Produktdetails
  • Verlag: Haffmans
  • Seitenzahl: 320
  • Abmessung: 160mm
  • Gewicht: 203g
  • ISBN-13: 9783251203062
  • ISBN-10: 3251203061
  • Artikelnr.: 24883434
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2000

Der Rabe auf dem Meilenstein
Christian Morgensterns "Galgenlieder" in einer Neuauflage

Die "Galgenlieder" Morgensterns, ein einst so allgemein beliebtes Buch, daß man mittlerweile in der Regel übersieht, welch hohen Rang diese Lyrik in der deutschen Literaturlandschaft um 1900 bis 1910 einnimmt, sind halb in Vergessenheit geraten. Sie waren ein geheimes Volksbuch für das deutsche Bürgertum; Belege finden sich bei Walter Kempowski, der in "Tadellöser & Wolff" seinen Vater - einen genialen Dicht-Daneben-Zitierer, der im Winter zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Nietzsche mit "Wohl dem, der jetzt 'ne Heimat hat" paraphrasiert - in leicht entstellte Morgenstern-Zeilen wie "Dinge gehen vor im Mond, die ist das Kalb nicht mal gewohnt!" ausbrechen läßt.

Worum handelt es sich bei dieser Galgenpoesie? "Man sieht vom Galgen die Welt anders an und man sieht andere Dinge als andere": Geboren aus Berliner Boheme-Ritualen, deren Keim ein Zechausflug von Werder zum Galgenberg bei Potsdam war, entstand eine anarchisch-vertrackte Nonsenslyrik, in der die Sophia, die göttliche Weisheit, als "Sophie, mein Henkersmädel" wiederkehrt und das barocke Figurengesicht ("Die Trichter") ebenso aufersteht, wie der Dada-Schall vorweggenommen wird ("Das große Lalula"). Diese Gedichte verbinden angedeutete Schilderungen einer spukhaften nächtlichen Gegenwelt mit grotesken Reflexionen: "Die Möwen sehen alle aus,/ Als ob sie Emma hießen." Getreu den Sätzen der Einleitung - "Betrachten wir den ,Galgenberg' als ein Lugaus der Phantasie ins Rings. Im Rings befindet sich noch viel Stummes" - wird dem Stummen die Sprache verliehen. Wurm und Würfel, Luft und Tapetenblume werden beredt; die Welt belebt sich mit dem Mondschaf, dem Nasobem und dem Zwölf-Elf. Ein Ton, der bei Autoren wie Ringelnatz fast immer ins bloß Verspielte abrutscht, hat hier das Geheimnis eines subtilen Sprach-Staunens. Auf die Sammlung "Galgenlieder" (1905) folgten 1910 "Palmström" sowie aus dem Nachlaß 1916 "Palma Kunkel" und 1919 "Der Gingganz"; diese vier Bändchen wurden 1932 - um vierzehn weitere Gedichte erweitert - unter dem Titel "Alle Galgenlieder" herausgegeben; das entspricht der hier vorliegenden Neuauflage. (In fernerer Verbindung mit diesem Werkkomplex stehen die Sammlungen "Die Schallmühle" und "Böhmischer Jahrmarkt", die 1928 und 1938 erschienen.) Aus Zügen des Sonderlingshaften, des ästhetisch-philosophisch Experimentellen und des reinen Geistes gebildete Gestalten wie Palmström, sein Freund Korf und Palma Kunkel sind vielleicht das Schönste, was die deutsche Literatur einer Figur wie Valérys Monsieur Teste gegenüberzustellen hätte. Von der mit Sprache profund geizenden Palma heißt es einmal: "Nicht vom Wetter spricht sie, nicht vom Schneider,/ höchstens von den Grundproblemen beider." Derartige Grundprobleme werden hier in einer Sprachlandschaft verhandelt, die zwischen Nietzsche (der das Motto zu den "Galgenliedern" geliefert hat) und dem Surrealismus liegt.

Das verehrungswürdige Grundwerk des deutschen Sprachspiels, Tiefsinns und Unsinns hat der Haffmanns Verlag in einem hübschen Brevier-Format neu herausgebracht - das paßt auch gut, hat doch F. K. Waechter für den ersten Raben-Verlagsalmanach ein Triptychon gezeichnet, in dem (neben dem "Raven" Poes und Wilhelm Buschs Hans Huckebein) der Rabe Morgensterns aus "Km 21" ("Ein Rabe saß auf einem Meilenstein/ Und rief Ka-em-zwei-ein, Ka-em-zwei-ein . . .") figurierte. Es ist schade, daß die charakteristische alte Typographie der "Galgenlieder" nicht erscheint; es wäre wohl zu aufwendig gewesen, trotzdem vermißt das Auge die extrem fette Antiqua der alten Ausgaben bei Bruno Cassirer, die so etwas wie eine Spezial-Type darstellt und dieses Werk mit Arno Holz' "Phantasus" sowie mit den Schriften Stefan Georges verbindet. Doch das Bändchen ist sorgfältig gemacht; ich habe nur anzumerken, daß bei der Sequenz "Korf und Palmström wetteifern in Notturnos" entweder auf Seite 130 zwei Klammern zuviel oder auf Seite 128 bis 129 je zwei zuwenig stehen. Nun mögen möglichst viele Leser dieses Buch zu sich stecken. Noch einmal Vater Kempowski, auf dem Balkon Weihnachten 1939, während die Familie den Sternhimmel mustert: ". . . und hinten das Siebengestirn. ,Siebenkäs', sagte mein Vater. Er glaube, das sei auch von Morgenstern." Nicht ganz - aber auch so ist hier auf verquere Weise etwas vom Rang dieses Lyrikers bezeichnet.

JOACHIM KALKA

Christian Morgenstern: "Die Galgenlieder". Haffmanns Verlag, Zürich 2000. 320 S., geb., 22,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Fast vergessen seien diese "Galgenlieder" inzwischen, klagt Joachim Kalka, dabei sind sie für ihn ein "Grundwerk des deutschen Sprachspiels, Tiefsinns und Unsinns". Er skizziert kurz die Position Morgensterns in der deutschen Lyrik "zwischen Nietzsche und dem Surrealismus" und betont vor allem Morgensterns Staunen über die Möglichkeiten von Sprache. Den Band findet er "sorgfältig gemacht", auch wenn er gern die Typographie der Originalausgaben aus den zwanziger Jahren, eine besondere Antiqua, wiedergesehen hätte. Am Ende wünscht sich Kalka, dass möglichst viele Leser sich dieses Brevier in die Tasche stecken mögen.

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