlich sei es ja ein "unlösbare Aufgabe", Leonardos Denken "allgemein verständlich" zu präsentieren, leitet der Rezensent behutsam einen weiteren Kritikpunkt ein. Kemps Prosa leide unter einer "gewissen Unverträglichkeit", wenn er "wahre Ungetüme von abstrakten Sätzen" auffahre, die durch eine "wenig sensible" deutsche Übersetzung noch monströser würden.

© Perlentaucher Medien GmbH
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