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Produktdetails
  • Sankt Galler Studien zur Politikwissenschaft
  • Verlag: Haupt
  • Seitenzahl: 349
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 540g
  • ISBN-13: 9783258063362
  • ISBN-10: 3258063362
  • Artikelnr.: 25090293
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2001

Der Praktikantinnen-Report
Glänzend: Andrea Martel über Ethik im amerikanischen Kongreß

Was Doping für den Sport, ist Korruption für Politik und Recht. Korruption hebelt die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht aus und gefährdet dadurch den Frieden in der Gesellschaft. Aus diesem Grund ist sie überall mit Strafe bedroht, wo man zwischen öffentlich-hoheitlichen und privaten Entscheidungsbefugnissen unterscheidet. Diese Unterscheidung ist freilich eine kulturelle Höchstleistung, die nicht überall erbracht werden kann und auch in westlichen Staaten noch Schwierigkeiten bereitet. Wenn das Problem in der Unterscheidung zwischen öffentlich und privat liegt, nützt es nichts, das Korruptionsverbot zu verschärfen oder noch einmal einzuschärfen.

Für die vorzügliche St. Galler Dissertation von Andrea Martel ist die Korruptionsfrage freilich nur ein, wenn auch wichtiger Aufhänger, von dem aus sich die Ethikregeln des amerikanischen Kongresses (Senat und Repräsentantenhaus) erschließen. Die Verfasserin hat fünfzehn Monate als Volontärin im Stab eines Senators gearbeitet und zeigt sich als kenntnisreich, klarsichtig, scharfsinnig und nüchtern. Daß ihr eine "starke Theorie" fehlt, kommt ihrer Unbefangenheit zugute. Allerdings kann man ohne vereinfachende "Theorie" ein komplexes Phänomen nicht einmal darstellen. Die Verfasserin knüpft einfach an die Selbstdarstellung des Kongresses an.

Die Ethikregeln des Kongresses sollen Interessenkonflikte ausräumen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Parlament schützen. Deshalb schreiben sie "Transparenz" vor. Die Abgeordneten müssen ihre Nebeneinnahmen und ihr Vermögen offenlegen und Zuwendungen, Ämter und Positionen angeben. Über die Durchsetzung wachen parlamentarische Ethikkommissionen. Erst nach der Darstellung der Inhalte schildert die Verfasserin in streng historischer Sicht die Entstehung der Ethikregeln. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise benutzt man eine Entstehungsgeschichte als Einstieg in die Sachprobleme. Die Verfasserin benutzt sie als kritische Sonde der geltenden Ordnung. Mit durchschlagendem Erfolg. Die Entstehungsgeschichte nimmt den Ethikregeln den frommen Schein. Sie zeigt, daß der Kongreß noch nie Appetit auf Ethik hatte und daß er sich ethische Regeln nur abgerungen hat, wenn er irgendeine Affäre nicht anders bereinigen konnte. Legte sich die öffentliche Aufregung über die Affäre, geriet auch die Ethik alsbald in Vergessenheit. Und die vertrauensbildenden Maßnahmen erwiesen sich oft genug als kontraproduktiv.

"Transparenz" beispielsweise - die Österreicher übersetzen es mit "Fadenscheinigkeit" - ist auch bei uns ein durch die Demokratie geheiligtes Mittel. Dazu liest man: "Die Bevölkerung bekam dadurch noch mehr von der politischen Auseinandersetzung mit und wurde darob noch unzufriedener. Selbst für die finanzielle Offenlegungspflicht der Abgeordneten gilt dieser Zusammenhang ..., vor allem wenn man bedenkt, wie die Medien teilweise mit diesen Daten umgehen. Anstatt die Offenlegungsberichte nach allfälligen Interessenkonflikten zu durchsuchen, erstellen sie daraus Ranglisten der reichsten Abgeordneten". Kurzum, die Entstehungsgeschichte belegt, daß die Ethikregeln des amerikanischen Kongresses mit Ethik nichts zu tun haben. Bei Martel erfährt man, um was es in Wirklichkeit geht. Sie zitiert ein früheres Mitglied des Kongresses: "All members of Congress have a primary interest in being reelected. Some members have no other interest." Und dann stellen die Kongressmitglieder fest, daß die Skandale einzelner Kollegen, welcher Partei auch immer, ihre Wiederwahlchancen nachweislich mindern. Also müssen sie sich öffentlich distanzieren und Vorkehrungen gegen Wiederholungen treffen, obwohl das sehr unangenehm und riskant ist. Man bietet Angriffsflächen. Aber das eigene Interesse am Ansehen der Organisation zwingt dazu.

Damit ist das entscheidende Wort gefallen. Es geht nicht um Ethik, sondern um Organisationssoziologie, genauer: um informelle, nicht ausdrücklich regelbare Ge- und Verbote in Organisationen. Ein besonders wichtiges Gebot ist zum Beispiel, die Organisation nach außen positiv darzustellen, damit sie Vertrauen erobert. Dieses Gebot kann nicht ausdrücklich formuliert werden, weil eine formelle Pflicht die Außendarstellung unglaubwürdig machte. Deshalb beschreibt man die Regel als "Ethik", was überdies den Vorteil hat, daß von vornherein nur der Einzelne "schuldig" sein kann, nie die Organisation, obwohl vor allem sie die Maßstäbe liefert. Für Organisationen gibt es keine Ethik.

Die Verfasserin nimmt die Ethikregeln freilich zum Nennwert. Man spürt ihre Betrübnis, wenn ihr mal wieder etwas "Unethisches" unter die Augen gerät. Aber ihr scharfer, unbestechlicher Blick nimmt alles wahr: die Abhängigkeit der Ethikregeln vom Demokratieverständnis, vom Wahlrecht und vor allem von der Wahlkampffinanzierung, den weitgehenden Ausschluß des Rechtsschutzes, die Instrumentalisierung der Ethikregeln in der politischen Auseinandersetzung. Ihre Schrift ist eine auch empirisch-soziologisch glänzend verwertbare Fallstudie und eine solide Basis für eine Rechtsvergleichung, selbst für eine Übernahme der amerikanischen Regelung einschließlich der notwendigen Modifikationen - wenn sich eine Übernahme lohnte. Unsere Verhältnisse scheinen aber nicht sehr viel unerfreulicher zu sein als die amerikanischen. Das ist jedoch nicht der entscheidende Punkt.

Entscheidend ist, das Problem ist nicht regelbar. Das gehört zu seiner Lösung. Werden informelle Verhaltensregeln formalisiert, wird die Erreichung des Organisationszieles gefährdet, und dagegen wehren sich die Organisation und ihre Mitglieder. Politisch wird die Schrift daher nichts bewirken. Die Politiker können den Unterschied zwischen Innen und Außen und die daraus folgenden Widersprüche nicht aufheben. Sie müssen sich durchmogeln. Moralisch kann man ihnen das nicht einmal vorwerfen. Das große Verdienst der Verfasserin besteht darin, ihre Leser bis kurz vor diese Einsicht zu führen.

GERD ROELLECKE

Andrea Martel: "Vom guten Parlamentarier". Eine Studie der Ethikregeln im US-Kongress. St. Galler Studien zur Politikwissenschaft, Band 24. Verlag Paul Haupt, Bern/Stuttgart/Wien 2001. 349 S., br., 76,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Andrea Martel hat 15 Monate als Volontärin im Stab eines US-amerikanischen Senators gearbeitet und ihre Erfahrungen für eine Dissertation über Ethik und Korruption verwertet, weiß Rezensent Gerd Roellecke. "Kenntnisreich", "klarsichtig", "scharfsinnig" und "nüchtern" lauten die lobenden Worte des Rezensenten über die Autorin der Doktorarbeit. Roellecke zumindest ist eines traurig deutlich geworden: Der amerikanische Kongress, das zeige Martels Entstehungsgeschichte der Ethikregeln, rang sich immer in dem Moment eine neue Ethikregel ab, wenn seine Glaubwürdigkeit anders nicht mehr haltbar war, weniger aus "innerer Überzeugung". Also, schließt der Rezensent, gehe es hier nicht um Ethik, sondern um Organisationssoziologie. Martels Schrift jedenfalls sei nicht nur aufschlussreich, sondern auch eine empirisch-soziologisch glänzend verwertbare Fallstudie und eine solide Basis für einen Rechtsvergleich mit anderen Ländern.

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