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Zwei Dinge begeistern die namenlose Erzählerin: Schmetterlinge und Schwimmen. Zum ersten Mal erfährt sie das vollkommene Glück der Kindheit, als sie den Schmetterlingsstil schwimmt - die Disziplin ihres Lebens. Nach erfolgreichen Wettkämpfen verläßt sie das Elternhaus, um ein Sportinternat zu besuchen, und selbst der härteste Drill macht ihr nichts aus, denn nur im Wasser fühlt sie sich wirklich geborgen. Sie wird Leistungsschwimmerin: endlose Trainingsstunden, unerbittliche Wettkämpfe, ein Trainer als wichtigster Mensch ihres Lebens - eine Welt für sich. Je länger sie schwimmt, je tiefer sie…mehr

Produktbeschreibung
Zwei Dinge begeistern die namenlose Erzählerin: Schmetterlinge und Schwimmen. Zum ersten Mal erfährt sie das vollkommene Glück der Kindheit, als sie den Schmetterlingsstil schwimmt - die Disziplin ihres Lebens. Nach erfolgreichen Wettkämpfen verläßt sie das Elternhaus, um ein Sportinternat zu besuchen, und selbst der härteste Drill macht ihr nichts aus, denn nur im Wasser fühlt sie sich wirklich geborgen. Sie wird Leistungsschwimmerin: endlose Trainingsstunden, unerbittliche Wettkämpfe, ein Trainer als wichtigster Mensch ihres Lebens - eine Welt für sich. Je länger sie schwimmt, je tiefer sie in ihrem Element ist, desto näher kommt sie der Erfüllung ihrer Träume - und desto fremder wird ihr die Welt der Kindheit und ihrer Familie. Sie schwimmt gegen den Strom der Zeit, scheint zu schweben und, bisweilen, aufzusteigen und zu fliegen - wie ein Schmetterling in der Luft. Doch Schwimmerkarrieren sind kurz, und ihre ist bereits mit neunzehn Jahren zu Ende. Jüngere un d schnellere Konkurrentinnen ziehen an ihr vorbei. In seinem ersten Roman erzählt Bill Broady die Geschichte eines außergewöhnlichen Schwimmtalents. Seine dichte, lyrisch erzählte Tragödie ist eine präzis beobachtete Studie über ein Talent, den Sklavenhandel, der damit getrieben wird, und zugleich ein unverhüllter Blick auf das Innere unseres Familienlebens. In schmalen Sätzen entsteht eine psychologisch fein angelegte Geschichte über ein Kind, das schwimmen kann und schwimmen muß, "für Dad, damit du wieder auf seinem Schoß sitzen durftest, für Mum, damit sie ihren Gin aufgab."
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2001

In Spanien ist der Meter anders
Frei, Fahrten, Jugend: Bill Broadys Sprung ins warme Wasser

"Die Zukunft ist eine Gerade", hatte der Trainer immer zu ihr gesagt und diesen Satz vor jedem Wettkampf gebetsmühlenartig wiederholt. Und sie, die Schwimmerin, hatte jahrelang daran geglaubt, weil Trainerweisheiten, die so wahr und plausibel klingen können, zu Lebensmaximen taugen. Als sie mit neunzehn plötzlich am Ende ihrer Sportlerkarriere angelangt ist, ihr Glück als Model versucht und schließlich scheitert, muß sie feststellen, daß die Gerade einen tiefen Knick macht. Die Analogie von Sport und Leben hat eben ihre Grenzen.

Vom Aufstieg und Fall einer Leistungssportlerin, von Ausbeutung und dem skrupellosen Geschäft mit Talent, erzählt das Romandebüt des britischen Schriftstellers Bill Broady. Als Kind springt die namenlose Heldin, im Buch nur in der zweiten Person Singular genannt, aus dem Badezimmerfenster im Erdgeschoß ihres Londoner Elternhauses. Doch sie muß einsehen, daß der Mensch im Unterschied zum Schmetterling nicht fliegen kann. An der englischen Nordseeküste lernt sie schwimmen und will fortan sooft wie möglich im Wasser sein, in diesem Schwebezustand verharren, der dem Fliegen so ähnlich ist. Ein Trainer, "Coach" genannt, entdeckt ihr außergewöhnliches Gefühl für Wasser als "Talent" und bildet sie im Schmetterlingsstil aus.

Nun beginnen die Jahre der sozialen Isolation mit Sportinternat, Training bis zum Nasenbluten und Reisen von Wettkampf zu Wettkampf. Sie wird nicht nur Goldmedaillengewinnerin, sondern auch Expertin einer Phänomenologie des Schwimmbeckens. An den Wänden der Becken in Mittelmeerländern zum Beispiel sieht sie Moos und Schimmel wachsen. "Einmal war das Wasser gar so trüb, daß das Becken bodenlos schien und Coach behauptete, darin Masten und Schornsteine von gesunkenen Schiffen erspäht zu haben." Das Wasser hinter dem Eisernen Vorhang schmeckte immer rostig, und in Spanien "mußte der Meter anders sein", weil sie sich einmal fast das Handgelenk brach, als sie zum siegreichen Anschlag die Hand ausstreckte.

Geisteszustände und Körpergefühle von Leistungssportlern in Aktion haben Schriftsteller gerne benutzt, um Metamorphosen und Grenzerfahrungen zu beschreiben. Für Intellektuelle sind das in der Regel die Momente, in denen das Denken endlich aufhört. Über Schwimmer heißt es dementsprechend gern, ihnen würde mit jeder zurückgelegten Bahn ein Gedankenfaden reißen, der sich nach der Wende auch nicht wiederaufnehmen ließe. Sport wird so zu einer einzigen Übung im Vergessen.

In dieser Hinsicht ist Broady ein Kunststück gelungen, denn er beschreibt den Zustand seiner Heldin beim Wettkampf im Wasser auf eine ganz neue Weise, die die Grenzerfahrung von Schwimmern in Hochform in einem anderen, vielleicht wahreren Licht erscheinen läßt, das mit Denken und Vergessen wenig zu tun hat: "Du konntest förmlich spüren wie du die Australierin ein- und überholtest, als würdest du in ihren Körper eindringen, dann durch ihn hindurchschwimmen - einen Moment lang schient ihr beide vollkommen übereinzustimmen, mit einem doppelten Herzschlag und einem Kopf voller fremder antipodischer Gedanken. Als du die letzte Wende machtest, brüllten die Zuschauer erneut, und du beschleunigtest, spürtest dann aber, daß die Kanadierin näher kam . . . fünfzehn Meter lang wart ihr miteinander verschmolzen, eine Schwimmerin, doch dann, langsam, unerbittlich, wurdest diesmal du durchschwommen."

Schwimmer trainieren für sich allein. Die vielen Stunden, die sie halb unter Wasser verbringen, verursachen einen einsamen meditativen Geisteszustand. Nicht zuletzt das macht sie als literarische Figuren seit Jahrhunderten attraktiv. "Ein Großteil seines Trainings", so schrieb etwa Charles Sprawson in seiner Kulturgeschichte des Schwimmers als Held, die von Byron, Shelley und Swinburne, über Goethe und Leni Riefenstahl bis hin zu Mishima reichte, "findet im Kopf des Schwimmers statt, der in den endlosen Traum einer Unterwasserwelt versunken ist. Unter Bedingungen von solcher Intensität und Konzentration fällt er bisweilen Wahnvorstellungen und Neurosen zum Opfer, die über Erfahrungen anderer Leistungssportler weit hinausreichen."

Daß nun ein Roman übers Schwimmen ausgerechnet aus der einstmals berühmten Schwimmnation England kommt, ist gewiß kein Zufall. Die Engländer waren es, die das Brustschwimmen zur Disziplin ausbauten. Die Körpertechnik hatten sie den Tieren abgeschaut. Im neunzehnten Jahrhundert war es dort eine verbreitete pädagogische Praxis, gläserne Bottiche am Beckenrand aufzustellen, in denen Frösche schwammen. Aus dem Brustschwimmen entwickelte sich später der Schmetterlingsstil oder auch Delphin, in jedem Fall wieder eine Mimesis ans Tier.

Nur im ersten Teil von Broadys Roman geht es ums Schwimmen - leider. Mit dem Ende ihrer Karriere und dem Übergang vom Sportlermilieu in die Werbe- und Medienbranche betritt Broadys Protagonistin das vielbeschriebene Terrain der Ausbeutung junger schöner Frauen durch den freien Markt und fiese alte Herren, wo es hier freilich nicht an Klischees mangelt und die Erzählerstimme bisweilen bevormundend oder voyeuristisch wirkt. Doch Broadys Welt ist durch und durch britisch. Die Eltern, der Trainer und der Manager könnten einem Film des new british cinema entsprungen sein. (Zuletzt hat Broady übrigens einen Band düsterer Kurzgeschichten vorgelegt, die in der nordenglischen Industriestadt Bradford spielen.) Hier wie dort wird Gesellschaftskritik geübt, indem man individuelle Lebensläufe und Schicksale der Figuren in ihrer alltäglichen Härte und Ausweglosigkeit nur noch abschildert. Es wird nicht danach gefragt, wie der Vater der Schwimmerin zum bärtigen Bücherwurm und weltabgewandten, monologisierenden Kauz und die gefühlskalte Mutter zur Ginabhängigen wurde, geschweige denn, warum der alte Trainer seine besten, jungen Talente sexuell mißbraucht. Bei Broady gibt es keine Metaphysik des Scheiterns. Als Leser kann man den Figuren nur noch dabei zusehen, wie sie sich im eigenen Untergang einrichten.

STEFANIE PETER

Bill Broady: "Schwimmerin". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag C.H. Beck, München 2001. 128 S., geb., 29,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.09.2001

BrigitteNeumann
Der Dichter und die Schwimmerin
Bill Broady hat in seinem Debütroman den Wahnsinn im Leistungssport beschrieben – und verständlich gemacht
Wir hätten sie Woglinde nennen sollen. Wellgunde. Flosshilde”, sagt die Mutter niedergeschlagen, so als wäre irgendwas schrecklich schief gelaufen. Aber die Tochter bleibt bei ihrer Passion. Mehr noch, sie schwimmt, als ginge es um ihr Leben. Fliegen würde ihr besser gefallen. Aber immerhin: Schwimmen ist so ähnlich. Sie ist besessen von diesem Gefühl, das sich einstellt, wenn sie alles gibt. Und siegt. Und noch eine Medaille für das Commonwealth gewinnt. Und noch eine. Aber mit 19 ist alles vorbei. Sie wird ausgemustert. Jüngere sind schneller.
Das ist die Zeit, in der Coach I verschwindet. Und Coach II an ihre Seite tritt, ein Promotionmanager. Seine Spezialität ist das Vermarkten ehemaliger Sportstars. Er verschafft ihr Aufträge. Das übliche: Milchwerbung, Talkshows, Modeln. Schließlich, als der Promifaktor zusehends schwindet, gibt’s nur noch „Titts and Ass”-Angebote. Sie weigert sich. Und als wolle sie unter diesen Umständen nichts mehr von ihrer Vergangenheit wissen, verschenkt sie sämtliche Medaillen und Kreditkarten an einer Bushaltestelle. Die Quittung für dieses unbotmäßige Verhalten: Einweisung in die Psychiatrie.
„Es war”, lässt Autor Bill Broady seinen Erzähler in dem Buch „Schwimmerin” sagen „als hättest du eine Wunderlampe geschenkt bekommen, sie gerieben und Schönheit und Ruhm erlangt und dann als dritten Wunsch Wahnsinn gewählt.” Sein Roman „Schwimmerin” (C.H. Beck Verlag) wurde vom Guardian zu einem der Bücher des Jahres 2001 gewählt. Und der Verlag Flamingo wirbt, Bill Broady sei nicht einer der besten neuen englischen Autoren, sondern der beste. 46 Jahre ist er alt, und dies ist sein erster Roman. Bevor der Sohn eines Navy-Soldaten und einer Österreicherin Schriftsteller wurde, hat er die unterschiedlichsten Jobs gemacht: Croupier, Kartograf für Shell, Sozialarbeiter für Drogensüchtige in Bradford. Noch häufiger als seine Berufe wechselte er seine Quartiere. „Feste Wohnsitze, Besitz und der ganze Wohlstandsquatsch interessieren mich nicht”, sagt Broady. Er hat ein Glas Guinness in der einen Hand und eine Gitane in der anderen. „Mit 15 habe ich begonnen, ein unstetes Leben zu führen. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Das einzig Sichere war immer mein Verlangen zu schreiben. Aber ich habe zwanzig Jahre gebraucht, um herauszufinden, dass ich es auch kann.”
Seine erste Geschichte ist dem wahren Leben einer Sportlerin abgeschaut. Broady klemmt die Zigarette in den Aschenbecher und poliert seine Fingernägel. Dann sagt er: „Vor ein paar Jahren war ich mit einer Leistungsschwimmerin zusammen. Und ich lernte durch sie eine Welt kennen, über die ich absolut nichts wusste. Es war wunderbar, ihr zuzuschauen, wie sie sich im Wasser bewegte. Wasser war ihr Element. Aber sie hat nie viel von ihrer Karriere gesprochen.” Aber er war sich sicher, dass sie da einige schlimme Dinge erlebt hatte. „Ich brauchte nur verschiedene Hinweise, die sie mir gab, zu entschlüsseln”, sagt Broady. Und da sie kaum ein Wort über ihre Vergangenheit verlor, dachte er sich ihr Leben einfach aus. Als das Buch dann fertig war, sagte sie: „Das ist ja lustig. Nichts von dem, was ich dir erzählt habe, hast du benutzt. Dafür steht all das in dem Buch, was ich nie ausgesprochen habe.”
Bei den letzten Worten streicht Broady mit einer Hand an dem wild gemusterten Schlips herunter, dem einzigen unzerknitterten Kleidungsstück an ihm: „Leistungsschwimmer sind einsame und manchmal auch wahnsinnige Helden”, sagt er. „Sie leben in einer abgeschotteten Welt, bewegen sich im Wasser hin und her wie in einer Art irrealem Abseits. Nicht, dass ich etwas gegen Verrückte hätte. Es klingt vielleicht wie ein Klischee, aber die weisesten Leute, die ich kenne, sind die, die mal ganz unten waren, die versucht haben, sich umzubringen, oder verrückt wurden. Es sind Leute, deren Sensibilität, deren überbordende Gefühle es ihnen unmöglich machen, einen Platz in der Welt zu finden. Wahnsinn ist eine logische Antwort auf Lebensbedingungen, mit denen ein Mensch nicht zurechtkommt. Es ist wie bei der Schwimmerin im Buch: Für sie gibt es schließlich keinen anderen Ort mehr als den Wahnsinn. Es ist der logische letzte Schritt ihrer Karriere.”
Bill Broady, der Fußball und Cricket liebt, aber kaum schwimmen kann, gehört auch zu denen, die schon mal ganz unten waren. „Hab’ ich von meiner Mutter geerbt”, sagt er. „Die hat nie so richtig in der Wirklichkeit Fuß gefasst und war hypersensibel.” Als gingen ihm solche Geständnisse doch eigentlich zu weit, schaut er dann mit ernstem Gesicht auf die Uhr, leert sein Guinness und bestellt ein neues. Er wischt sich den Schaum aus dem gestutzten Oberlippenbart und schaut erwartungsvoll über den Tisch – vielleicht, um zu erfahren, was die nächste Frage so bringt. Er redet hastig, viele Sätze kommen über die ersten Worte nicht hinaus. Die Gedanken ändern zu oft die Richtung.
„Die Welt der sportlichen, körperlichen Extreme ist vergleichbar mit der Welt, in die wir eintauchen, wenn wir mit Drogen experimentieren”, sagt er dann. „Seltsame Dinge passieren im Gehirn, nie da gewesene Gefühle bemächtigen sich unser. Genauso ist es bei Sportlern, wenn sie sich über immer neue Leistungsgrenzen puschen. Sie erleben Halluzinationen, Sinnestäuschungen, sehen Bilder wie im Rausch. Nur, dass Sportler darüber normalerweise nicht sprechen.Und wenn sie es doch tun, hört sich das sehr unbeholfen an, denn Sprache ist nicht ihr Element.” Er habe, sagt er dann, seine Freundin, die Schwimmerin, einmal gefragt: „Wie war es, als du deine eigenen Rekorde gebrochen hast?” Und sie antwortete: „Ich fühlte mich schlecht.” Dann fragte er: „Wie war es, als du die Goldmedaille bekommen hast– war sie die Qualen wert?” Sie dachte eine Weile darüber nach und sagte: „Ja, es fühlte sich gut an.” Das war alles. Sie konnte nicht erzählen, was in ihr damals passierte. Für Broady haben Schriftsteller nur eine Aufgabe: Der Welt der Sprachlosen Gestalt zu geben.
Wie bei der „Schwimmerin”. Broady ist derjenige, der sagt, was hinter der Fassade von Ruhm und Ehre, Sieg und Niederlage liegt. Nämlich wie im Falle seiner namenlosen Heldin: sexuelle Ausbeutung, Geldmacherei, und Besessenheit. „Aber Vorsicht bei der Verurteilung von Besessenen”, sagt Broady mit erhobenem Zeigefinger. „Das sind keine Schwächlinge, sondern Leute, die einen besonders starken Willen haben. Leute, die ihr Ziel um jeden Preis verfolgen und deshalb immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Bei der Schwimmerin ist es so, dass sie ein leichtes Leben als Märchentante im Fernsehen oder so haben könnte, aber dieses leichte Leben würde ihr nicht die Befriedigung geben, die sie fühlt, wenn sie bis an ihre Grenzen geht und darüber hinaus. Die Welt der Leistungsschwimmer, obwohl es eine ziemlich perverse Welt ist, ist die Welt zauberhafter und extremer innerer Sensationen, die Welt einer kalten Pracht, jenseits der Schmerzgrenze. Und wer einmal da war, für den ist das angenehme Leben der normalen Leute kein Ersatz.”
Bill Broady ist auch so einer von diesen Besessenen. „Schwimmerin” hatte er in zehn Wochen geschrieben. Zur Einstimmung sah er sich Wim Wenders‘ Film „Himmel über Berlin” an („nicht die zweite Hälfte, die finde ich Scheiße, aber die erste ist wirklich gut”). Beim Schreiben lief, wie er sagt, immer Schuberts verzweifelt todessehnsüchtiger Liederzyklus „Winterreise.”
Interessant und befremdlich ist die Perspektive, die Broady gewählt hat, um die Geschichte der Schwimmerin zu erzählen. Ein Du, ähnlich wie ein allwissendes Alter Ego oder ein lebendiger Schatten, berichtet aus Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft vom Innenleben der Heldin. Wer Philip Pullmans Romane „His dark Materials” gelesen hat, fühlt sich an dessen Dämonen- Figuren erinnert – das sind veräußerlichte menschliche Seelen in Tierkörpern.
„Man fragt mich immer wieder, warum ich die ,Schwimmerin’ in dieser Form geschrieben habe”, sagt Bill Broady. „Es ist die Frage nach der zweiten Stimme, einer beunruhigenden Stimme, deren Identität ich nicht bekannt gebe.” Neulich war er dabei, als eine Lesegruppe im Knast von Preston über sein Buch sprach. Es waren hauptsächlich Mörder und Vergewaltiger. „Ein kleiner, gefährlich aussehender Mann kam nach der Stunde zu mir, nahm meine Hand und sagte: ,Dein Buch da, ich weiß, wer da spricht. Es ist der Schutzengel. Jeder hat einen. Sogar ich.‘ Und ich dachte: Das ist es! Er hat Recht!”
Broady ließ seinem Debüt „Schwimmerin” in England sofort einen Band mit Kurzgeschichten folgen. Der Titel: „In this block there lives a Slag” (In diesem Block lebt eine Schlampe). Die Titelgeschichte spielt in Bradford, im 13.Bezirk, einer der heruntergekommenen Wohngegenden der Stadt, in der auch der Autor gelegentlich wohnt. Broady beschreibt darin den ekligen Gestank , der den Niedergang eines Viertels begleitet; Hunde, die auf der Straße in vollen Windeln rumschnüffeln, bevor sie den Babys in den Kinderwägen übers Gesicht lecken; ewig kaputte Aufzüge und die Agonie der Behörden. Der linksliberale Guardian bemerkte abfällig: „Die Erzählungen lesen sich wie der Jahresbericht eines Sozialarbeiters.”
Nun war Broady ja tatsächlich Sozialarbeiter, und aus dieser Zeit scheint er dieses Faible für Leute zu haben, die – aus welchen Umständen auch immer – verstummt sind. Er ist ein sozial engagierter Autor, der aber keinesfalls in die Schublade „sozialer Realismus” gehört. Er zeigt nicht das Opfer als Helden und Identifikationsfigur für eine künftige gesellschaftliche Umwälzung. Er zeigt das Opfer, wie es an seiner Rolle festhält, wie es sich gelähmt den Geiern zum Fraß anbietet. Das Opfer, wie es in einem Netz bösartiger oder vermeintlich wohlmeinender Beziehungen festhängt und – angespornt von einer Art Zerstörungstrieb – sich noch tiefer ins Elend reitet.
Momentan schreibt Broady an zwei Romanen gleichzeitig. Einer wird heißen „Eternity is temporary” und von einem Mann handeln, der an Parkinson erkrankt ist. Broady, der mit seiner Mönchstonsur, dem eckigen Brillengestell und der jägergrünen Montur aussieht wie ein umweltbewegter Oberstudienrat, sagt: „Ich schreibe zur Zeit pausenlos, wochen-, monatelang am Stück. Bis zum Umfallen. Ich explodiere förmlich in meiner Arbeit.” Und dann hebt er die Stimme wie zum Appell: „Aber wenn ich die Bücher schreiben will, die ich gerne schreiben möchte, muss ich sorgsamer mit mir umgehen, kontrollierter schreiben. Aber ich komme schon noch dahin. Ich muss einfach. Denn es gibt ziemlich viele Bücher, die ich noch schreiben möchte.”
Es ist offensichtlich nicht gesund für ihn, aber gut für uns, dass Broady so schreibwütig ist. Denn dieser Mann scheint die seltene Gabe zu besitzen, andere Menschen ganz in sich aufzunehmen, um ihren Seelen eine Stimme zu geben. Eine Stimme, der man glaubt.
„Feste Wohnsitze, Besitz und der ganze Wohlstandsquatsch interessieren mich nicht”, sagt der englische Autor Bill Broady
Foto:
Udo Taubitz
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Einen Erstlingsroman zeigt Angela Schader hier an, den sie nur im ersten Teil überzeugend findet. Darin wird die Zurichtung und Verformung einer Kindheit zugunsten einer Sportlerkarriere berichtet; die zunehmende Entfremdung der Protagonistin von sich selbst deute der Autor an, indem er nicht aus der Ich-Perspektive erzählt, sondern in der zweiten Person Singular. Im zweiten Teil des Romans ist die Sportlerkarriere beendet, die Protagonistin ereilt der typische Absturz in eitlen Wahn und am Ende der psychische Zusammenbruch. Hier wird Schader der "kritische Impetus" des Autors zu sehr deutlich, auch findet sie, dass das Erzählmuster der psychischen Desintegration nicht alle Unstimmigkeiten in der Person der Protagonistin erklärt. Dennoch, so endet die Rezensentin wohlwollend, ein interessantes Debüt.

© Perlentaucher Medien GmbH