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Im Jahr 1814 sitzt der 74-jährige Schriftsteller Marquis de Sade in der geschlossenen Abteilung einer Pariser Irrenanstalt. Aber weder das Gefängnis noch sein Alter hindern ihn daran, die Welt weiterhin in Empörung und Schrecken zu versetzen. Jacques Chessex erzählt mit Witz und Derbheit die letzten Monate de Sades - und wie dessen Schädel, als Reliquie verehrt, eine kuriose Reise durch die Jahrhunderte zurücklegte. Der Autor aus der Schweiz liefert das beeindruckende literarische Porträt eines der faszinierendsten und anstößigsten Helden der Aufklärung in Frankreich.

Produktbeschreibung
Im Jahr 1814 sitzt der 74-jährige Schriftsteller Marquis de Sade in der geschlossenen Abteilung einer Pariser Irrenanstalt. Aber weder das Gefängnis noch sein Alter hindern ihn daran, die Welt weiterhin in Empörung und Schrecken zu versetzen. Jacques Chessex erzählt mit Witz und Derbheit die letzten Monate de Sades - und wie dessen Schädel, als Reliquie verehrt, eine kuriose Reise durch die Jahrhunderte zurücklegte. Der Autor aus der Schweiz liefert das beeindruckende literarische Porträt eines der faszinierendsten und anstößigsten Helden der Aufklärung in Frankreich.
Autorenporträt
Jacques Chessex, geboren 1934 in Payerne, lebt seit bald 30 Jahren in Ropraz im Waadtland. Er gilt mit über 80 Publikationen (Romane, Lyrik, Essays, Kinderbücher) als der bedeutendste Schriftsteller der Romandie. 1973 wurde er für Der Kinderfresser mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2011

Wie sind wir wandermüde

Über Sade schreiben und sterben: Der Schweizer Schriftsteller Jacques Chessex holt in seinem letzten Roman den Marquis zurück in die Literatur.

Er war der bedeutendste Gegenwartsschriftsteller der französischsprachigen Schweiz. Für seinen Roman "Der Kinderfresser" hatte Jacques Chessex einst als erster Ausländer den Prix Goncourt bekommen. Seine Geschichten handeln vom Leben, Sterben und Schreiben in seiner Heimat, dem Waadtland. Von den gesellschaftlichen Konventionen und den unheimlichen sexuellen Sehnsüchten. Sie sind Sittenbilder aus der Provinz und haben regelmäßig Anstoß erregt.

Sein letzter Roman wurde sogar in einer verschweißten Plastikhülle verkauft. Gewidmet ist er dem Marquis de Sade und erschienen nach dem brüsken Hinschied des Verfassers: Anlässlich einer öffentlichen Diskussion war der Schriftsteller tot zusammengebrochen, nachdem ihn ein Arzt aus dem Publikum wegen seiner Unterstützung für den verhafteten Roman Polanski der Pädophilie bezichtigt hatte. Am Tag seines Todes, unmittelbar vor der abendlichen Veranstaltung, habe er das Manuskript abgeschlossen, erklärte seine junge Witwe, die im Gymnasium in Lausanne seine Schülerin gewesen war, der Schweizerischen Nachrichtenagentur SDA, da war es 17 Uhr. Zwei Stunden später war er tot. Sade und Chessex wurden beide 74 Jahre alt.

Mit seinem letzten Roman vollendete der Flaubert des Waadtlandes - er pflegte seinen Kult des Stils und trug den Schnauz wie das Vorbild, bevor er sich für einen Bart entschied - eine Trilogie kurzer Geschichten über unerklärbare Grausamkeit und Gewalt. Sie steht nun am Ende seines Werks. Ihr erster Teil ist dem "Vampir von Ropraz" gewidmet. In diesem Dorf baute der Schriftsteller dank dem Goncourt-Preisgeld ein Haus mit Sicht auf den Friedhof, in dem der Leichenschänder seinen Lüsten frönte. Er lebte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und endet in der Literatur - bei Chessex - als unbekannter Soldat unter dem Pariser Triumphbogen.

Dem Vampir folgte "Ein Jude als Exempel" (2009 bei Nagel & Kimche), die ebenso wahre Geschichte der bestialischen Ermordung eines jüdischen Viehhändlers durch Schweizer Nationalsozialisten 1941 in Payerne, seiner Heimatstadt. Chessex war mit einem der Mörder aus ideologischen Motiven zur Schule gegangen. Das Verbrechen war aufgeklärt worden und blieb nicht unbekannt, aber in Payerne hat die Erinnerung durch den Dichter mehr Empörung über den Nestbeschmutzer ausgelöst als zur Echtzeit der Mord selbst. Beim Karneval wurden plakatgroße Karikaturen, die Chessex als zerstückelten Juden zeigen, durch die Straßen getragen.

Nach den Verbrechen in Ropraz und Payerne, wo Chessex die längste Zeit seines Lebens wohnte, erkundet er in "Der letzte Schädel des Marquis de Sade" gewissermaßen seine geistige Heimat. Er erzählt die letzten Wochen im Leben des blasphemischen Dichters in der Irrenanstalt von Charenton. Sade ist fett, müde, krank. Koliken, Blutungen, Asthmaanfälle hindern ihn zumindest nicht daran, seinen Ausschweifungen zu frönen. Die junge Geliebte ist die Tochter einer Angestellten des Hauses, deren mageres Gehalt die Zuwendungen des Marquis aufbessern. Man entwendet ihm die Manuskripte, die er schreibt. Die Medizin und die Kirche interessieren sich für seinen Fall - der Arzt schwört ihm, dass man auf ein Kreuz an seinem Grab verzichten werde.

Und Chessex erzählt die zwei Jahrhunderte nach seinem Tod. Das Kreuz, das trotz des Schwurs errichtet wurde, fällt den Flammen zum Opfer, die unvermittelt aus der frischen Erde über dem Sarg hervorzischen. Vier Jahre später muss das Grab wegen der Verlegung des Friedhofs geöffnet werden. Eine Schwefelwolke entsteigt ihm. Der Schädel wird zu Zwecken der Untersuchung vom Rumpf getrennt und führt fortan eine eigene postume Existenz. Man leiht ihn dem Phrenologen Doktor Spurzheim, der ihn nach Deutschland mitnimmt. Er taucht in Aix-en-Provence auf, wo zu seinen Lebzeiten eine Strohpuppe, die Sade nachgebildet wurde, verbrannt worden war. Der Schädel flucht, wenn die Kirchenglocken läuten. 1973 befindet er sich bei Doktor Stein in Küsnacht. 1989 kommt der Schädel in einen Turm im Waadtland. Hier wird er vom Erzähler entwendet und einer Schule für Krankenschwestern in Lausanne vermacht. Der Schriftsteller begegnet ihm nochmals: Eine blonde Frau führt das Stück in einer Einkaufstüte an den Gestaden des Genfer Sees spazieren, "er schläft auf meinem Nachttisch", und zitiert Eichendorff: "Wie sind wir wandermüde, ist dies etwa der Tod?" Erneut und nachweisbar aufgetaucht ist der Schädel - eine Kopie befindet sich auch im Pariser Musée de l'Homme - vor zwei Jahren in Stefan Zweifels Genfer Ausstellung "Giacometti - Balthus - Skira". Der Kurator, Übersetzer und Herausgeber der hochgelobten zehnbändigen Sade-Ausgabe in deutscher Sprache hat damals auch die wenig bekannten Bilder von Jacques Chessex gezeigt. Es ist ein Glücksfall, dass er sich nun des letzten Romans des Schriftstellers angenommen hat. Stefan Zweifel verstand und kannte, was er zu übersetzen hatte. Er nahm sich viele Freiheiten heraus - und er legt eine Nachdichtung ohne falsche Scham vor, geprägt von seinem wortschöpferischen und eigenwilligen Sprachbewusstsein.

Es handelt sich in keiner Weise um Jacques Chessex' besten Roman. Doch die Erzählung liest sich besser als Bataille und Blanchot, Pierre Klossowski, Philippe Sollers und andere Vertreter der ästhetischen und philosophischen Theorien des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Sie stilisierten den Marquis de Sade zur Kultfigur. Unter der Federführung von Michel Onfray zeichnet sich eine Abkehr ab - und Chessex' frivole Erzählung als Abschluss seiner Trilogie erscheint auch als Schlusskapitel einer Epoche: als postumer Triumph des Dichters, dem die Avantgarde der Kritik einst im "welschen Literaturstreit" einen konservativen Literaturbegriff und eine konventionelle Schreibweise vorwarf.

Wie der tumbe Vampir von Ropraz und die ideologisch verblendeten minderjährigen Überzeugungsmörder aus Payerne, deren Verbrechen auch kein noch so subversiver Philosoph rechtfertigen kann, sind Sades Schädel und die unheimliche Faszination, die von ihm ausgeht, in der schlicht erzählenden Literatur besser aufgehoben als bei den Theoretikern der Transgression.

JÜRG ALTWEGG

Jacques Chessex: "Der Schädel des Marquis de Sade". Roman.

Aus dem Französischen von Stefan Zweifel. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2011. 128 S., geb., 15,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Nach der Lektüre von Jacques Chessex' kurz vor seinem überraschenden Tod im Jahre 2009 abgeschlossenen Roman ist Rezensent Martin Zingg einmal mehr überzeugt: Dieser Autor hatte eine "furiose Fantasie". Denn wie könnte man sich sonst mit dem "Schädel des Marquis des Sade" auf eine derart turbulente Reise begeben? Wie gewohnt habe Chessex dabei Fakten und Fiktion gekonnt miteinander verbunden. Nach einer Schilderung der auch im hohen Alter noch äußerst brutalen Sexualpraktiken des Marquis des Sade lässt Chessex insbesondere dessen Schädel Jahrhunderte lang sein Unwesen treiben: mal bringt dessen aphrodisierende Wirkung einer jungen Frau den Tod durch ihren übermütigen Liebhaber, später reicht die "bloße Präsenz" des Schädels um bei schwangeren Straftäterinnen Fehlgeburten auszulösen. Zuletzt begegnet der Ich-Erzähler dem Schädel in der Tasche einer jungen Ärztin, die dessen merkwürdige Wirkung mit Eichendorff-Versen zu bannen versucht. Auch dank der hervorragenden Übersetzung Stefan Zweifels hat der Rezensent diesen humorvollen Roman mit Genuss gelesen.

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