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Sie wird das Glück von den Bäumen schütteln, das Unheil fernhalten und für den häuslichen Frieden sorgen. Sie darf nicht verweilen, sie wird dringend gebraucht: eine Mutter Courage. Die Pflichten helfen beim Augenverschließen - vor den Wachtürmen am Ende des Gartens, vor den nicht gestellten Fragen an den Gefährten, vor der unaufhaltsamen Krankheit der Tochter. Alles wird gut, sie wird es richten. Doch sie irrt. Stück für Stück entgleitet ihr dieses Leben. Der Roman liest sich wie eine Parabel einer Gratwanderung zwischen Lebensmöglichem und Unmöglichem. Helga Schütz gelingt dabei jene seltene…mehr

Produktbeschreibung
Sie wird das Glück von den Bäumen schütteln, das Unheil fernhalten und für den häuslichen Frieden sorgen. Sie darf nicht verweilen, sie wird dringend gebraucht: eine Mutter Courage. Die Pflichten helfen beim Augenverschließen - vor den Wachtürmen am Ende des Gartens, vor den nicht gestellten Fragen an den Gefährten, vor der unaufhaltsamen Krankheit der Tochter. Alles wird gut, sie wird es richten. Doch sie irrt. Stück für Stück entgleitet ihr dieses Leben. Der Roman liest sich wie eine Parabel einer Gratwanderung zwischen Lebensmöglichem und Unmöglichem. Helga Schütz gelingt dabei jene seltene Leichtigkeit und Heiterkeit, durch die sich die schmerzvollen Dinge um so nachhaltiger mitteilen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2000

Zwölf gute Jahre hinter der Mauer sind vorbei
Ein Buch gegen das Vergessen: Helga Schütz’ Roman „Grenze zum gestrigen Tag”
Sie leben auf dem Lande, am Rande von Berlin: Mutter und Vater, zwei Kinder, Katzen, Pferde, Enten. Das könnte eine lustige Familiengeschichte werden. Aber das Haus, in dem sie wohnen, steht in der DDR, unmittelbar an der Staatsgrenze West und so ist das Leben darin eher kompliziert, gäbe es nicht gute Nachbarn: Sowjetische Soldaten bringen mit dem „Taigaschreck” geklauten Koks, Theaterfreunde schmuggeln die lebenswichtigen Tabletten für die behinderte Tochter Betty über die Grenze, der Schriftsteller Erwin Strittmatter und der private Fuhrmann des Ortes helfen beim Pferdekauf, der Trabi-Besitzer von nebenan leiht sein Auto her. Eine DDR-Idylle im Jahre 1964? Eher Anschauung für die Einen, Gemütskost für die Anderen.
So konnte man in der DDR leben: Im Auto Woody Allen zuhören und dabei „Freiheitsgeräusche” fühlen, beim Buchhändler im Bahnhof Friedrichstraße leise fragen, ob der Camus da sei und zur Antwort bekommen, man möge doch übermorgen vorbei kommen. Duschen und Frühstücken in der Toilette des nämlichen Bahnhofs und durch die Wand die West-U-Bahn hören, den Schornstein abreißen und aufmauern – ohne Bier, ohne Pralinen, ohne „Zielgeld”.
Zuversicht und Lebenslust strahlt diese Mutter „vons Janze” aus, die eigentlich Gärtnerin ist, jetzt aber, weil sie nicht nur von den Lieder-Tantiemen des Lebensgefährten und Vaters ihrer Kinder leben will, Hüttenschuhe und Lederwesten näht. Fernsehgeräte für den West-Empfang in Farbe umrüstet, Pilze sammelt, Äpfel aufliest, Kraut einlegt, Kartoffeln stoppelt.
Beim Reiten denkt die Lebenskünstlerin über die Welt und sich nach, über die erste Liebe in Dresden und wie Sohn Niklas einst in ihrer Gärtnerbrigade aufwuchs, über den Streit zwischen den „richtigen Genetikern” und den Stalin hörigen Lyssenko-Jüngern, die an die Vererbung erworbener Eigenschaften glaubten, über die Möglichkeiten, ihren Hugo, der an einer Vietnam-Oper arbeitet, in den Westen, nach Locarno, einladen zu lassen.
Hugo wird eingeladen, darf aber nicht zurückkehren – er hat gegen die Ausbürgerung Biermanns protestiert. Und das Haus an der Mauer ist auf einmal kein Glücksort mehr: Jemand stiehlt die Enten vom selbst gegrabenen Hausteich, die immer neu therapierte Tochter Betty stirbt plötzlich, die Pferde müssen getötet werden, der Antrag auf eine Reise zu Hugo wird abgelehnt, ein ins Rollen gebrachter Hauklotz will das ersehnte Loch nicht in die Mauer reißen.
Zwölf gute Jahre hinter Beton und Stacheldraht, unter Wachtürmen und neben Wachhunden sind vorbei. Die starke, unerschrockene Mutter muss auf dem Kirchhof arbeiten, wenn sie nicht ein Verfahren wegen „Schmarotzertum” riskieren will. Dort erinnert sie sich an ihre schlesische Kindheit, an den Mohn, den der Großvater bei Vollmond säte: „Der Mohn hat drei Zeiten, wie das Erinnern und Vergessen. ”
„Grenze zum gestrigen Tag” ist das zehnte Buch von Helga Schütz. Sie begann in der Art Johannes Bobrowskis. Sein beschwörender Ton ist jetzt nur noch erinnerndes Zitat. Längst schreibt Helga Schütz sehr eigenständig, sehr kräftig, wie ihresgleichen denkt und handelt.
Ja, das ist, wie Peter Demetz kürzlich in einer Christa-Wolf-Kritik tadelnd erkannte, ein „Festhalten an der Chronologie eines Mileus”. Woran denn sonst sollten sich die Autoren der DDR festhalten? An Camus? Und woran hielten und halten sich die Autoren der alten BRD fest?
Helga Schütz erzählt, wie man in der DDR lebte – mit ganz wenig merklicher Kunst, aber keineswegs unachtsam gegenüber den Formalia des Erzählens. Sie ist in beinahe ehrfürchtiger Weise aufmerksam für die vielen kleinen kennzeichnenden Vorkommnisse, geschehen Tag für Tag, für Verhalten und für Haltungen, für Alltagsgeschichten und für Biografien.
Kein falsches Wort ist da zu lesen. Nur wenn es um die große Politik geht – nur da wird die zupackende, kurze, schnelle Sätze brauchende Sprache blass. Aber die Politik ist nicht das Thema im Mauerhaus – hier wird gelebt und da darf man das Biermann-Konzert von 1976 getrost verschlafen. Der Roman von Helga Schütz ist eines der Erinnerung bewahrenden Bücher, die wir im Jahre zehn der deutschen Einheit brauchen – gegen das Verschleifen, gegen das Verwischen, gegen das Gleichmachen, gegen das Vergessen.
KONRAD FRANKE
HELGA SCHÜTZ: Grenze zum gestrigen Tag. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2000. 303 Seiten, 36 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Nachdem wir der Rezensentin Angelika Overath auf mühsamen Wegen zu den Ur-Müttern gefolgt sind, die sie in ihrer bodenständigen Interpretation des Romans als mythischen Hintergrund der Handlung ausmacht, und auch den ein oder anderen heideggerschen Holzweg dieser esoterischen Kritik genommen haben, lässt sich mit Sicherheit feststellen, dass der Roman die Rezensentin sehr angesprochen hat. Sie entdeckt in diesem "autobiografisch-dokumentarischen Roman" über den DDR-Alltag eine Erzählung über den "deutsch-deutschen Wahnsinn im Sperrgebiet und zugleich ... über die aberwitzige Möglichkeit von Glück an der Grenze von psychischer und physischer Belastbarkeit". Offensichtlich für die Rezensentin ein kleines Meisterwerk. "Ein leises Buch ... über das magische Erzählen", wie sich die Rezensentin ausdrückt. Mehr konnten wir leider nicht dieser selbst schon magischen Kritik entreißen.

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